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Dr. Harald Wiesendanger

Außer Kontrolle

Ein unernster Blick in die Zukunft: Nach hundert Therapiecamps, deren verdächtig glänzende Erfolgsbilanz von der Schulmedizin weiterhin hartnäckig ignoriert wird, scheint es meiner Stiftung Auswege im Jahr 2035 endlich an der Zeit, die Ergebnisse ihrer legendären Heilwochen wissenschaftlich zu untermauern.


Ein großzügiger Mäzen, Freiherr Hans H. von Hansen, will dazu ein Forschungsstipendium spendieren, mit dessen Hilfe ein fleißiger Medizinstudent, Gottlieb Servilius, eine längst überfällige empirische Studie über die „Auswege“-Camps durchführen will, die höchsten Ansprüchen genügen soll. Begleitet von seinem Doktorvater Prof. Dr. med. Dr. h.c. Utz Schütz, einem namhaften Lehrstuhlinhaber an einer renommierten deutschen Universität, folgt er einer Einladung des Stiftungsvorsitzenden Gerald. Der empfängt sie gemeinsam mit Karin, der Leiterin der Geschäftsstelle, die seit ­längerem die Camps organisiert. Ferner anwesend sind der ärztliche Leiter der Camps, der Radiologe und Ganzheitsmediziner Dr. Holger Pröll, sowie ein Mitglied des Camp-Therapeutenteams, der christliche Handaufleger und Gebetsheiler Alfred Wemmerl.

Doch das Treffen verläuft desaströs – nachzulesen in einem prophetischen Gesprächsprotokoll. Unter dem Titel Außer Kontrolle erschien es im Jahr 2016.

Gerald: Zunächst darf ich Sie alle herzlich willkommen ­heißen und Ihnen danken, dass Sie sich die Zeit n ....


Prof. Schütz (unterbricht ­un­gehalten): Sparen wir uns weitschweifige Begrüßungsfloskeln, spätestens in 1,75 Stunden muss ich weg, zu einem Symposium.


Alfred: Also, ich bin dafür, dass wir uns zunächst ­meditativ einstimmen und ein Gebet sprechen. Dazu könnte ich meine Klangschalen anschlagen ...


Prof. Schütz (verächtlich): ... und anschließend ein Räucherstäbchen abbrennen lassen, ´ne schwarze Katze schlachten und 77mal „Om“ singen? ­(Kichert, dann erstarrt seine Miene abrupt.) Schlagen Sie an, wen oder was Sie wollen, aber ohne mich. Sonst wird das Symposium ohne meinen ­Eröffnungsvortrag beginnen.


Alfred (murmelt beleidigt): Wär´ ja womöglich gar kein Verlust.


Karin rempelt ihn an und legt vielsagend den Zeigefinger auf ihre Lippen.


Gerald: Kommen wir also ohne Umschweife gleich zur Sache. Uns geht es darum, ­wissenschaftlich einwandfrei zu belegen, dass unsere Therapiecamps chronisch kranken, vermeintlich „behandlungs­resistenten“ Patienten tatsächlich helfen, und zwar in jenem hohen Maße, das wir seit fast drei Jahrzehnten beobachten.


Prof. Schütz: Wurde auch höchste Zeit. Denn bisher haben Sie, mit Verlaub, einen esoterischen Zirkus veran­staltet, ohne Prüfplan, ohne Studiendesign, ohne klar ­definierte Zielkriterien, ohne systematische Auswertung, ohne jegliche Kontrolle, die diese Bezeichnung verdient hätte - für Außenstehende ­absolut unglaubwürdig, aus wissenschaftlicher Sicht haarsträubend dilettantisch.


Karin: Da muss ich wider­sprechen. Bei jedem Camp haben wir alle teilnehmenden Patienten, gegebenenfalls auch ihre Angehörigen, Tagebuch führen und einen detaillierten Fragebogen ausfüllen lassen. Deren Auswertung ...


Prof. Schütz (unterbricht): Wer wertete denn aus?


Karin: Na, wir. Kreuzchen ­zusammenzählen können wir nämlich schon seit der Grundschule, erste Klasse.


Prof. Schütz: Können ja, aber wollen? Womöglich schummeln Sie seit drei Jahrzehnten.

Gerald: Nichts für ungut, ­lieber Professor, aber wären wir tatsächlich mit krimineller Energie ausgestattet, würden wir sie auf gewinnbringen­deren ­Betätigungsfeldern als ­karitativer Stiftungsarbeit ­ausleben, glauben Sie mir.


Hansen: Der Professor hat recht. Lassen Sie das doch künftig durch einen Hiwi von der Uni erledigen, am Honorar soll´s meinetwegen nicht scheitern.


Karin: Also, um dort fortzu­fahren, wo ich unterbrochen worden bin: Die Auswertung der Teilnehmerunterlagen ­bestätigte in über 80 Prozent aller Fälle deutliche gesundheitliche Verbesserungen. ­Darüber hinaus ...


Prof. Schütz (unterbricht schon wieder): Können Sie alles in die Tonne treten. Nicht wahr, Gottlieb?


Gottlieb: Muss man so sehen. Da weder Tagebücher noch Fragebögen anonym ausgefüllt worden sind, könnten sich die Teilnehmer unter Erwartungsdruck gefühlt haben, die offenkundig hochengagierten, supernetten Stiftungsvertreter nicht zu enttäuschen, sich als dankbar zu erweisen und ihre Wertschätzung kundzutun, dass die Auswegler sich ehrenamtlich ganz viel Mühe gegeben haben. Vielleicht machten sich die Patienten, unter Ihrem suggestivem Einfluss, auch ­selber etwas vor, was ihre ­gesundheitliche Verfassung ­betrifft.


Dr. Pröll: Aber zusätzlich führte ich als Arzt bei allen Teilnehmern Vor- und Nachkontrollen durch, zu Beginn und am Ende.


Prof. Schütz: Und wie, ­bitteschön?


Dr. Pröll: Nun ja, ein Labor und apparative Diagnostik ­stehen in unseren Camps nicht zur Verfügung. Deshalb konnte ich nur vorliegende Befund­berichte sichten, eingehende Gespräche führen und nach Augenschein urteilen, aus ­ärztlicher Erfahrung.


Prof. Schütz (die Mundwinkel verächtlich nach unten ziehend): Aha. Die vorab eingereichten Befundberichte waren aktuell? Und gleich nach Campende wurden die Patienten nochmals gründlichst durch­gecheckt, nicht von Ihnen, sondern in einer bestens ­ausgestatteten Praxis oder ­Klinik?


Dr. Pröll: Leider nur ausnahmsweise. Manche medi­zinischen Unterlagen waren schon mehrere Monate alt, ­vereinzelt sogar Jahre, weil die Patienten nicht ein weiteres Mal zu Ärzten wollten, die sie ja schon als „therapieresistent“ verabschiedet hatten.


Prof. Schütz: Sie aber wollen mir allen Ernstes weismachen: „Macht nix, ich merke auch so, wie es einem Patienten geht“?


Dr. Pröll: In den meisten ­Fällen: ja, durchaus! Natürlich habe ich kein außersinnliches Sensorium dafür, ob sich Blutzuckerspiegel, Kreatinin-, ­Hämatokrit- und PSA-Werte, Gefäßverengungen und ­Metastasen verändert haben – in solchen Fällen fordere ich Campteilnehmer auf, das baldmöglichst abklären zu lassen. Dazu zwingen kann ich sie ­allerdings nicht. Aber um festzustellen, ob Symptome eines Asthma bronchiale, einer ­Phobie, einer depressiven ­Störung, einer Bewegungs­einschränkung, von Autoaggressivität oder ADHS nachgelassen haben, brauche ich kein Labor.


Prof. Schütz: Nichts für ungut, aber die Güte Ihrer Feststellungen scheint mir auf dem ­Niveau eines Alkoholikers zu liegen, der beurteilen soll, ob Schnaps gut tut.


Dr. Pröll (pikiert um Fassung ringend): Sie ziehen meine ­Objektivität in Zweifel?


Prof. Schütz: In der Tat. Dass Sie längst mit Alternativ­medizin sympathisieren, ­entnehme ich Ihrem Lebenslauf. Demnach haben Sie ­reichlich Motive, Verlauf und Ergebnisse der „Auswege“-Camps zu beschönigen.


Dr. Pröll: Welche Motive ich aus Ihrem Lebenslauf erschließe, behalte ich lieber für mich.


Gerald: Um das Bisherige ­zusammenzufassen: Um ­unsere Camperfolge wissenschaftlich zu untermauern, müssen wir beim Punkt Null beginnen, weil wir im Grunde noch nie darüber hinaus­gekommen sind?


Prof. Schütz: Sie sagen es.


An den Grenzen des Beobachtens


Gerald: Wie wäre es mit einer sauberen Beobachtungsstudie? Wir ersetzen unseren angeblich befangenen Camparzt durch unabhängige Mediziner, gerne von Ihrer Uniklinik. Dort wird auch ausgewertet. Alle Campteilnehmer schicken wir vor dem ersten und gleich nach dem letzten Camptag zu Ihnen, für eingehende ­Dia­gnostik, unter Einsatz ­modernster Technik. Wie sich ihr Befinden während eines Camps verändert, erfassen wir mit validiertem, klinisch bewährtem Frageinventar ...


Prof. Schütz: Sie scherzen.


Gerald: Nein, danach ist mir nicht zumute. Worauf wollen sie hinaus?


Prof. Schütz: Was sich wissenschaftlich beobachten lässt, egal mit welchem Instrumen­tarium, ist bestenfalls, ob und in welchem Maße es Ihren Campteilnehmern nach acht bis neun Tagen besser geht, ­objektiv und subjektiv. Das ­bezweifelt freilich keiner, nicht mal ich. (Grinst.) Der springende Punkt ist doch: Warum geht es ihnen besser? Sie ­behaupten: wegen der fabelhaft segensreichen Therapien, die zum Einsatz gekommen sind. Gegenfrage: Könnten die zu beobachtenden Fortschritte nicht schlicht daher rühren, dass die Camptage erholsam, die Landschaft idyllisch, Ihr Entertainment gelungen, Ihre Streicheleinheiten zahlreich, Ihre Umarmungen innig waren? Wie schließen Sie aus, dass Sie die festgestellten ­Effekte nicht ebensogut hätten zustande bringen können, indem Sie Ihren Patienten eine Ferienwoche auf den Kanaren oder in der Karibik spendieren?


Dr. Pröll: Dass auf Teneriffa binnen einer Woche eine jahrelange, medikamentös nicht ­einzudämmende Epilepsie ­verschwindet, wäre mir neu ...


Prof. Schütz: ... aber nicht mit absoluter Sicherheit aus­zuschließen.


Endlich kontrolliert studieren


Gerald: Was schlagen Sie ­stattdessen vor?


Prof. Schütz: RCT! Placebokontrolliert! Mindestens ­doppelblind!

Alfred: Hä?


Prof. Schütz: Servilius, was haben Sie im ersten Semester über RCTs gelernt?


Gottlieb (eifrig): „RCT“ steht für „randomized controlled trial“, eine randomisierte kontrollierte Studie. Dieses Design gilt als „Goldstandard“ medizinischer Forschung, ihr „Königsweg“, einer evidenzbasierten Medizin liefert sie die hochwertigsten Daten ...


Prof. Schütz (fällt ihm ins Wort): ... und nur so findet Ihre Campheilerei jemals ­Beachtung bei Hochschulen, Unterstützung durch Krankenversicherungen, Anerkennung und Förderung bei Ministerien und sonstigen staatlichen ­Einrichtungen, Publikationsmöglichkeiten in der medi­zinischen Fachpresse. Ist Ihnen nicht klar, dass wir europaweit auf ein Gesundheitssystem zusteuern, in dem Therapie­formen entweder RCT-fundiert oder aussortiert werden? (Kramt in seinen Unterlagen, zückt ein EU-Amtsblatt und liest vor.) Längst hat die Europäische Kommission lobens­werterweise klargestellt: „Die Wirksamkeit einer Heilbehandlung wird in randomisierten Doppelblindversuchen nach­gewiesen, die zeigen, dass das Heilmittel besser wirkt als ein Placebo. Diese Methode wird zur Beurteilung der medi­zinischen Behandlung ­verwendet.“ Fahren Sie fort, Servilius.


Gottlieb: Also, bei einer RCT-Studie werden Patienten ­mindestens zwei Gruppen ­zugeordnet: Die eine – die ­Studiengruppe, auch Prüf-, ­Experimental-, Interventions- oder Verumgruppe genannt - erhält die Therapie, deren Wirksamkeit auf dem Prüfstand steht. Der anderen – der Kontrollgruppe, auch ­Vergleichsgruppe genannt – wird sie vorenthalten; sie wird gar nicht, bloß zum Schein – mit einem „Placebo“ - oder standardmäßig behandelt. Um Glaubenseffekte aus­zuschließen, werden alle ­Patienten „verblindet“, das heißt, im Ungewissen gelassen, ob sie behandelt werden oder nicht. Damit die beteiligten Prüfärzte nicht aufgrund von Voreingenommenheiten mit den beiden Gruppen unterschiedlich umgehen, bleibt auch ihnen die Gruppen­zuteilung verborgen – so wird die Studie „doppelblind“. Die Zuteilung erfolgt „randomisiert“, nach dem Zufallsprinzip - das englische Wort random ­bedeutet „zufällig“ -, um sie der Einflussnahme durch einen möglicherweise befangenen Untersucher zu entziehen.


In diesem Augenblick huscht die schwarze Katze des Hausherrn am Tisch vorbei.


Alfred: Au weia, von links nach rechts! Das kann ja heiter werden!



Dieser Text enthält die ersten Abschnitte des Buchs von Harald Wiesendanger: Außer Kontrolle - Warum die Stiftung Auswege "unwissenschaftlich" vorgeht - und dazu steht (2016)



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