Der bedeutendste Wegbereiter der psychologischen Gesellschaft, die treibende Kraft hinter dem Zeitgeistphänomen, seelisches Unwohlsein in eine therapiebedürftige Krankheit zu verwandeln, ist: die pharmazeutische Industrie.
Mit einem Jahresumsatz von über einer Billion US-Dollar (1) wächst der Arzneimittelbranche weltbewegende Macht zu, die sie zu ihrem Vorteil zu nutzen versucht – was denn sonst? Nur Träumer können allen Ernstes meinen, diese Branche sei die einzige, die sich aus Gewissensgründen dagegen sträubt, sich den Regeln der freien Marktwirtschaft zu unterwerfen, weil ihr vollauf bewusst sei, dass sie mit unserem höchsten Gut zu tun hat: unserer Gesundheit. Ebensowenig sind moralische Skrupel in der Rüstungsindustrie besonders ausgeprägt, weil ihre Produkte töten können. Im entfesselten Kapitalismus regiert, soweit er nicht staatlich im Zaum gehalten wird, unersättliche Gier; ethische Bedenken lässt sie nur in dem Maße zu, wie sie zu einem verkaufsförderlichen Image beitragen, ohne Profite zu schmälern. Ist es Zufall, dass das Zeitalter der psychologischen Gesellschaft einsetzte, als in den fünfziger Jahren die ersten Psychopharmaka auf den Markt kamen: synthetische Werk- zeuge, auf Geist und Seele Einfluss zu nehmen, indem die Biochemie des Gehirns verändert wird? Haben Chlorpromazin, Imipramin und Haloperidol diese neue Ära letztlich nicht stärker geprägt als Freud, Jung und Adler?
Anfangs beschränkte sich ihr Einsatzbereich auf „Nervenheilanstalten“. Dort bewährten sie sich prächtig, weshalb sie neurochirurgische und Elektroschockfolter allmählich verdrängten: Zwar heilten sie nicht, aber sie stellten zuverlässig ruhig, entlasteten Personal, und obendrein muteten sie sanft an.
Doch die Zielgruppe der „Irren“ war auf Dauer viel zu klein fürs große Geschäft. Wie war sie zu erweitern, wie werden möglichst große Teile der Bevölkerung zu Abnehmern? Darum geht es bei jedem neu eingeführten Produkt: Wie gewinnt man eine maximale Anzahl von Käufern dafür? Stets besteht die Lösung in Überzeugungsarbeit, der hohen Kunst der Überredung: „Dir fehlt etwas, wovon du bisher nichts ahntest. Von uns kriegst du es.“ Das neue Waschmittel wird so beworben („Bisher bist du mit sauberen Hemden zufrieden – aber sie sind nicht rein“), die neue Milchspeise („Du isst gerne Joghurt – aber du ahnst nicht, wieviel besser er dir schmecken würde, wenn du unseren nimmst“), das neue Parfum („Du willst gut riechen – aber erst mit unserer Duftnote wirst du betören“) – und ebenso das neue Medikament: „Du hast ein Problem. Wir haben die Lösung dafür: eine Pille.“
Gesunde schlucken keine Arzneimittel. Also muss bei ihnen zuallererst das nötige Problembewusstsein geweckt und geschärft werden. Welches Problem könnte größer sein als eine Krankheit, von der man bisher nichts ahnte? Je mehr unerwünschte, abweichende Verhaltensweisen und belastende Gemütslagen als krankhaft gelten – Trauer als Depression, Besorgnis und Furcht als Angststörung, Erschütterung als posttraumatische Belastungsstörung, Erschöpfung als CFS, Unaufmerksamkeit und Zappeligkeit als ADHS, launische Unausgeglichenheit, die sprichwörtlich „himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ macht, zur bipolaren Störung -, desto häufiger können sie diagnostiziert werden, und desto mehr Abnehmer finden sich.
Wie erreicht ein cleverer Verkäufer, dass der Konsument mitspielt? Indem er Hoffnungen weckt: Vorzüge hervorhebt und überbetont; Nachteile herunterspielt und verschweigt.
Solange Direktwerbung verboten oder stark eingeschränkt, das Produkt nur auf Rezept erhältlich ist, muss derjenige Personenkreis umgarnt und gewonnen werden, der die Bezugsscheine ausstellt: die Ärzteschaft. Wie gewinnt man sie? Durch notfalls frisierte Forschungsergebnisse, die sie beeindrucken; durch Handlungsvorgaben in Nachschlagewerken, Klassifikationssystemen und Leitlinien, an denen sie sich orientieren; durch vorteilhafte Informationen aus Quellen, denen sie am ehesten vertrauen: den Meinungsführern ihrer Zunft, ihren Fachzeitschriften, ihren Fachgesellschaften, ihren Aus- und Fortbildern. Die Marketingbudgets der Pharmariesen sind groß genug, all dies mit schwindelerregenden Geldflüssen sicherzustellen.
Vor diesem Hintergrund entwickelte unser Gesundheitswesen mafiöse, von umfassender Korruption geprägte Strukturen. Und deren Entwicklung wird weitergehen. Die nächsten gewaltigen Umsatzsprünge, welche die Aktienkurse von Pfizer, Merck, Lilly & Co. durch die Decke treiben werden, verspricht eine weitere Verschärfung des öffentlichen Risikobewusstseins: „Zwar hast du noch kein Problem. Aber du könntest bald eines bekommen.“ Aus Herstellersicht ist der optimale Absatzmarkt immer der größtmögliche, im Idealfall wir alle. Dazu muss es gelingen, uns nicht bloß vor unterlassener oder Unterbehandlung einer schon bestehenden „Störung“ das Fürchten zu lehren. Nein, darüber hinaus gilt es, uns für das allgegenwärtige Risiko einer Erkrankung zu sensibilisieren, uns über ihre unterschätzten Vorboten, ihre leicht zu übersehenden Alarmsignale aufzuklären.
Supertanker Big Pharma
Gefährdet zu sein, beunruhigt uns. Wer will nicht verhindern, krank zu werden? Ist nicht Vorbeugen besser als Heilen, wie der Volksmund sagt? Wem treibt die Aussicht, das eigene Kind könnte sich etwas antun oder man selbst dem Wahnsinn verfallen, nicht Angstschweiß auf die Stirn? Wer möchte nicht vorsorglich das Richtige tun, um Schlimmes abzuwenden? Und was könnte richtiger sein als der Griff zur innovativen Pille, die der Doktor verschreibt, das „Wirksam-sicher-und-gut-verträglich“-Mantra anstimmend?
Deshalb muss der Pharmaindustrie daran gelegen sein, in Fragen der gesundheitlichen Prävention ein gewichtiges Wort mitzureden, auf Massenmedien und politische Entscheidungsträger größtmöglichen Einfluss zu nehmen. Am Ziel ihrer Träume wäre sie, wenn im Gewand mildtätiger Fürsorge kostenlose Screenings von ganzen Bevölkerungsgruppen, noch besser von sämtlichen Bürgern stattfänden – nach dem Vorbild des „TeenScreens“ bei US-amerikanischen Schülern, um eine vermeintliche Selbstmordgefährdung frühzeitig zu erkennen; der schon routinemäßigen Psychochecks bei Pflegekindern, im Militärdienst und weiten Teilen der Arbeitswelt. Am besten, neue Gesetze stellen sicher, dass Psychopharmaka flächendeckend verabreicht werden können, ja müssen, zum Wohle der Volksgesundheit. Entsprechende Bestrebungen gibt es längst, und zumindest in den USA finden sie unter pharmanahen Ärzten und Wissenschaftlern zunehmend Fürsprecher, unter Politikern bestürzenden Anklang. Erst wenn wir alle dazu gebracht würden, unsere Gesundheit, die psychische nicht minder wie die physische, von Kindesbeinen an bis zum letzten Atemzug medikamentös zu sichern und zu optimieren, wäre der Markt wahrlich gesättigt. Eher werden die Krankheitserfinder und Pillendreher keine Ruhe geben.
Im Kielwasser des Supertankers Big Pharma schwimmt die Zunft der beratenden Psychologen und Psychotherapeuten. Sie fahren gut damit, den Denkweisen und Werbestrategien der Arzneimittelhersteller nachzueifern. Lediglich auf die Frage, wie mit „psychischen Erkrankungen“ umgegangen werden soll, geben sie, im eigenen Interesse, eine andere, nichtpharmazeutische Antwort. Ansonsten geht es hier wie dort ums Verkaufen, sind Gesundheit und Selbsthilfe geschäftsschädigend. Kurzum: Die psychologische Gesellschaft ist weitgehend ein Industrieprodukt. Ihre Auswüchse kommen Herstellern und Dienstleistern fabelhaft zupass. Der verführte Patient spielt mit.
Dieser Text stammt aus der 10-bändigen Schriftenreihe von Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 1: Neue Heimat Psycholand – Woher unser Vertrauen in Seelenprofis rührt (2017).
Anmerkung
(1) 954 Milliarden US-Dollar waren es im Jahr 2015. Nach http://de.statista.com/statistik/daten/studie/72992/umfrage/umsatz-auf-dem-weltweiten-pharamamarkt-seit-2004
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