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Dr. Harald Wiesendanger

Das Blaue vom Himmel

Wann immer ein Spitzenpolitiker als Wahrsager auftritt, ist Skepsis angebrachterst recht, wenn es sich dabei um einen gelernten Bankkaufmann handelt, der die Zukunft der Medizin zu kennen vorgibt. Krebs könne „in 10 bis 20 Jahren besiegt“ sein, verkündete soeben Bundes­gesundheitsminister Jens Spahn (CDU).



Wer ihm das einflüsterte? Seriöse Ärzte und Wissenschaftler wohl kaum. Die hätten ihm umgehend klargemacht, wie blamabel er danebenliegt. Zwar ist die Diagnostik treffsicherer geworden, die Früherkennung effektiver; zumindest bei der Behandlung von Leukämien, Brust- und Hodenkrebs gab es Fortschritte. Der besteht aber häufig darin, dass sich zwar Geschwülste verkleinern, nicht aber das Leid. Laborwerte bessern sich, das Befinden eher nicht. Oft verlängert sich mit den paar zusätzlichen Wochen und Monaten, die ein Patient angeblich „gewinnt“, lediglich seine Qual. Er lebt nicht besser, er stirbt bloß langsamer. Weiterhin sind die Nebenwirkungen der Therapien, die der Erkrankung beikommen sollen, vielfach schrecklicher als die Erkrankung selbst. Von den tausend Gesichtern dieses „Königs aller Krankheiten“, wie der Harvard-Onkologe Mukherjee den Krebs nannte, sind nach wie vor nur wenige ergründet, die meisten noch unverstanden.


Um zu erahnen, was Jens Spahn da geritten hat, sollte man die Karrierestationen dieses Berliner Senkrechtstarters bedenken – und die lange politische Tradition von haltlosen Ankündigungen, die er vollmundig fortsetzt. Im Jahre 2003 prophezeite ein industrienaher Ärztefunktionär vor dem US-Senat, bis 2015 werde alles krebsbedingte Leiden und Sterben ein Ende haben; um dieses Ziel schon 2010 zu erreichen, bedürfe es bloß 600 Millionen Dollar Forschungsmittel jährlich. Und mittlerweile ein knappes halbes Jahrhundert liegt jene berühmte Fernsehansprache zurück, in welcher US-Präsident Richard Nixon einen Tag vor Heiligabend 1971 der freudig erregten Nation ein vorgezogenes Weihnachtspräsent unter den Christbaum legte: Er erklärte den „Krieg gegen den Krebs“, wofür er „die Bereitstellung von zusätzlichen 100 Millionen US-Dollar“ vorschlug, „um eine intensive Kampagne zur Suche nach einer Heilung innerhalb der nächsten 25 Jahre zu starten“. Über 200 Milliarden Dollar haben allein die USA seither für die Krebsforschung ausgegeben. Spahn hat nun, gemeinsam mit Bundesforschungs­ministerin Anja Karliczek, soeben eine „Nationale Dekade gegen Krebs“ ausgerufen, für die in einem ersten Schritt 62 Millionen Euro lockergemacht wird.


Von Onkologie versteht Jens Spahn vermutlich nicht viel mehr als seinerzeit Nixon – wohl aber die Pharma-Lobbyisten, die Regierende dauerbearbeiten. Denn zumindest eines kriegen solche Kampagnen zuverlässig hin: Konjunkturspritzen für Arzneimittelhersteller. Wie stand es um die Krebsmedizin vor Nixons Rede? Seit den sechziger Jahren war die Medikamentenbranche zunehmend in die Defensive geraten, sie sah ihre Felle davonschwimmen. Immer offenkundiger wurde, dass der chemotherapeutische Ansatz in Sackgassen führte. Zugleich sorgten alternative Ärzte für Aufsehen, die mit unkonventionellen Mitteln Krebskranke offenkundig erfolgreich behandelten: in den USA unter anderem Max Gerson, Royal Raymond Rife, William Coley, Harry Hoxsey und Emanuel Revici, in Deutschland Koryphäen wie Paul Gerhard Seeger, Otto Warburg, Johanna Budwig, Joachim Kuhl und Josef Issels. Einfach als Spinner und Scharlatane ließen sie sich schwerlich abtun. Pharmamanager sahen die wachsende Gefahr, dass solche Ärzte eine weltweite Bewegung auslösten, mit dem Ergebnis, dass sich die Bevölkerung in Scharen von den hochlukrativen Chemotherapien abwandte.

Und so galt es für die Industrie damals, Vertrauen zurückzugewinnen – wie auch heute. Bewährtes Marketingrezept hierfür seit eh und je: Angst schüren und zugleich Hoffnung wecken, das Blaue vom Himmel versprechen. Die Betroffenenzahlen explodieren, schon heute erkranken allein in Deutschland jährlich 500.000 Menschen neu an Krebs, bis zur Jahrhundertmitte könnten es 600.000 sein, weltweit über 15 Millionen. Doch keinerlei Mühen scheuend, arbeiten Konzerne gottlob an revolutionär neuen Ansätzen, die der Menschheit den baldigen Durchbruch bescheren werden; zu Nixons Zeiten war es Genmanipulation, heute ist es Genmanipulation plus Immunmodulation. Die klassische Chemotherapie rentiert sich immer weniger, seit Patentfristen abliefen; dank Nachahmerpräparaten, „Generika“, kostet ein Behandlungszyklus inzwischen oft bloß noch ein paar hundert Euro. Und nicht immer funktioniert der Trick, für alte Substanzen mit geringfügig veränderter chemischer Struktur ein erneutes Patent zu ergattern.


Da tut noch mehr „Innovation“ not, und als solche gelten Medikamente, die der körpereigenen Abwehr mit labortechnisch maßgeschneiderten T-Zellen, Antikörpern und Antigenen auf die Sprünge helfen sollen. Der Preis solcher Präparate kann 300.000 Euro übersteigen, bei den „Innovationen“ seit 2017 liegt er im Schnitt bei 135.000 Euro – pro Patient. (1) Da winken traumhafte Renditen: Bis 2022, sagte das IQVIA Institut im Dezember 2017 voraus, werde der globale Umsatz mit Onkologika von derzeit 120 auf 200 Milliarden US-Dollar ansteigen, mit jährlichen Wachtumsraten von 10 bis 13 Prozent. (2)


Vorläufiger Wermutstropfen der „neuen“ Arzneigeneration: ein hohes Risiko extremer Nebenwirkungen, von Entzündungen im ganzen Körper („Zytokinsturm“) bis hin zum zügigen Exitus. Die Erlösung ist also wieder mal nahe, es muss halt bloß noch etwas intensiver geforscht werden.


Dafür sind staatliche Mittel hochwill­kommen. Sobald sie fließen, kehrt in Big Pharmas Chefetagen Champagnerlaune ein. Der Steuerzahler finanziert Studien, deren Ergebnisse die Industrie abgreift, um sie zu Mondpreisen zu vermarkten, für die der Steuerzahler dann ein zweites Mal blecht – über die Beiträge zu seiner Krankenversicherung.


Wie sähe die Agenda einer Regierung aus, wenn sie den „Kampf gegen den Krebs“ ernst nähme? In erster Linie wäre sie darauf aus, dass er erst gar nicht entsteht. 62 Millionen Euro: Damit ließe sich eine Initiative anschieben, die Gesundheitsunterricht bundesweit zum Hauptfach macht; für vollwertige Ernährung wirbt und sie in allen Schulen, Mensen und Kantinen vorschreibt; die Bedeutung von regelmäßiger körperlicher Aktivität betont; ungesunde Nahrungsmittel unübersehbar kennzeichnet und drastisch verteuert, etwa über Sondersteuern; Menschen vor Kanzerogenen in Atemluft und Trinkwasser, Gebrauchsgegenständen und künstlicher Strahlung schützt; mit Anreizen und Sanktionen, etwa über Beitragssätze zur Krankenversicherung, Verbrauchergewohnheiten steuert; natur- und erfahrungsheilkundliche Ansätze erforscht und fördert, die seit je her erfolgreich darauf aus sind, das Immunsystem im Kampf gegen entartete Zellen zu stärken. Dass alternativer Medizin aus Spahns Fördertopf kein Cent zufließen soll, macht aus Lobbyistensicht Sinn: Wo keine gesundheitswirtschaftlich unergiebige Forschung, da auch keine geschäftsschädigende Evidenz.

Aber vielleicht kam Spahn diesmal ja ganz ohne Einflüsterer aus. Denn Lobbying konnte er vorher schon. Schließlich war er an einer Beratungsagentur namens „Politas“ beteiligt, die Kunden aus der Pharmaindustrie beste Kontakte zum Bundestag versprach: „Ganz gleich, ob es um eine Anhörung, ein Hintergrundgespräch oder um eine Plenardebatte geht. Wir sind für Sie dabei." Bei einem Hannoveraner Pharmaunternehmen saß er im Aufsichtsrat. (3) Gute Arbeit, Jens.


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