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Dr. Harald Wiesendanger

Einsam? Ein guter Arzt fragt danach.

Aktualisiert: 26. Apr.

Einsamkeit macht auf Dauer krank – nicht bloß psychisch, auch körperlich. Studien belegen: Sie schadet gesundheitlich sogar mehr als Fettleibigkeit und Rauchen. Kein guter Arzt unterlässt es, nach ihr zu fragen, wenn er erkundet, woher bestimmte Symptome kommen.


„Was fehlt dir?“ Eigentlich sind das zwei Fragen in einer. Und stets müssten sie gemeinsam gestellt werden. Die eine zielt auf gesundheitliche Beschwerden. Die andere erkundigt sich nach einem Defizit: Woran mangelt es dir? Oft lautet ein wesentlicher Teil der Antwort: an sozialer Nähe und Wärme, an Beachtung, Verständnis und Wertschätzung, an Zugehörigkeit und Einbezogensein, an Freundschaft, an Liebe. Kurzum: Man ist einsam.


Wie viele Ärzte machen sich die Mühe zu erkunden, ob ein solcher Mangel vorliegt – und wie sehr er den Patienten belastet? Sie sollten es. Denn Einsamkeit macht auf Dauer krank. Solange sie anhält, nützen Pillen und Spritzen zuwenig.


Dabei geht es nicht um bloßes Alleinsein, soziale Isolation: Manche Menschen sind gerne für sich, gelegentlich oder meistens, und genießen es geradezu. „Um die Einsamkeit ist’s eine schöne Sache, wenn man mit sich selbst in Frieden lebt und was Bestimmtes zu tun hat“, befand Goethe. (1) Franz Kafka bekannte: „Ich muß viel allein sein. Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins.“ (2) Umgekehrt fühlen sich viele einsam, obwohl sie in ein großes soziales Netzwerk eingebunden scheinen. Entscheidend ist etwas Emotionales: der Leidensdruck, der entsteht, wenn man seine sozialen Beziehungen als zutiefst ungenügend empfindet.


Sich insofern mindestens einmal pro Woche einsam zu fühlen, bekennt in den Vereinigten Staaten fast jeder dritte Erwachsene. 72 Prozent taten es schon mindestens einmal in ihrem Leben. (3) In Deutschland gibt jeder Zehnte an, sich einsam zu fühlen. (4)


Zumeist verflüchtigt sich das Elend so zügig, wie es kommt. Doch falls es anhält? Mit zunehmendem Alter wächst die Zahl der Betroffenen: 20 bis 40 % der über 55-Jährigen bezeichnen sich als ständig einsam. Dann drohen chronische Belastungen, von Depressionen über Alkoholmissbrauch bis Drogensucht. Das Suizidrisiko wächst. (6)


Aber Einsamkeit, wie jede negative Emotion, beinträchtigt unweigerlich auch das körperliche Wohlbefinden. (7) Im Gehirn von Menschen, die unter sozialer Isolation leiden, stellen Neurologen bereits nach 24 Stunden den Beginn struktureller Veränderungen fest. (8) Die innere Anspannung steigt (9) - Einsamkeit sei „gleichbedeutend mit permanentem Stress”, konstatiert das Deutsche Ärzteblatt. (10) Man schläft schlechter. (11) Entzündungswerte steigen. (12) Das Immunsystem schwächelt. (13)


Den Blutdruck kann Einsamkeit um bis zu 14 Punkte erhöhen - umso mehr, je länger sie anhält. Damit steigt das Risiko für Herzkrankheiten. Es kommt eher zu Herzinfarkten und Schlaganfällen. (14)


Aber auch eine Demenz wird wahrscheinlicher (15),  einschließlich Alzheimer. (16) Von 2002 an beobachteten amerikanische Forscher vier Jahre lang 823 ältere Menschen aus Seniorenheimen in Chicago und Umgebung. Anfangs war kein Beteiligter an einer Alzheimer-Demenz erkrankt. Im weiteren Verlauf jedoch kam es bei denjenigen, die sich einsam fühlten, wesentlich rascher zu einem geistigen Abbau als bei den sozial Aktiveren.

Ja, Einsamkeit ist sogar lebensbedrohlich. Das zeigen zwei Meta-Analysen (17), die 2017 auf der Jahrestagung der American Psychological Association vorgestellt wurden. Zusammengenommen erfassten sie 218 Studien mit mehr als 3,7 Millionen Personen. Einsamkeit korrelierte mit einem bis zu 50 % erhöhten Risiko, vorzeitig zu sterben. Damit ist sie nicht weniger tödlich als Fettleibigkeit oder das Rauchen von 15 Zigaretten pro Tag. (18)

Bei Brustkrebspatientinnen verringert Einsamkeit die Überlebensrate (19), ebenso bei Herzoperierten. (20)

Lektion von Methusalems

Worin besteht das Geheimnis von Methusalems? Wie gelingt es manchen Menschen, bei verblüffend guter Gesundheit über hundert Jahre alt zu werden – ohne Ärzte, ohne Medikamente, ohne Operationen? Alternsforscher sind sich einig: Solche Greise haben nicht bloß in der Genlotterie das große Los gezogen, ernähren sich gut, sind körperlich aktiv, meiden Umweltgifte, trinken und rauchen allenfalls in Maßen. Darüber hinaus sind so gut wie alle Langlebigen bis zuletzt eingebunden in soziale Netzwerke: die Familie, der Freundeskreis, die Nachbarschaft, der Verein. Sie pflegen und genießen Kontakte. Sie fühlen sich nicht abgeschoben, ausgegrenzt, alleingelassen – sondern beachtet, gebraucht und wertgeschätzt, beliebt und geliebt. Befragt, worauf sie selber ihre Langlebigkeit zurückführen, hört man von ihnen besonders häufig: Sie haben sich nie längere Zeit einsam gefühlt. (21)


Seit 1938 sammeln Forscher der amerikanischen Elite-Universität Harvard Daten zur Frage: Was ist der Schlüssel zu einem guten Leben? Wie muss es sein, damit es Menschen erfüllt und glücklich macht? Als wichtigster Faktor haben sich funktionierende Beziehungen erwiesen. Menschen seien soziale Wesen, deswegen bedeuten ihnen Freundschaften, Familie und Partnerschaft besonders viel, so erklärt Robert Waldinger, Professor für Psychiatrie an der Harvard University und derzeit Leiter der Harvard Study of Adult Development, in seinem Zwischenbericht The Good Life. (22) Was ihn besonders erstaunte: Beziehungen haben einen emormen Einfluss auf die Gesundheit. Und mehr als das: "Für mich war überraschend, wie stark die Herzlichkeit von Beziehungen vorhersagt, wie lange wir gesund sind, wie lange wir leben und wie glücklich wir sind." (23)


Epigenetik liefert Erklärungen – und lässt hoffen


Jedes Erlebnis, jeder Gedanke, jede Überzeugung, jedes Gefühl, jede Aktion, die Einsamkeit bannt, wirkt auch auf der körperlichen Ebene heilsam. Wie ist das überhaupt möglich? Immer mehr Wissenschaftler finden Hinweise darauf in der Epigenetik: einem noch jungen Forschungsbereich, der überraschende Erkenntnisse darüber verspricht, wie Umweltfaktoren - aber auch die Art und Weise, wie wir sie verarbeiten - unsere Zellen und die Aktivität unserer Gene beeinflussen.

Diesem hochspannenden Zusammenspiel hat der amerikanische Bewusstseinsforscher und Wissenschaftsautor Dawson Church, Gründer und Leiter des National Institute for Integrative Healthcare, ein erhellendes Buch gewidmet: The Genie in Your Genes: Epigenetic Medicine and the New Biology of Intention. Gestützt auf Hunderte von Studien erklärt er, wie Überzeugungen und Emotionen die Expression von DNA-Strängen beeinflussen können. Dabei konzentriert er sich auf eine besondere Klasse von Genen, die sogenannten Immediate Early Genes, kurz IEGs: Diese schalten sich innerhalb weniger Sekunden nach einem Stimulus ein. Auch durch Gedanken oder Gefühle lassen sie sich aktivieren. („Über das unerwartete Geschenk meines Nachbarn habe ich mich sehr gefreut“ oder „Es macht mich traurig und wütend, was meine Schwester auf der Weihnachtsfeier gesagt hat".) Viele IEGs sind regulatorisch: Sie schalten andere Gene an, die bestimmte Aspekte unseres Immunsystems beeinflussen, beispielsweise die Produktion von weißen Blutkörperchen, die angreifende Bakterien und Viren zerstören. Womöglich können wir jahrelange Therapien, schädliche Medikamente und invasive Operationen vermeiden, umgehen können, indem wir die Kontrolle über unser Bewusstsein übernehmen und es nutzen, um unsere genetische Ausprägung zu beeinflussen – und somit unseren eigenen Körper kontinuierlich genetisch verändern. Dies kann sowohl zu einer sofortigen Linderung langjähriger Ängste und Neurosen führen als auch zu einer geradezu wundersamen Heilung anhaltender körperlicher Beschwerden.


Was fehlt dem Patienten, den der Arzt vor sich hat? Was benötigt er am dringendsten? Auf dem Rezept müsste in vielen Fällen stehen: Begegnungen. Verbindungen. Miteinander. Gemeinschaft. Den Rest hilft dann Epigenetik zu erledigen.

 

Anmerkungen

1        J. W. Goethe: Briefe. An Charlotte von Stein, Dornburg, 4. März 1779.

2        Franz Kafka: Tagebücher, 21. Juli 1913.

3        Nach dem Harris Poll, einer US-Umfrage aus dem Jahr 2016, siehe American Osteopathic Association, 11. Oktober 2016, https://osteopathic.org/2016/10/11/survey-finds-nearly-three-quarters-72-of-americans-feel-lonely/

4        Theresa Eyerund, Anja Katrin Orth: Einsamkeit in Deutschland: Aktuelle Entwicklung und soziodemographische Zusammenhänge. IW-Report, Nr. 22. Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Köln 2019, https://www.econstor.eu/bitstream/10419/198005/1/1667352865.pdf

5        M. Aartsen, M. Jylhä: „Onset of loneliness in older adults“, European Journal of Ageing 8 (3) 2011, S. 31–38; C. Luanaigh, B. Lawlor: „Loneliness and the health of older people“, International Journal of Geriatric Psychiatry 23 (12) 2008, S. 1213–1221.

6        American Osteopathic Association, 11. Oktober 2016, https://osteopathic.org/2016/10/11/survey-finds-nearly-three-quarters-72-of-americans-feel-lonely/

7        G. Miller: „Why loneliness is hazardous to your health“, Science 331 (6014) 2011,  S. 138–140, https://www.science.org/doi/10.1126/science.331.6014.138; A. Shankar u.a.:  „Loneliness, social isolation, and behavioral and biological health indicators in older adults“, Health Psychology 30 (4) 2011, S. 377–385, https://lateadulthoodstage.weebly.com/uploads/1/5/0/5/15050912/biological_health_indicators_pdf.pdf

9        Psychology Today 9. Juni 2016, https://www.psychologytoday.com/articles/200308/the-dangers-loneliness; Psychological Bulletin 140 (6) 2014, S. 1464-1504, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25222636/

10    “Einsamkeit – Einfluss auf den Therapieerfolg”, www.aerzteblatt.de. PP 1/2012, https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=118236

11    Social Science and Medicine, 74 (6) März 2012, S. 907-914, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0277953612000275

12    PNAS 19. Januar 2016; 113 (3), S. 578-583, https://www.pnas.org/content/113/3/578.abstract

15    Archives of General Psychiatry, Februar 2007;64, S. 234-240, https://archpsyc.ama-assn.org/cgi/content/abstract/64/2/234

16    Medical News Today, 2. November 2016, https://www.medicalnewstoday.com/articles/313858.php

19    Medical News Today, 12. Dezember 2016, https://www.medicalnewstoday.com/articles/314675.php

23    Zit. nach dem Podcast "The Written Word” der Harvard-Universität, siehe https://magazine.hms.harvard.edu/articles/good-life: "The Good Life: Lessons from the World’s Longest Scientific Study of Happiness by Robert Waldinger, MD, and Marc Schulz, PhD"

Titelbild: Freepik.

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Guest
Sep 14

Quälende Einsamkeit ist eines der vielen Symptome der - verschwiegenen, verdrängten - "kollektiven Neurose" (Seelen-Trauma-Massen-Störung), die das volle / richtige (auch geistig-seelische / spirituelle) Erwachsenwerden verhindert. Ich selbst habe meine Beeinträchtigung dadurch mit 43 erkannt und dann die Vervollständigung meiner Pubertät / Reife bewirkt. Hier ein Auszug meiner Erkenntnisse aus 77 Lebensjahren; davon die letzten 36 Jahre im Thema:


Kollektive Neurose    (Wolfgang Heuer, 2024)


Die wesentliche Ursache der Zivilisation / „Hochkultur(en)“ und aller ihrer Fehlentwicklungen / Mißstände in der zivilisierten Gesellschaft (und durch sie) ist "Die (DIE) Krankheit der Gesellschaft“ (Kütemeyer, Fromm, Krishnamurti, u.a.), eine "kollektive Neurose" (Freud, Fromm, Frankl, Bodamer, Eysenck, Meves, Kohlross, u.a.), wie der (Gattungs-)Begriff in der Soziologie lautet; eine massenhafte Trauma-(Nichtheilungs-)Störung der nichtmateriellen Seele - nicht der materiellen "Psyche",…


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