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Dr. Harald Wiesendanger

Gröhes lächerliches „Gesamtkunstwerk“: Preisbremse vom Tisch

Wie gehabt: Was Reformen im Gesundheitswesen zuverlässig verbessern, ist allenfalls das Wohlbefinden seiner Profiteure – zu Lasten von Patienten. Mit reichlich Trara hatte die Bundesregierung im Herbst 2016 eine längst überfällige „Preisbremse“ für neue Arzneimittel angekündigt. Aus dem soeben verabschiedeten Pharma-Gesetz wurde sie nun kurzerhand gestrichen. Drei Wochen vor dem 1.4. feierte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe diese neuerliche Missgeburt allen Ernstes als „Gesamtkunstwerk“. Die Vorgeschich­te des verfrühten Aprilscherzes lehrt, warum Einrichtungen wie meine Stiftung Auswege gegen Windmühlen kämpfen, wenn sie für eine Medizin eintreten, die alle bewährten Mittel und Maßnahmen nutzt, um unsere Gesundheit zu erhalten und wiederherzustellen.


Warum Gesundheitsminister einen gewissen Shkreli kennenlernen sollten


Falls Gummibärchen ab morgen 750 Euro pro Stück kosten, könnte selbst die fruchtgummi­süchtigste Naschkatze einen Konsumverzicht verschmerzen, während sich der Verkäufer umgehend ruinieren würde. Da zeigt sich der freie Markt von seiner besten Seite: Wettbewerb verhindert Preistreiberei. Abzocker bleiben auf ihren Produkten sitzen.


Wer allen Ernstes meint, so ähnlich reguliere sich der Arzneimittelmarkt von ganz alleine, weshalb der Staat ihn getrost sich selbst überlassen könne, sollte einen gewissen Martin Shkreli kennen­lernen: einen ehemaligen Hedgefonds-Spekulanten, der branchenintern dafür gepriesen wird, das Geschäft mit Medikamenten „revolutioniert“ zu haben. Sein unschlagbar schlichtes Erfolgsrezept: auf Forschung weitestgehend verzichten, Preise höchstmöglich anziehen. Dieses Businessmodell hat sich in der Pharmaindustrie mittlerweile epidemisch verbreitet wie ein ansteckendes Virus.


Wie man es kaltschnäuzig umsetzt, führte Shkreli Anfang 2015 vor: Damals gründete er ein eigenes Pharmaunter­nehmen namens Turing, wobei er großspurig ankündigte, „bahnbrechende“ neue Medikamente zu entwickeln. Stattdessen erwarb er die Rechte an einem 62 Jahre alten Mittel namens Daraprim – und erhöhte dessen Preis buchstäblich über Nacht um obszöne 5500 Prozent, von 13,50 auf 750 Dollar pro Pille. Damit wurde der pfiffige Spross albanisch-kroatischer Einwanderer, aufgewachsen in einem Arbeiterviertel von Brooklyn, mit 32 Jahren zum Herrn über Leben und Tod. Denn Daraprim bekämpft wirksam Toxoplasmose, eine Infektions­krankheit, die bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem wie etwa bei HIV-Infizierten, aber auch bei Ungeborenen im Mutterleib zu schwersten Komplikationen führen kann, schlimmstenfalls zum Tod. Shkrelis Preistreiberei führte dazu, dass die Behandlungskosten pro Patient auf bis zu 635.000 Dollar jährlich hochschnellten. Proteste lassen ihn kalt: „Wir leben im Kapitalismus, meine Investoren erwarten, dass ich den Profit maximiere“, erklärt er. Arthur Caplan, Medizinethiker an der Universität New York, wundert sich überhaupt nicht darüber: „Die Empörung über Shkreli lenkt davon ab, dass es längst alle machen.“


Ritter von der traurigen Gestalt


Damit das aufhört, ist der Staat gefordert. Doch wann immer Gesundheitspolitiker mit der Preis­entwicklung auf dem Arzneimittelmarkt befasst sind, geben sie ein Bild des Jammers ab. An vorderster Front werkeln, über jeden Kompetenzverdacht erhaben und allzeit zum Rückzug bereit, verdiente Partei-Ritter von der traurigen Gestalt, bestens vernetzte Polit-Karrieristen – momentan ein gelernter Jurist, der Ende 2013 zu seinem Amt kam wie die Jungfrau zum Kinde, nachdem der heißesten Anwärterin dafür, der CDU-„Kronprinzessin“ und allseits berüchtigten Militärexpertin Ursula von der Leyen, zur allgemeinen Verblüffung das Verteidigungsressort zugeschustert wurde. Als Gesundheitsminister liegt Gröhe arg daran, „Wege zur Stärkung des Pharma-Standortes Deutschland“ zu finden, wozu er Branchenvertreter zu trauten „Dialogrunden“ einlädt. Auch ihm müsste glasklar sein: Längst sind die Medikamentenpreise aus dem Ruder laufen, ihre Explosion bedroht die Solidargemeinschaft, bringt die Gesundheitssysteme an den Rand des Kollaps, überfordert Krankenkassen und Beitragszahler heillos, verschlingt Mittel, die dringend anderweitig benötigt würden. Wichtige, mitunter lebensrettende Arzneien sind so horrend teuer, dass sie nur Wenigen zur Verfügung stehen. Etliche Medikamente gegen Krebs, Multiple Sklerose oder Hepatitis kosten bis zu 100.000 Euro pro Patient und Behandlungszyklus. Da schlägt entfesselter Kapitalismus zu: Man nimmt halt, was der Markt hergibt.


Damit die Profitmaximierung nicht ungezügelt weitergeht, helfen einzig und allein: rigorose Preisobergrenzen. Wo bleiben sie? Wieso dürfen die Hersteller nach eigenem Gutdünken bestimmen, wie teuer ihre Mittel sind? Wieso gewährt ihnen der Staat einen Freibrief für Mondpreise?


Sechzehn sogenannte „Gesundheitsreformen“ zwischen 1976 und 2007 hatten dieses Privileg unangetastet gelassen. Um eine gehätschelte Schlüsselindustrie zu schonen, zielten sie allesamt darauf ab, anderweitig zu sparen: Für immer höhere Beiträge, Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen erhielten gesetzlich Kranken­versi­cherte immer weniger Leistungen. Jeder solche Anlauf scheiterte kläglich: Zunächst flachte die Kostenkurve kurzfristig ab, um bald darauf erneut steil anzusteigen – jedesmal fanden Anbieter neue Wege, die kostendämpfen­den Regelungen zum eigenen Vorteil zu umgehen.


Mitschuld haben alle, die in unserem Gesundheitswesen einen Selbstbereicherungsautomaten sehen, der ihnen die Taschen füllen soll: seien es niedergelassene und Klinikärzte, Apotheker und Großhändler, nicht zu vergessen Finanzminister, die sich nicht zieren, üppige Mehrwertsteuern einzustreichen. Hauptursache der Kostenexplosion jedoch, darin sind sich Gesundheitsexperten einig, ist nicht die alternde, bewegungsfaule, ungesund essende Gesellschaft, sondern: die Preispolitik der Pharmaindustrie – vor allem bei patentgeschützten Arzneimitteln -, die fehlende gesetzliche Preisbremse und die unverantwortliche Verordnungspraxis vieler Ärzte, die sich von einer monströsen Marketingmaschine blenden oder korrumpieren lassen.


Eine Missgeburt namens AMNOG


Erst im 17. Anlauf, mit dem „Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts“ (AMNOG) 2011, traute sich der Staat – zaghaft, aber immerhin - endlich an die tiefste Wurzel des Übels: den schamlosen Wucher mit Arzneimitteln. Seither dürfen Pharmaunternehmen den Preis eines neuen Arzneimittels nur noch im ersten Jahr nach Zulassung gestalten, wie ihnen beliebt. Das Gesetz verpflichtete sie dazu, innerhalb dieses Zeitraums mit den Krankenkassen auszuhandeln, wieviel es anschließend kosten soll. Als Entscheidungsgrundlage sollte ein Vergleich dienen: Nützt das neue Mittel wirklich mehr als jene, die schon auf dem Markt sind? Nur wenn es dem Patienten tatsächlich mehr bringt als bisherige, darf es auch ab dem zweiten Jahr so teuer bleiben wie zuvor.


Und wenn keine Einigung zustande kommt? Dann entscheidet eine zentrale Schiedsstelle. Sie kann zwei unabhängige Instanzen damit beauftragen, den mutmaßlichen Zusatznutzen abzu­schätzen: das 2004 eingerichtete Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Berlin, das den aktuellen medizinischen Wissensstand bewerten soll; und den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland, das sicherstellen soll, dass Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sind. Misslingt der Nachweis eines Zusatznutzens, so ordnet der G-BA das Medikament einer Festbetragsgruppe zu, für die bundesweit verbindliche Höchstgrenzen gelten. Die sichern Pharmakonzernen zwar immer noch stattliche Gewinne, aber nicht mehr ganz so üppige.


Dass mit AMNOG eine neuerliche Fehlkonstruktion in die Welt kam, war von vornherein absehbar und erwies sich alsbald. Indem das Gesetz das Preisdiktat der Pharma­branche erst vom zweiten Jahr an einschränkte, lud es sie förmlich dazu ein, in den ersten zwölf Monaten brutalst­möglich zuzuschlagen – und Ärzte durch intensives Marketing dazu zu verleiten, das neue Mittel anstelle von bewährten und billigeren bisherigen zu verschreiben, unabhängig davon, ob es wirklich besser hilft. Von diesem Freibrief machte sie weidlich Gebrauch, insbesondere bei Medikamenten gegen Krebs, gegen Autoimmunerkran­kungen wie Rheuma und Multiple Sklerose, gegen Hepatitis C und Alzheimer. Für eine Packung des Krebsmittels Taxol etwa, ausreichend für eine einzige Infusion, sind 676,70 Euro zu berappen – für ein Wirkstoffportiönchen, dessen Produktion den Hersteller rund einen Euro kostet. In einem einzigen Infusionsbeutel für die zweiwöchentliche Immuntherapie eines 80 Kilo schweren Tumorpatienten mit 240 Milligramm „Opdivo“ (Nivolumab) sind über 4000 Euro gelöst – die wohl teuerste Flüssigkeit der Welt, die ein Behandlungsjahr mit rund 100.000 Euro zu Buche schlagen lässt. 180 Milligramm des im Juli 2015 auf den Markt gekommenen „Keytruda“ (Pembrolizumab), gegen bestimmte Arten von Bronchialkarzinomen und Hautkrebs, bekommen Patienten per Tropf alle drei Wochen; eine einzige Dosis kostet 8000 Euro. Hepatitis-C-Infizierte schlucken eine „Sovaldi“-Pille (Sofosbuvir) pro Tag, zwölf Wochen lang; eine einzige verschlingt 637 Euro – macht knapp 54.000 pro Behandlung. Für eine halbfingergroße Ampulle des Gentherapeutikums „Glybera“, eingesetzt bei einer ererbten Stoffwechselerkrankung, wird der sagenhafte Stückpreis von 54.000 Euro fällig. Bis 2014 verlangte der französische Pharmahersteller Sanofi für ein Milligramm des Wirkstoffs Alemtuzumab 21 Euro – dann, mit neuer Verpackung, neuem Anwendungsbereich und neuem Namen, „Lemtrada“ statt „MabCampath“, vervierzigfachte sich der Preis auf 888 Euro. Damit verteuerte sich die durchschnittliche Therapie eines MS-Patienten von rund 2150 auf über 85.000 Euro. Im Jahr 2005 kostete eine Zweierpackung der Adrenalinspritze Epipen, die für Allergiker im Notfall lebensrettend sein kann, noch 93 Euro, 2011 schon 153 – und seit 2016 bereits 558 Euro.


Nicht nur, aber vor allem an solchen Wahnsinnssummen lag es, dass die Arzneimittelkosten trotz AMNOG weiter anstiegen: 2012, im ersten Geltungsjahr des neuen Gesetzes, auf 29,4 Milliarden Euro, 2013 auf 30,3 Milliarden, 2014 auf 33,4 Milliarden, 2015 auf 34,8 Milliarden. Damit blieben Medikamente, gleichauf mit ärztlicher Behandlung (2015: 34,9 Milliarden), weiterhin der zweit­höchste Ausgabenposten im Gesundheitswesen, hinter dem Spitzenreiter Krankenhausbehand­lung (70,3 Milliarden). (1) Zwar half AMNOG im Jahr 2015 den gesetzlichen Kassen, immerhin rund 925 Millionen Euro einzusparen (2) – aber das entsprach gerade mal 2,7 Prozent der Gesamtaus­gaben.


Vom Ein- und Ausbau eines Bremschens


Was tun? Um Abhilfe zu schaffen, bediente sich Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe im September 2015 eines altbekannten Rituals: Er berief ein neuerliches Hinterzimmergemauschel namens „Pharmadialog“ über die Zukunft der Arzneimittelversorgung ein. Zu diesen vertraulichen Gesprächsrunden lud er weder andere Abgeordnete noch unabhängige Gesundheitsökonomen noch Krankenkassen noch Patientenvertreter ein. Mit am Tisch sitzen durften: mehrere Pharma­verbände, die seit eh und je hochkooperativ jede mutige Reform begrüßen und mittragen, solange sie den Profit ihrer Mitgliedsunternehmen unangetastet lässt, unter ihnen der mächtige Verband deutscher Arzneimittelhersteller (vfa); die IG Bergbau-Chemie-Energie (IG BGE), für deren Mitglieder Arbeitsplätze, Lohn- und Gehaltssteigerungen umso sicherer sind, je besser Konzerne verdienen; sowie „Vertreter der Wissenschaft“, deren Pharmadistanz teilweise eher im Nano­meter­­bereich liegt.


Angesichts von Gröhes Gästeliste war jene Karikatur eines Reförmchens absehbar, die der Minister ein knappes Jahr später, im August 2016, vollmundig anzukündigen hatte: Bald werde es eine Preis­bremse von Anfang an geben. Schlagzeilen wie „Pharmaindustrie drohen Umsatzgrenzen“ sorgten für Aufsehen. (3) Oha, Berlin tut was, so schien es. Endlich. Schonungslos. Nun ja, zumindest ein kleines bisschen. Ein erster Gesetzesentwurf, vom Kabinett im Oktober 2016 verabschiedet, sah eine Umsatzschwelle von 250 Millionen Euro vor. Verdient ein Unternehmen an einem neuen Medika­ment innerhalb des ersten Jahres mehr als diesen Betrag, erhält es anschließend nur noch den mit den Kassen ausgehandelten günstigeren Preis. Wieso eigentlich erst ab einer Viertelmilliarde? Weshalb nicht schon ab 100 Millionen, oder 25? Und warum nicht schon vom allerersten Verkaufs­tag an?


Dass die dadurch zu erzielenden Einsparungen weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein wären, rechnete dem Minister der namhafte Pharmakologe Ulrich Schwabe vor, Hauptautor des in Branchenkreisen gefürchteten Arzneiverordnungsreports der gesetzlichen Krankenkassen, der seit 1984 eine multimilliardenfache Verschwendung anprangert. Nach Inkrafttreten von AMNOG 2011 waren 95 neue Medikamente auf den deutschen Markt gekommen. Mit ihnen erzielten die Pharmaunternehmen einen Umsatz von 3,5 Milliarden Euro. Die vorgesehene 250-Millionen-Euro-Hürde nahmen freilich bloß drei dieser Mittel: das MS-Medikament Tecfidera und die beiden Hepatitis-C-Mittel Sovaldi und Harvoni. Hätten die Kassen von diesem Moment an nur noch die ausgehandelten Preise erstattet, so hätten sie gerade mal 141 Millionen Euro eingespart – kaum mehr als drei Prozent des Gesamtaufwands. Und so sprach sich Schwabe, als er im Juli 2016 als Sachverständiger im Bundestag geladen war, für eine härtere Lösung aus: Die mit den Kassen ausgehandelten Preise sollten rückwirkend gelten, für das gesamte erste Jahr: Was die Unter­nehmen zuviel einstrichen, müssten sie zurückerstatten. Allein im Jahr 2011 wären das immerhin über 737 Millionen Euro gewesen.


Schwabes Appell, die eindringlichen Mahnungen der Krankenkassen - sie verhallten ungehört. Schlimmer noch: das Rad wurde zurückgedreht. Am 9. März verabschiedete der Bundestag ein neues „GKV-Arzneimittel-Versorgungsstärkungsgesetz“ (AMVSG), aus dem die geplante Preisbremse vollständig verschwunden war. Einen Tag zuvor hatte der Gesundheitsausschuss sie in einem Last-Minute-Manöver aus dem Entwurfstext entfernt, nur die Vertreter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmten dagegen. Welchen Schutz vor Mondpreisen bringt das Gesetz denn nun eigentlich? Nun ja, räumte Gröhe ein, eigentlich keinen. Man müsse es aber als „Gesamtkunstwerk“ betrachten: Immerhin sei es „innovationsfreundlich“ und sichere Arbeitsplätze. Zudem sei es im Gegenzug gelungen, der Pharmaindustrie ein anderes Herzensanliegen zu versagen: dass die für Deutschland ausgehandelten Rabatte strikt vertraulich behandelt werden, um Preisverhandlungen in anderen Ländern nicht zu beeinträchtigen. Zudem enthalte es neue Anreize, Medikamente gegen seltene Krankheiten, Kinderarzneimittel und Antibiotika zu entwickeln – an denen dann ebenfalls ungebremst weiterverdient werden darf. Außerdem bringe es ein „Informationssystem“ auf den Weg, das Ärzte schneller und genauer über den Nutzen neuer Medikamente ins Bild setze – „damit innovative Präparate rascher beim Patienten ankommen“. Und woher, bitteschön, stammen die Daten, mit denen die Praxissoftware gefüttert wird? Vornehmlich aus pharmafinanzierten Studien, mit denen die Hersteller den Nutzen schön­rechnen, aber gewiss nicht aus jenen, die sie wegen missliebiger Ergebnisse stillschweigend unter den Teppich kehren.


Wo die Schampuskorken knallen


Und so wird Deutschlands Arzneimittelherstellern auch künftig freie Hand gelassen, wie teuer sie ihre vorgebli­chen Produktneuheiten vermarkten. Der Verzicht auf die Rückwirkung der ausgehandelten Preise bedeute, dass „Arzneimittelhersteller für ein neues Medikament im ersten Jahr weiterhin astronomische Phantasiepreise von den Kassen verlangen können, unabhängig vom Nutzen ihres Produktes für die Patienten“, kommentierte der Vorsitzen­de der Kaufmännischen Krankenkasse, Ingo Kailuweit, Gröhes Machwerk. „Bei der Pharma-Lobby dürften jetzt die Champagner-Korken knallen.“4 Und die paar lästigen Kritiker, die nicht daran denken, die Klappe zu halten? Wäre einer wie Shkreli beim Entkorken dabei gewesen, hätte er die feucht-fröhliche Runde mit ein paar deftigen Anregungen erheitern können, die er selbst schon vergnügt umgesetzt hat: Wer an seinem Preisdiktat herummeckert, den kanzelt er unverblümt als „Trottel“ („moron“) ab und twittert ihm ein Stinkefinger-Zitat aus einem Song des US-Rappers Eminem entgegen, zeitökonomisch auch ein abschätziges „lol“, die beliebte Internet-Abkürzung für „laughing out loud“. (5)


Aber wäre mit der „Preisbremse“, hätte es sie gegeben, alles gut geworden? Wäre es vorbei gewesen mit der Kostenexplosion im Arzneimittelsektor, wenn sich Schwabe mit seiner „härteren“ Lösung Gehör verschafft hätte? Mitnichten. Gut war lediglich der Grundgedanke: Auf den Markt kommen sollten bloß Heilmittel, die mehr nützen als andere, schon vorhandene. Aber wieso beschränken sich solche Vergleiche bloß auf neue Medikamente – weshalb kommen nicht alle auf den Prüfstand, der gesamte Bestand? Wozu muss der deutsche Arzneimittelmarkt 86.000 Artikel umfassen, aber bloß 2750 Wirksubstanzen? (6) Wie unabhängig sind eine „Schiedsstelle“, ein IQWiG und ein G-BA, deren Nutzenbewertungen nicht auf eigenen Untersuchungen beruht, sondern auf Dossiers, welche der Hersteller ihnen einreicht – und damit auf pharmafinanzierten, notorisch fälschungsanfälligen Studien, über welche hinaus er ihnen vermutlich etliche weitere verschweigt, die er mangels Erfolgsnachweis gar nicht erst publik werden ließ? Und wieso werden neue Chemikalien lediglich mit alten verglichen – anstatt mit allen verfügbaren Mitteln, Leiden zu lindern und zu beseitigen? Würden Antidepressiva oder Neuroleptika („Antipsychotika“) nicht bloß aneinander gemessen, sondern an Psychotherapie, sozialer Unterstützung und Selbsthilfe, so ergäbe sich aus Hunderten vorliegender Vergleichsstudien: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, würden psychisch schwer Belastete besser und unsere Kassen billiger fahren, wenn alle pillenverschreibenden Psychiater beurlaubt und sämtliche Psychopharmaka ins Meer gekippt würden. Nur den Fischen ginge es voraussichtlich schlechter.


Grundfragen links liegengelassen


Und was ist mit den grundlegenden Fragen, die unser krankes Gesundheitswesen aufwirft? Im 18. Reformanlauf wurden sie ebenso beharrlich umgangen, wie sie bei allen bisherigen unter den Tisch gefallen waren. Die eine oder andere Gesetzesänderung tat den Herstellern zwar ein bisschen weh – an entscheidende Strukturen, Weichen­stellungen und Werte traute sich indes keine einzige heran, nicht einmal ansatzweise. Durchweg handelte es sich um Notwehrreaktionen auf äußerste monetäre Engpässe: leere öffentliche Kassen, malade gesetzliche Krankenversiche­rungen, überforderte Beitragszahler. Soweit Bundesregierungen in Versorgung und Regulierung eingriffen, ging es ausnahmslos darum, Kosten zu dämpfen und finanzielle Lasten umzuverteilen – um Themen wie Beitragshöhe, Arbeitgeberzuschüsse, Einschränkung von Leistungen, Vergü­tung der Leistungserbringer, Praxisgebühren, Zuzahlungen zu Arzneimitteln, Selbstbeteiligung, Ausgabenbudgets, Preisgestaltung, Festbeträge, Rationalisierung. Niemals nahm der Staat echte, dringend notwendige Reformvorhaben in Angriff:


· Warum schiebt er der routinemäßigen Studientrickserei von Industrieseite nicht einen Riegel vor, legt Forschung und Entwicklung nicht ganz in die öffentliche Hand oder unterwirft sie zumindest strikter Aufsicht?


· Wann überarbeitet er nicht endlich das Patentrecht, um seinem dreisten Missbrauch durch pharmazeutische Scheininnovationen einzudämmen, die einen einzigen Zweck verfolgen: Vermarktungsmonopole aufrechtzuerhalten?


· Weshalb setzt er dreister Preistreiberei nicht mit Obergrenzen ein rigoroses Ende?


· Wo bleibt die seit Jahrzehnten angekündigte „Positivliste“, die Ärzten und Verbrauchern vorgibt, welche Arzneimittel wirklich hilfreich, nötig und preiswert sind?


· Wann endlich verpflichtet der Staat die gesetzlichen Kassen dazu, nicht mehr für teure Originale aufzukommen, wenn mindestens ebenso wirksame, längst bewährte ältere Mittel oder Nachahmerpräparate, Generika, zu einem Bruchteil des Preises erhältlich wären?


· Wieso verschärft er Haftungsrecht, Antikorruptions- und Transparenzgesetze nicht drastisch?


· Wieso baut er kein unabhängiges öffentliches Informationssystem auf, finanziert aus möglichen Milliardeneinsparungen im Arzneimittelsektor und dem prallgefüllten Marketingtopf der Konzerne?


· Weshalb fördert er so gut wie gar nicht die Erforschung chemiefreier Behandlungsansätze, hilfreicher psychosozialer Projekte sowie selbstverantwortlicher Gesundheitsfürsorge?


· Wann bläst er endlich das kläglich gescheiterte Experiment der „Selbstverwaltung“ im Gesundheitswesen ab, die seit Jahr und Tag auf die gemeinschaftliche Selbstbereicherung der beteiligten Interessengruppen hinausläuft?


· Wenn Pharmazie ein Multimilliardengeschäft ist, für das staatliche Institute ohnehin einen Großteil der Grundlagenforschung leisten – weshalb macht er dieses Geschäft nicht besser gleich selbst, statt bei den Selbstbereicherungsorgien von Managern, Investoren und Aktionären tatenlos zuzusehen?


Und niemals ging es bislang um brennende Grundsatzfragen wie: Worin besteht Gesundheit eigentlich? Was bedeutet Heilung? Was erhöht und sichert Wohlbefinden und Lebensqualität? Was motiviert Patienten über finanzielle Anreize hinaus, Verantwortung für das eigene Wohl­ergehen zu übernehmen, zu ihrer Genesung aktiv beizutragen? Welche präventiven Ansätze können dafür sorgen, dass Krankheiten erst gar nicht entstehen? Gibt es zu Pharmazeutika preiswertere, nebenwirkungsärmere, patientenfreundlichere Alternativen? Wie fördern und gestalten wir eine integrative Medizin, die das Beste aus unterschiedlichen Heiltraditionen und Therapierichtungen verbindet? Wie wird Humanmedizin humaner, wie befriedigt sie grundlegende menschliche Bedürfnisse?


Beeindruckt von der 2,9-Milliarden-Lüge


Den Dauereinflüsterungen von Lobbyarbeitern ausgesetzt, beeindruckt zaudernde Politiker die übliche Leier aus der Pharmabranche: Horrende Gewinne seien nötig, um die gewaltigen Ausgaben für Forschung und Entwicklung „innovativer“ Heilmittel zu schultern. Weshalb traut sich da keiner zu widersprechen, gestützt auf allseits zugängliche Studien? Im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) untersuchten Wissenschaftler der Universität Bremen die 23 Medikamente, die 2013 neu auf den Markt kamen. (7) Ein einziges Präparat – Pertuzumab („Perjeta“) gegen HER2-positiven Brustkrebs – erwies sich als wirklich „innovativ“, neun waren dies nur „begrenzt“, zehn überhaupt nicht. Unzweifelhaft nützlich waren die Scheininnovationen hingegen für die Bilanzen der Hersteller: Im Vergleich zum Vorjahr verdoppelte sich der durchschnittliche Preis der neuen Medikamente von 670 auf 1418 Euro. Nicht von ungefähr handelte es sich bei neun der 23 angeblichen „Neuheiten“ um Onkologika: In der Krebsmedizin lässt sich mit Pharmazie besonders viel verdienen. Dabei bedeutet „neu“ selten „innovativ“: So preisen Hersteller nicht nur Arzneistoffe mit tatsächlich neuartiger chemischer Struktur oder Wirkweise an, sondern auch geringfügige Änderungen der Molekülstruktur, Analog- oder „me too“-Präparate („ich auch“) genannt. 20 bis 30 Prozent aller Krankenkassenausgaben entfallen auf sie. (8) Für solche Pseudoneuheiten, die kaum bis gar keinen therapeutischen Zusatznutzen bringen, sollten Kassen keinen Cent zahlen müssen. Sie sind entbehrlich. Dass Ärzte sie überhaupt verordnen, ist skandalös.


Bei einem Jahresumsatz von über einer Billion US-Dollar weltweit liegt der durchschnittliche Gewinn branchenweit bei 20 bis 30 Prozent, bei einzelnen Giganten sogar über 40 Prozent. Kein anderer Industriezweig erzielt stattlichere Überschüsse. Dass er im Schnitt über 800 Millionen, neuerdings sogar 2,9 Milliarden Euro aufwendet, um ein neues Medikament auf den Markt zu bringen, ist ein hanebüchenes Märchen, in die Welt gesetzt von einem berüchtigten Pharmalobbyisten an einer pharmafinanzierten amerikanischen Privatuniversität. (9) Die Wahrheit ist: In Forschung und Entwicklung investieren Pharmakonzerne im Schnitt maximal 15 Prozent des Umsatzes - abzüglich der verkappten Werbemittel „Anwendungsbeobachtung“ und „therapeu­tischer Zirkel“, legaler Formen der Korruption, vermutlich weniger als ein Zehntel. Marketing lassen sie sich hingegen mehr als das Dreifache kosten, 50 bis 55 Prozent; dazu zählen Bestechungsgelder an die gebauchpinselten „Meinungsführer“ der Ärzteschaft in Form von Vortrags-, Autoren- und „Berater“honoraren, Hunderte von Millionen für emsige Lobbyarbeiter im und ums Parlament und Ministerien, saftige Provisionen an rund 20.000 Pharmavertreter, die Arztpraxen und Kliniken beharrlich die Türen einrennen. Sänken die Preise, stünde es den Konzernen frei, an Werbung zu sparen, an den irrwitzigen Gehältern, Boni und Abfindungen ihrer Manager, an Ausschüttungen für ihre Aktionäre, an Schmiermitteln für die Hauptakteure des medizinischen Versorgungssystems. Der frühere Pharma-Geschäftsführer John Virapen, ein geläuterter Whistleblower, geißelt die wahren Verhältnisse: Im wesentlichen „bestehen Arznei­mittelfirmen aus zwei Abteilungen: Juristen und Marketingleuten; Forscher und Forschungsergeb­nisse werden nach Bedarf zugekauft. Das Marketing aber muss immer laufen, ganz unten die Vertreter. Für Gesetzesübertretungen, für zerbrochenes Porzellan und unangenehme Blutspuren hecheln die Juristen ihnen mit dem Spitzfindigkeitsbesen hinterher und machen sauber.“ Nichts zwänge die Konzerne, künftig weniger zu forschen – warum schichten sie Budgets nicht einfach um? Oder sie könnten sich mit weniger üppigem, aber immer noch prächtigem Reibach begnügen.


Wann, Herr Gröhe, gedenken Sie ein „Kunstwerk“ in Angriff zu nehmen, das diesen Fakten Rechnung trägt? Welches Gesundheitssystem möchten Sie Ihren vier Kindern hinterlassen? „Der Glaube an Jesus Christus“, erklärte der bekennende Protestant, 13 Jahre lang Ratsmitglied der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), „gibt mir Halt im Leben“. Heilte Jesus nicht pharmaziefrei?


Unwort der Nachkriegszeit


Bei der seit Anfang der Neunziger stattfindenden Kür des „Unworts des Jahres“ hatte der bis zur Kotzgrenze überstrapazierte Begriff „Gesundheitsreform“ 1996 auf der Kandidatenliste weit oben gestanden. Es wird Zeit, dass er endlich als „Unwort der Nachkriegszeit“ zu bleibenden Ehren kommt. Was eine unfähige politische Elite, weitgehend im Griff eines der mächtigsten Industrie­zweige auf unserem Planeten, unter diesem absurden Schwindeletikett seit Jahrzehnten „reformiert“, ist fürwahr nicht das Gesundheitswesen, sondern unsere Gesundheit: Wir haben sie als einen stets gefährdeten Zustand aufzufassen, den wir nur begreifen, bewahren und wieder­erlangen können, wenn wir uneingeschränkt ergeben, „kompliant“, hinnehmen und schlucken, was die Pillenmedizin uns vorsetzt.


Welch maximalen Schaden bei minimalem Nutzen beispiels­weise Psychopharmaka anrichten, führen der Stiftung Auswege in jedem Therapiecamp unfassbare Patienten­schicksale vor Augen. Was ihnen dort weiterhilft als jede Hirnpille zuvor, sind Empathie, Geduld und Wertschätzung, eingehende Gespräche und liebevolle Zuwendung, die ihnen unsere Helferteams schenken. Eine Tüte Haribo zwischen den Heilsitzungen, zum Stückpreis von unter einem Cent pro Gummibärchen, bekäme ihnen garantiert besser als jede Schachtel voller synthetischer Chemie, an der „wirksam, sicher und gut verträglich“ nur die Hersteller genesen.


Zu den unveräußerlichen Aufgaben des Staates gehört es, Leib und Leben seiner Bürger zu schützen. Wie haarsträubend er diese Funktion im Gesundheitswesen seit jeher vernachlässigt, wäre längst ein Fall fürs Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. 80 Millionen Krankenversicherte einer inhumanen, technophilen und chemielastigen Verkümmerung wahrer Heilkunst auszuliefern, die chronische Erkrankungen eher erzeugt und verstetigt als lindert und heilt, ist nämlich nichts geringeres als: ein Verbrechen.


Anmerkungen

1 Zahlen nach www.gkv-spitzenverband.de, „Zahlen und Grafiken“/“Kennzahlen“.

2 Nach Handelsblatt, 27.9.2016: „Arzneikosten in Deutschland steigen auf Rekordniveau“.

3 Deutsche Apotheker Zeitung, 8.4.2016.

4 Zit. nach Handelsblatt, 7.3.2017.

5 Nach Manager-Magazin, 23.9.2015: „Wie dieser Pharma-CEO zum meistgehassten Mann der USA wurde“; Welt/N24, 9.1.2017: „Twitter wirft den ‚meistgehassten Mann des Internets‘ raus“.

6 Nach InsightHealth, vfa, www.vfa.de/download/kap2-arzneimittelzahl.pdf, abgerufen am 22.10.2016.

8 Rolf-Ulrich Schlenker, Vizechef der Barmer GEK, zit. nach Der Tagesspiegel, 29.5.2014: „Wie Scheininnovationen die Preise nach oben treiben“.

9 Siehe Marcia Angell: Der Pharma-Bluff – Wie innovativ die Pillenindustrie wirklich ist, Bonn 2005, S. 59 ff.; Washington Post, 18.11.2014: „Does it really cost $ 2.6 billion to develop a new drug?“; New York Times, 18.11.2014: „$ 2.6 Billion to Develop a Drug? New Estimate Makes Questionable Assumptions“; Jerry Avorn: „The $2.6 Billion Pill – Methodologic and Policy Considerations“, New England Journal of Medicine 372/2015, S. 1877-1879.

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