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Dr. Harald Wiesendanger

Ist es zu fassen?

Aktualisiert: 1. Mai 2021

Ausgerechnet der Chefredakteur der Bild-Zeitung, die ansonsten bedenkenlos auf der Corona-Panikwelle mitsurft und täglich hilft, sie höherschwappen zu lassen, vollzieht eines Tages unverhofft eine Rolle rückwärts, die in der deutschen Medienlandschaft Seltenheitswert hat.



In einem knapp fünfminütigen Videokommentar, der auf YouTube knapp eine Million Klicks erzielte, rechnet Julian Reichelt am 27. April 2020 mit dem Corona-Krisenmanagement der Bundes- und Landesregierungen, mit ihren beratenden Experten in einer Weise ab, die an Deutlichkeit kaum zu überbieten ist.


„Ob die Maßnahmen richtig oder falsch, maßvoll oder überzogen sind, werden wir erst aus den Geschichtsbüchern erfahren“, sagt Reichelt, der seit Februar 2017 für Deutschlands mit Abstand größte Tageszeitung redaktionell verantwortlich ist. „Ob wir auf Corona als Gesundheitskatastrophe oder Zusammenbruch unserer Wirtschaft zurückblicken werden, ist vollkommen offen. Es ist möglich, aber keinesfalls gewiss, dass richtig ist, was gewaltige Mehrheiten für richtig halten. Es gibt keine Herdenimmunität dagegen, historisch katastrophal falsch zu liegen.“ Dass sich die vermeintliche „Jahrhundert-Pandemie“ bald als Jahrhundert-Versagen entpuppt, will der BILD-Chef nicht länger ausschließen: „Nahezu alle Experten, denen wir uns in dieser Krise anvertrauen (müssen), lagen mit nahezu jeder Einschätzung so falsch, dass unser Glauben an sie sich nur noch mit Verzweiflung erklären lässt.“


Was Reichelt „am meisten Sorgen bereitet: Unsere Wirtschaft ist schon jetzt so massiv und teilweise irreparabel geschädigt, dass unsere Regierung sich kaum noch erlauben kann, zuzugeben, in ihrer Schärfe überzogen zu haben. Die Experten müssen Recht behalten, weil sie nicht falsch liegen dürfen. Die deutsche Wirtschaft vorschnell ruiniert zu haben, wäre für keine Partei, vielleicht nicht einmal für die Demokratie überlebbar. Deswegen erleben wir zunehmend Sturheit, Starrsinn und Rechthaberei.“


Auch den Umgang mit Kritikern prangert der Bild-Chefredakteur an. „Ist es in unserem Land eine gute Idee, sich in schwierigen Zeiten über Andersdenkende lustig zu machen und zu erheben?“, so fragt er. „Geballter Starrsinn“ empört ihn. „Nur Ideologien kennen Absolutismen. Die Stärke der Demokratie ist, dass sie auch die unbequemsten Debatten aushält. Wenn sie sie aber verhindert, macht die Demokratie sich überflüssig. Das Einzige, was in der Demokratie alternativlos ist, ist die Debatte.“


Reichelts verblüffendes Coming-Out als Corona-Skeptiker endet mit einer düsteren Vorahnung: „Ich möchte mir nicht ausmalen, wie wir in drei, vier Jahren auf diese Wochen und Monate zurückblicken werden, wenn das Durchschnittsalter der Toten über der durchschnittlichen Lebenserwartung liegen sollte, Millionen Arbeitslose auf der Straße sitzen, der Mittelstand, der Hartz IV finanziert, vernichtet ist. Wenn viele Restaurants für immer geschlossen haben, aber die Suppenküchen geöffnet sind. Auch daran sollte die Bundeskanzlerin denken, wenn sie ihre nächste Regierungserklärung hält.“


Dass der Staat „niemals Menschenleben abwiegen darf gegen ein anderes Gut“, bezeichnet der BILD-Chef als „eine noble Idee, die der Realität leider nicht immer standhält“. Zustimmend zitiert er die kürzliche Äußerung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“


Hat Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung bei Covid-19 bislang nicht eifrig auf der Grusel-Klaviatur mitgespielt? Dass ausgerechnet sie dem Berliner Panikorchester nun weitere Aufführungen versaut, kommt reichlich spät – aber besser spät als nie. Die spektakuläre 180-Grad-Wende des unangefochten führenden Meinungsmachers unter Deutschlands Printmedien, der Tag für Tag 8,6 Millionen Leser erreicht und mit seinem Digitalangebot jeden Monat über 25 Millionen Besucher anlockt, dürfte im politischen Raum erheblich nachwirken, falls Reichelts neue Linie von nun an Artikel und Kommentare, Geschichten und Bilder seines Blatts prägt. Jegliche Fachleute außerhalb des Robert-Koch-Instituts und der Charité konnte das Berliner Panikorchester bislang kaltblütig ignorieren – was BILD sagt, darf hingegen niemand vernachlässigen, der wiedergewählt werden will.




Leichtgewichtiger, aber nicht minder kraftvoll tritt der Chefredakteur der Zeitschrift Compact auf. In seinem Aufmacher „Wie unsere Freiheit stirbt“ findet Jürgen Elsässer treffende Worte für den ausufernden Hygiene- und Kontrollstaat:


„Alles, was das Abendland und die westliche Kultur seit Alters her auszeichnet, verschwindet in der jetzt überfallartig verordneten Abstandsgesellschaft: der Händedruck und der Blick in die Augen, mit dem wir bisher Vertrauen schufen und Vertrauen prüften; die Möglichkeit zum geselligen Beisammensein in Vereinen, Bars und Restaurants; Gottesdienste, Hochzeiten, Beerdigungen und Taufen, bei denen sich die Gemeinden und Familien zu versammeln pflegten. (…) Unsere bis dato quirligen Städte veröden: Auf den Straßen und Plätzen, die so menschenleer sind wie das Regierungsviertel von Pjöngjang, sieht man nur noch vermummte Gesichter, als habe eine Fatwa die Verhüllung zur Pflicht gemacht. Doch es war kein Autokrat wie Kim und kein Ajatollah wie Chamenei, die solches bei Strafandrohung verkündeten. Es waren Politiker, die versprochen haben, Freiheit und Demokratie zu schützen. (…) Viele trösten sich damit, dass die drakonischen Maßnahmen nur zeitweilig sind. Mancher begrüßt die Ausgangssperren sogar als Entschleunigung – im sogenannten Home Office kann man sich endlich mal wieder der Familie widmen. Doch die Herrschenden sehen den Lockdown nicht als Provisorium, sondern als Dauerzustand.“ Lasst uns mithelfen, sie zu enttäuschen.


Harald Wiesendanger


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