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Dr. Harald Wiesendanger

"Merkels Fürsorge brauche ich nicht"

FDP-Spitzenpolitiker Wolfgang Kubicki übt scharfe Kritik am Hygiene-Regime der Bundesregierung und den Zahlenspielen des Robert-Koch-Instituts. Ein Statistik-Professor tut es ebenfalls.


"Ich brauche weder die Fürsorge von Angela Merkel noch von jemand anderem": Mit klaren Worten kritisiert der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki das Verhalten der politisch Verantwortlichen in der Corona-Krise.

Die offiziellen Corona-Zahlen, die das Robert-Koch-Institut regelmäßig verbreitet, sind Kubicki suspekt. Diese „vermitteln eher den Eindruck, politisch motiviert zu sein als wissenschaftlich fundiert“, erklärte er gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.


Insbesondere das seltsame Auf und Ab der „Reproduktionszahl“ R – sie gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt - werfe Fragen auf, so Kubicki, der auch Vizepräsident des Deutschen Bundestags ist. Nach Angaben des RKI-Chefs Lothar Wieler soll R bundesweit von 0,9 auf 1,0 gestiegen sein. Aber wieso verkündet Ministerpräsident Markus Söder für Bayern, das Land mit den meisten Infektionen, gleichzeitig einen R-Wert von 0,57? „Woher der RKI-Wert bei sinkenden Infektionsraten kommen soll, erschließt sich nicht einmal mehr den Wohlmeinendsten“, kritisiert der FDP-Spitzenpolitiker.


Erstaunlich findet Kubicki, dass Wieler nun darauf hinweise, bei der Berechnung von R werde nun eine neue Methode angewandt, im übrigen nehme die relative Bedeutung dieses Werts ab. Dies „trägt nicht dazu bei, die täglichen Wasserstandsmeldungen des Instituts noch für seriös zu halten“.


Im übrigen fällt Kubicki auf, dass die vom Helmholtz-Zentrum und der Technischen Universität Ilmenau ermittelten Werte deutlich von den Schätzungen des RKI abweichen: „Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Der R-Wert des RKI steigt ausgerechnet zur Konferenz der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten, bei der vor weiteren Lockerungen gewarnt werden soll.“


"Die Zeit der Virologen und Epidemiologen ist vorbei"


Dass Regierungen in der Corona-Krise dem RKI und der Charité ein regelrechtes Erkenntnis- und Deutungsmonopol einräumten, findet Kubicki äußerst fragwürdig. „Wissenschaft hat etwas mit Diskurs zu tun und dem Austausch der Meinungen und wissenschaftliche Meinungen können auch widerlegt werden“, betont Kubicki in einem längeren Interview mit dem Online-Magazin „Watson“. „Wäre das nicht der Fall, würden wir heute immer noch denken, die Erde sei eine Scheibe. Wir müssen wissenschaftliche Meinungen offen diskutieren und dann Entscheidungen treffen.“


Nach Kubickis Eindruck lassen sich Regierungen in Bund und Ländern zu einseitig beraten. "Die Zeit der Virologen und Epidemiologen ist vorbei."


Söder: der wiederauferstandene Ludwig II. von Bayern?


In der Krise schlägt die Stunde der Exekutive, so heißt es. Ganz Deutschland hängt an den Lippen von Regierenden, die ihnen kundtun, ob und wann sie Einschränkungen von Freiheitsrechten zurücknehmen und allmählich wieder Normalität einkehren lassen. Genau dies geht dem FDP-Vizechef gehörig auf die Nerven: „"Die Bundeskanzlerin erweckt dauernd den Eindruck, dass sie bestimmen darf, wie 83 Millionen Menschen in Deutschland leben. Das ist infektionsrechtlich falsch", erklärt Kubicki. Und „Bei Markus Söder könnte man den Eindruck gewinnen, als gehörte ihm das Land und er wäre der wiederauferstandene Ludwig II. von Bayern, wenn er vermittelt, die Gewährung von Freiheiten sei ein Gnadenakt durch ihn.“


Wer Grundrechte einschränkt, „muss das begründen, mit jedem Tag besser. Da reichen bloße Szenarien nicht aus. Mir fehlt aber auch einfach mal ein klares Ziel. Es ist überhaupt nicht klar, wann der Shutdown enden soll und sämtliche Grundrechtsbeschränkungen aufgehoben werden. Nach den ersten drastischen Maßnahmen, die ich geteilt habe, müssen wir mehr und mehr Richtung Normalzustand gehen. Das heißt auch, dass die Krankenhäuser wieder mehr Patienten aufnehmen müssen. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass Operationen immer weiter verschoben werden und Menschen dadurch in der Gefahr stehen, nicht durch, sondern wegen Corona zu sterben. Irgendwann muss eine Regierung, egal ob Bundes- oder Landesregierung, mal erklären, welches Ziel wir erreichen wollen und wann es dann so weit ist.“ Soweit solche Ziele definiert wurden, wechselten sie ständig: „Erst war das Ziel, die Überforderung des Gesundheitssystems zu verhindern, was ja inzwischen auch kein Thema mehr ist. Dann die Verdopplungszeit und anschließend die Reproduktionsrate. Ich halte das für schwer akzeptabel und nicht mehr nachvollziehbar.“


Ein Staat, der für seine Bürger hundertprozentigen Rundumschutz anstrebt und geradezu totalitär durchsetzt, ist Kubicki suspekt: "Ich brauche weder die Fürsorge von Angela Merkel noch von jemand anderem."


Aber gehört Kubicki mit seinen 68 Lenzen nicht selber einer „Risikogruppe“ an, die dankbar sein sollte, dass Infektionsschützer bestmöglich auf sie aufpassen? Seine Gesundheit sieht er eher von Weißwein und Gewichtszunahme bedroht als von Corona. „Mein Problem besteht darin, dass mir sämtliche Risiken des Lebens regelmäßig begegnen. Das geht von Genussmitteln und gutem Essen bis zu sozialen Kontakten. Ich bin altersbereinigt gesundheitlich sehr gut drauf. Mich muss keiner beschützen.“


In der Corona-Krise drängen Politiker ins Rampenlicht, über deren Aussagen Kubicki nur den Kopf schütteln kann. Beispielsweise „halte ich von Karl Lauterbachs Erklärungen nicht viel. Seine Idee ist es ja, den Lockdown bis zur Findung eines Impfstoffes beizubehalten. Das kann anderthalb bis zwei Jahre dauern. Abgesehen davon ändert er alle zwei Tage seine Meinung. Das kann er gerne tun, aber ich weiß nicht, ob er der SPD damit einen Gefallen tut. Viele Dinge, die er gesagt hat, waren in der Vergangenheit unsinnig und sind es jetzt immer noch.“ So forderte Lauterbach noch vor wenigen Tagen, „man solle testen, testen, testen. Und jetzt erklärt er, dass er die Auffassung von Jens Spahn teilt, dass man sich beim Testen auf die konzentrieren sollte, die Symptome haben, was völlig unsinnig ist, weil viele Infizierte gar keine Symptome zeigen.“ Auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet gibt nach Kubickis Einschätzung in der Krise eine eher klägliche Figur ab: „Wer infektionsrechtliche Maßnahmen mit einem Schaulaufen um die Kanzlerkandidatur verbindet, ist nicht ganz dicht in der Birne. Hier wird in Grundrechte eingegriffen und das muss man gut begründen.“


Was der als „Häuptling Spitze Zunge“ berüchtigte FDP-Vizechef da austeilt, ist starker Tobak. Wieso wartete er damit bis Ende April? Befand er sich zwei Monate lang in verschärfter Quarantäne, ohne jegliche Komunikationsmittel und mit Interviewverbot?


Statistik-Professor erkennt "Willkür"


Kubickis Kritik teilt der namhafte Statistik-Professor Gerd Bosbach, Mitautor der Bestseller „Lügen mit Zahlen“ (2012) und „Die Zahlentrickser“ (2017): „Der ständige Wechsel der Bezugsgrößen erzeugt den Eindruck von Willkür.“ Bosbach knöpft sie sich der Reihe nach vor:


1. „Zu Beginn wurde das Ziel ausgegeben, den Anstieg zu verlangsamen, um die Intensivabteilungen der Krankenhäuser nicht zu überfordern („Flatten the curve“). Gemessen werden sollte das Wachstum an der Verdopplungszeit der Anzahl der Infizierten. Zuerst sollte die 10 Tage überschreiten, dann musste noch länger gedehnt werden. Verdopplungszeit 14 Tage wurde der Maßstab.


2. Dann tauchte plötzlich die Reproduktionszahl R in aller Munde als Maßstab auf: Wie viele Personen steckt ein Infizierter an? Anfänglich war das Ziel 1, dann unter 1, letzte Woche wurde vom RKI-Vizepräsidenten sogar mal ungefähr 0,2 genannt, am 28.4. auch “möglichst niedrig”. Berechnen kann man R sowieso nicht. Außerdem wurde die Schätzmethode Mitte April auch noch gewechselt.


3. Seit letzter Woche ist die absolute Zahl der gemeldeten Fälle (wegen möglicher Einzelfallverfolgung durch die Gesundheitsämter) plötzlich die wichtigste Größe. Genannte Grenzen bisher: ein paar hundert, unter 1000, möglichst niedrig.“


Dies, so bemängelt der Statistik-Professor, sei „kein vertrauenswürdiger Umgang mit der Bereitschaft fast aller, sich stark einzuschränken. Wechselt kurz vor der Erfüllung plötzlich das Kriterium, und das gleich mehrfach, dann sinkt die Bereitschaft, massive Freiheitseinschränkungen weiter zu respektieren.“


Die Kubicki/Bosbach-Schelte hat den „R“-Wert offenbar mächtig beeindruckt: Kurz darauf, am 30. April bei seiner täglichen Pressekonferenz, verblüffte RKI-Chef Wieler mit der Verlautbarung, R sei geradezu schlagartig auf 0,76 gesunken. Dennoch befinden wir uns angeblich „noch am Anfang dieses Marathons“. Derzeit komme es zudem jeden Tag zu rund 1500 Neuinfektionen. Das seien weniger als noch in der vergangenen Woche – erstaunlicherweise, weil das RKI die Infektionszahlen künstlich hochtreibt, indem sie wesentlich mehr Tests durchführt; statt 350.000 pro Woche sollen demnächst 4,5 Millionen stattfinden.


Trotzdem werden die Kontaktbeschränkungen „jetzt sicherlich erst einmal bis zum 10. Mai verlängert“, so stellte Kanzleramtschef Helge Braun am selben Tag klar. Die zwingenden, alternativlosen Gründe hierfür stellen anscheinend ein wohlgehütetes Geheimnis dar.


Die einzigen Experten, die diese Gründeweiterhin zu kennen scheinen, nahm Kanzlerin Merkel am 30. April in Berlin nochmals nachdrücklich in Schutz: Deutschland habe herausragende Wissenschaftler in den Bereichen Virologie und Epidemiologie, "auf deren Stimme wir hören können und auf deren Stimme auch viele andere außerhalb Deutschlands hören".


Selektive Schwerhörigkeit wäre demnach in der Corona-Krise ein hilfreiches Handicap gewesen.


(Harald Wiesendanger)


Anmerkungen

© Fotoausschnitt Kubicki: Sven Teschke – Wikipedia Commons

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