Kunststoff ist allgegenwärtig, schier unverwüstlich – und brandgefährlich, wenn er in unseren Körper gerät. Während die Industrie abwiegelt, Gesundheitsbehörden und Gesetzgeber zaudern, schlagen Wissenschaftler längst Alarm: Winzige Fasern und Bruchstücke aus Plastik, die wir ahnungslos über Trinkwasser und Nahrungsmittel, Atemluft und Haut aufnehmen, können chronisch krank machen.
Mitten im Weihnachtsgeschäft 2017 musste der Schokoladenhersteller Feodora seine
beliebten „Anthon Berg“-Pralinen zurückrufen: Es sei nicht auszuschließen, dass in die
Packungen Kunststoffteile gelangt sind, so teilte das Unternehmen mit. Man solle die
Produkte keinesfalls verzehren. Betroffene Kunden könnten sie zurückgeben. Den Preis
erhielten sie erstattet, auch ohne Kassenbon.
Die Logik dahinter ist ulkig. Konsequent weitergedacht, triebe sie nämlich unsere gesamte Lebensmittelindustrie umgehend in den Ruin. Denn Plastik ist längst überall: nicht nur in Gewässern, im Regen, in der Atmosphäre, sondern auch im Trinkwasser, in der Nahrungskette, in unserem Essen, und damit auch in unserem Körper.
Es ist der Preis, den wir mit Verzögerung für den gedankenlosen Turbo-Eintritt ins bequeme Plastik-Zeitalter zahlen. Die Schleusen hatte ihm der belgische Chemiker Leo H. Bakeland geöffnet, als er zwischen 1905 und 1907 Bakelit entwickelte, den ersten vollsynthetischen Stoff aus Erdöl. Mitte der fünfziger Jahre produzierte unser Planet rund 1,5 Millionen Tonnen Kunststoff pro Jahr – inzwischen liegen wir bei ungefähr 280 Millionen Tonnen; ein Viertel davon stammt aus Europa, mit Deutschland als Exportprimus. Mittlerweile würde die Produktionsmenge ausreichen, um den gesamten Erdball sechsmal einzupacken. 8,3 Milliarden Tonnen Plastik wurden bisher in die Welt gesetzt – das entspricht dem Gewicht von 822.000 Eiffeltürmen, 25.000 Empire State Buildings, 80 Millionen Blauwalen oder einer Milliarde Elefanten, wie US-Forscher vorrechneten. Nur ein Zehntel wird wiederverwertet, zwölf Prozent verbrannt; der überwältigende Rest treibt sich in unserer Umwelt oder auf Deponien herum. Recycling schiebt zumeist bloß den Zeitpunkt hinaus, an dem das Material letztlich zu Abfall wird. Und so wird der Plastikmüllberg bis zur Jahrhundertmitte auf zwölf Milliarden Tonnen anwachsen, falls niemand gegensteuert.
Innehalten, bremsen, umkehren: Zumindest den Herstellern steht der Sinn danach zuallerletzt. Denn Plastik ist Big Business: 800 Milliarden Euro Umsatz im Jahr macht die Kunststoff erzeugende und verarbeitende Industrie damit – rund 60 Milliarden allein in Deutschland -, wofür sie vier Prozent der Erdölvorkommen verbraucht.
Kaum ein Material ist tückischer, kaum eines hartnäckiger. Denn Plastik ist so gut wie
unzerstörbar. Es baut sich nicht biologisch ab, sondern zerbricht allenfalls in immer kleinere Teile. Inzwischen ist Mikromüll überall zu finden – um uns, in uns.
Dass sich kaum jemand darüber aufregt, liegt daran, dass die Teile winzig sind, für das bloße Auge unsichtbar und erst unter dem Mikroskop aufzuspüren. Manche sind nur ein paar Nanometer groß – Tausendstel eines Tausendstels eines Millimeters.
Die Quellen der Verseuchung
Wie gelangt das Zeug in unsere Lebenswelt, in unseren Organismus? Die Quellen sind
vielfältig. Fachleute unterscheiden „sekundäres“ Mikroplastik, das aus Zerfall und Abbau
entsteht, von „primärem“, das von vornherein so winzig produziert wird.
Bis zu zehn Millionen Tonnen Kunststoffe, so schätzt das Umweltbundesamt, geraten jedes Jahr in die Meere – von PET-Flaschen über Einkaufstüten bis hin zu Strohhalmen, den wohl überflüssigsten Konsummitteln; Tag für Tag kommt weltweit über eine Milliarde dieser eher kindischen Ansaughilfen zum Einsatz. In allen Ozeanen wabern inzwischen kilometergroße Abfallstrudel, die vornehmlich aus Plastikmüll bestehen. Im Pazifik zwischen Japan und Nordamerika treibt der „Great Garbage Patch“, eine gigantische Müllhalde voller Kunststoffrückstände, 2500 km im Durchmesser, bis zu 200 Metern tief reichend. Sogar rund um den Nordpol hat sich die Müllmenge binnen eines Jahrzehnts vervierfacht. Wellen und Wind zerschlagen und zerreiben die größeren Teile. Von Kruste umhüllt, sinken sie tiefer („Biofouling“). Oder die Meeresströmung spült sie an die Küsten. Erst im Laufe von Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten „nanofragmentieren“ sie, zerfallen in mikroskopisch kleine Bruchstücke; 400 bis tausend Jahre dauert es, ehe sie sich weitestgehend zersetzt haben. Die Teile, in die ein einziger Ein-Liter-Plastikbehälter zerbrechen kann, ergäben aneinandergereiht eine Strecke von 1,6 Kilometern. In jedem Quadratkilometer schwimmen mittlerweile zehntausende Teile Kunststoffmüll; ließe er sich vollständig herausholen, so würde er 38.500 Lastwagen füllen. Bis 2050 wird er sich verzehnfachen, wenn es ungebremst so weitergeht. Fische, Krebse, Muscheln und andere Meeresbewohner fressen die Minipartikel. Landen sie auf unserem Teller, essen wir unweigerlich mit.
Chemikalienaustritte aus Plastikbesteck, Trinkbechern und -behältern, Gefrierbeuteln, Frischhaltefolien, Mikrowellengeschirr, Schüsseln, Dosen, Kanistern und einer Fülle weiterer Gebrauchsgegenstände. Allein 320.000 Einweg-Becher, die innen eine dünne Plastikschicht überzieht, verbrauchen Deutsche pro Stunde.
Wäsche. Rund 36 Milliarden Mal pro Jahr starten in Europa Waschmaschinen. Eine Fleece-Jacke – sinnigerweise oft aus recycelten Plastikflaschen hergestellt - verliert während eines einzigen Waschgangs im Schnitt 1900 Synthetikfasern, wie die Umweltorganisation WWF schätzt; das 2014 ins Leben gerufene EU-gefördete Projekt MERMAIDS Life+ geht sogar von einer Million freigesetzter Mikroplastikteilchen aus, bei einem Acryl-Schal von 300.000, bei Nylon-Socken von 136.000. Schätzungsweise eine Million Tonnen Plastikabrieb geraten so pro Jahr ins Abwasser, von dort in Kläranlagen, Flüsse und Meere.
Auch die Entlüfter von Wäschetrocknern blasen Kunstfasern in die Luft.
Unzählige Mikrofasern lösen sich aus Teppichen und Polstermöbeln – erst recht, wenn wir sie ausklopfen - sowie aus Kleidung, während wir sie tragen.
Farben. Bei den modischen Latex- und Acrylfarben handelt es sich im wesentlichen um flüssiges Plastik, dem Pigmente beigemengt wurden. Beim Auswaschen der Pinsel gerät es in die Kanalisation.
Autoreifen. Annähernd zwei Milliarden werden weltweit pro Jahr produziert. Mehrere zehntausend Tonnen synthetischen Kautschuks bleiben jedes Jahr als Abrieb auf den Straßen liegen. Regen wäscht ihn in Abflüsse und Bäche, die leichtesten Partikel wirbeln in die Luft.
Reinigungsmittel, sei es für die Säuberung von Maschinen oder für die Bodenpflege.
Körperpflegeprodukte. Mikroperlen, die in Zahnpasta und Flüssigseifen, in Duschgels und Shampoos, in Hautpeelings und Gesichtscremes schleifend und scheuernd für mechanischen Abrieb sorgen sollen, spülen wir am Waschbecken, unter der Dusche, in der Badewanne ins Abwasser; über acht Billionen waren es im Jahre 2015 allein in den Vereinigten Staaten. Bei manchen Produkten liegt der Anteil der Plastikkügelchen am Gesamtinhalt nahe zehn Prozent.
Ins Abwasser geraten, wandert Mikroplastik durch die Kanalisation in Kläranlagen, die es bloß teilweise herausfiltern können. Der Rest, nach Expertenschätzungen 10 bis 30 Prozent, verbleibt im Klärschlamm, von dem in Deutschland 40 Prozent auf Felder ausgebracht wird. Von trockenen Böden nimmt der Wind die leichten Fasern auf und verweht sie großflächig, wie auch von luftgetrockneter Wäsche.
Über Atemluft, Trinkwasser und Nahrungsmittel schleicht sich Kleinstkunststoff in unseren Körper. In einer zehnmonatigen Untersuchung auf fünf Kontinenten fanden Wissenschaftler im Auftrag des US-Medienunternehmens Orb Mikroplastikfasern in vier von fünf Proben, die sie Leitungswasser an 159 Orten entnahmen. In Europa waren es 72 %, in den USA sogar 94 %. Entwicklungs- und Schwellenländer sind nicht minder betroffen wie Industriestaaten: von Quito, Ecuador (75 %) und Jakarta, Indonesien (76 %) über Kampala, Uganda (81 %) und New Delhi, Indien (82 %) bis nach Beirut, Libanon (94 %). Der deutsche Forscher Gerd Liebezeit, emeritierter Professor am Institut für Chemie und Biologie des Meeres der Universität Oldenburg, entdeckte Mikroplastik in zahlreichen Lebensmitteln, die er unter die Lupe nahm. Fasern und Fragmente aus Plastik tauchten sogar in 19 Honigproben auf; vermutlich trieb sie der Wind auf Blüten, wo Bienen sie einsammelten. Auch in Deutschlands beliebtesten Biersorten wurden Forscher fündig: Zwischen 42 und 79 Mikropartikel pro Liter mussten sie feststellen. Zwei von drei Shrimps aus der Nordsee sind mit Mikroplastik verseucht.
Die Übeltäter lauern überall
Beinahe schon im Monatsrhythmus verlängert freie Marktwirtschaft ungebremst innovativ die Liste der Übeltäter. Besonders verbreitet sind
Polyvinylchlorid (PVC): Es steckt in Nahrungsmittelverpackungen, Plastikfolien, Kosmetik, Stoßschutz in Kinderbetten, Schnullern, Spielsachen, Bodenfliesen, Duschvorhängen, Sitzbezügen u.a.
Phthalate (DEHP, DINP u.a.): Sie finden sich als Weichmacher in Kleidung, Emulsions- und Druckfarbe, Schuhwerk, Spielzeug, Lebensmittelverpackungen, Blutbeuteln, Atemmasken und anderen medizinischen Geräten.
Polycarbonate, am häufigsten mit Bisphenol A als Bestandteil: Enthalten sind sie unter
anderem in Trinkflaschen; in CDs, DVDs und Blu-ray Discs; in Brillengläsern und
Kontaktlinsen; in der Verglasung von Wintergärten und Gewächshäusern; in Schutzhelmen; in Campinggeschirr; in medizinischen Einmalprodukten.
Polystyrol (PS) mit Styrenen: Es verbirgt sich unter anderem in Lebensmittelbehältern für Wurst, Fisch, Käse, Joghurt; in Verpackungen von Nüssen und Chips; in Trinkbechern,
Geschirr und Besteck; in Spielzeug.
Polyethylen (PE): der weltweit mit Abstand am häufigsten verwendete Kunststoff, in erster Linie für Verpackungen verwendet, etwa für Frischhaltefolien, Tragetaschen, Milchkartonbeschichtungen und Müllsäcke.
Polypropylen (PP): Der am zweithäufigsten eingesetzte Kunststoff wird häufig für
Verpackungen verwendet, aber auch für Armaturen, Kindersitze und Fahrradhelme, für Draht- und Kabelummantelungen, für Rohrleitungen. PP-Fasern stecken in Heim- und Sporttextilien, in Teppichen, in medizinischen und Hygieneprodukten; in Bechern, Flaschenverschlüssen, Gespirrspülern, Warmhaltebehältern, Trinkhalmen und Klebefolien, sogar in Geldscheinen mancher Länder.
Polyethylen-Terephthalat (PET) befindet sich in Getränkeflaschen, Teppichfasern,
Kaugummi, Kaffeemaschinen, Essensbehältern, Plastiktaschen, Spielzeug.
Polyester: Es lauert in Bettzeug, Kleidung, Windeln, Lebensmittelverpackungen, Tampons, Sitzbezügen u.a.
Formaldehyd (Methanal): Es steckt in Anstrichfarben, Span-, Sperrholz- und Dämmplatten; in Bodenbelägen und Möbeln. Darüber hinaus dient es zur Textilveredelung („knitterfrei“); für Farb- und Arzneistoffe; als Konservierungsstoff in Kosmetika; in Impfstoffen zur Inaktivierung von Impfviren oder Bakteriengiften; als Bindemittel; als Zusatz in Desinfektionsmitteln, wie auch in Klebstoffen, Düngemitteln, Gerbstoffen, Giessharzen, Fungiziden.
Polyurethane: Sie finden Verwendung als Schaumstoffe in Kissen, Matratzen, Polstern; für Isolierungen, Wärmedämmung und Flammschutz; in Lacken und Beschichtungen; für
Textilfasern; für Fussbälle und Bowlingkugeln; für Gummistiefel, Kondome, Schuhsohlen
und Stehmatten, in Lederimitaten, in Farbkosmetik-, Sonnenschutz-, Haut- und Haarpflegeprodukten.
Acryl: Es befindet sich in Farben, Lacken und Klebstoffen; im Dentalbereich dient es als
Werkstoff.
Tetrafluoroethylen (TFE): Es versteckt sich in Bügeleisen, Bügelbrettbezügen, Rohr-
leitungen; in Kochtöpfen und Pfannen, als Antihaft-Beschichtung; in Gefässprothesen und anderen Implantaten; in der Zahnmedizin als Barrieremembran zum Knochenaufbau; es ummantelt Metallsaiten für Gitarren und andere Musikinstrumente; es innenbeschichtet Ventile, Rohrleitungen und Behälter.
Polyamide (PA) wie Nylon und Perlon: Sie werden überwiegend für Textilien verwendet,
aber auch für Fallschirme, Ballons, Segel, Seile, Angelschnüre, zur Bespannung von
Tennisschlägern, für Saiten von Streich- und Zupfinstrumenten; für Dübel, Schrauben,
Gehäuse, Isolatoren, Kabelbinder; für Kellen, Löffel und andere Küchenutensilien; für
Borsten von Zahnbürsten.
Ethylenvinylacetat (EVA): Es verbirgt sich unter anderem in Einschweissfolien, Dusch-
vorhängen, Fussbodenbelägen, Elektrokabeln, Klebstoffen, Tuft-Teppichen, Schuhsohlen, als Mikropellets in kosmetischen Peelings.
Wie gefährlich für unsere Gesundheit sind diese Substanzen, wenn sie sich als synthetische Winzlinge durch Mund, Nase und Haut in uns einschleichen? Sind die Verunreinigungen am Ende harmlos?
Immer mehr Hinweise auf Gesundheitsgefahren
Die Industrie forscht emsig über Kunststoffe: über Zusammensetzung, Einsatzbereiche und Zweckoptimierung, über Verbraucherbedürfnisse und Marktakzeptanz. Herstellerstudien zu Gesundheitsgefahren hingegen machen sich rar: die veröffentlichten geben Entwarnung, besorgniserregende dürfen, als „Betriebsgeheimnisse“, folgenlos unter Verschluss bleiben. Kunden spielen schließlich nur mit, solange sie sich in Sicherheit wiegen. Behörden wiegeln ab, Regierungen zaudern, unabhängigen Wissenschaftlern fehlt das Geld für die dringend nötige Erforschung von Risiken und Nebenwirkungen.
Die wenigen Ergebnisse jedoch, die bislang vorliegen, sorgen mühelos für Alarmstimmung.
Bei Versuchen mit Miesmuscheln, Austern und Ringelwürmern, mit Ratten, Hasen und Hunden stellten mehrere Forschergruppen fest: Partikel, die kleiner als fünf bis 15 Mikrometer (10 hoch -6 = 0,000001 m) sind, können durch den Verdauungstrakt wandern, die Eingeweide und Magenwände durchdringen, sich in Lymphknoten, das Gehirn und andere Organe einnisten. Das Material reichert sich im Zellgewebe an, wo es den Stoffwechsel verändert und Entzündungen hervorruft.
Bei kleinen Fischen, die über Wasser und Nahrung den Tüten- und Folienkunststoff Polyethylen aufnahmen, stellte eine Forschergruppe der University of California in Davis schon nach acht Wochen erhebliche Leberschäden fest.
Auch bei Fischen, Fröschen, Meeresschnecken und bestimmten Alligatorenarten ergab sich: Phthalate und polychlorierte Biphenyle hemmen männliche Geschlechtshormone, verringern die Testosteronproduktion, beeinträchtigen die Hodenfunktionen, führen zu genitalen Missbildungen.
Französische und belgische Biologen verglichen Austern, die in sauberem Wasser lebten, mit Artgenossen, deren Umgebung mit Mikroplastikteilchen verseucht war. Bereits in den ersten Wochen des Experiments hatten letztere knapp 20 Prozent weniger Nachwuchs. Nach zwei Monaten war das Minus auf rund 40 Prozent angewachsen, die Anzahl der Eizellen um 38 Prozent gesunken, ihr Durchmesser um 5 Prozent; die Spermien bewegten sich um 23 Prozent langsamer. Es entwickelten sich 41 Prozent weniger Larven.
Von ähnlich besorgniserregenden Beobachtungen berichten Meeresbiologen des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) in Bremerhaven, nachdem sie Muscheln in Aquarien mit winzigen Polyethylen-Teilchen fütterten: „Bereits innerhalb von zwölf Stunden reichern sich diese Partikelchen im Magen auch in den Leberepithelien an, wie auch in einem vakuoligen Apparat in der Zelle, den wir ‚Mülleimer‘ nennen; von da aus werden sie wieder rausgeschmissen ins umgebende Körpergewebe“, wo sie „ganz extreme Entzündungsreaktionen auslösen. Es bilden sich bindegewebige Kapseln, um diese Fremdkörper einzuschließen.“ Diese pathologischen Vorgänge „erinnern uns sehr an das, womit im Menschen eine Asbestose anfängt“ - eine unheilbare, durch Asbestfasern ausgelöste Krankheit, die zumeist tödlich endet.
Dass sich Menschen ahnungslos Mikroplastik einverleiben, wenn sie belastetes Fleisch essen, steht außer Frage. Die Menge kann stattlich sein, wie die Biologin Liesbeth van Cauwenberghe von der Universität Gent vorrechnet: „Wenn man zwölf Austern isst, dann nimmt man etwa hundert Mikroplastikpartikel auf; dasselbe gilt für 250 Gramm Muschelfleisch. Das scheint nicht sehr viel. Aber wenn man sich anschaut, was Europäer im Jahr an Schalentieren essen, dann schätzen wir, dass ein Topkonsument, der sehr viele Schalentiere isst, etwa 11.000 Mikroplastikpartikel pro Jahr aufnimmt. Das ist schockierend."
Macht es auch krank?
Weil sämtliche bisherigen Studien zur Bioverträglichkeit von Mikroplastik nur wenige
Wochen dauerten, fehlen solide wissenschaftliche Erkenntnisse über langfristige gesundheitliche Folgen seines Verzehrs – bei Tieren, und erst recht beim Menschen. Immerhin häuften sich im vergangenen Jahrzehnt Beobachtungen von besorgniserregenden Zusammenhängen. Im September 2008 sorgten Mediziner der Universität Exeter für Aufsehen, als sie eine Studie an einem repräsentativen Querschnitt der US-Bevölkerung veröffentlichten, bestehend aus 1455 Erwachsenen zwischen 18 und 74 Jahren. Anhand der Blut- und Urinproben stellte sich heraus: Die 25 Prozent mit dem höchsten Anteil von Bisphenol A im Körper trugen ein doppelt so hohes Risiko für Herzleiden und Diabetes wie die 25 Prozent mit der niedrigsten BPA-Belastung.
Ein australisches Forscherteam von der Universität Adelaide entdeckte Phthalate in 99,6 Prozent aller Urinproben, die sie von 1500 Männern über 35 Jahren genommen hatten. Mit höheren Plastikkonzentrationen stieg die Wahrscheinlichkeit von Koronarerkrankungen, Diabetes Typ 2 und Bluthochdruck.
Wie vorangegangene Studien ergeben hatten, treten hohe Phthalatspiegel vornehmlich bei Menschen auf, die besonders oft plastikverpackte und industriell verarbeitete Lebensmittel zu sich nehmen.
Immer länger wird die Liste von Gesundheitsrisiken, die Mediziner mit Plastik in Verbindung bringen:
Polyvinylchlorid (PVC): Krebs, Geburtsschäden, genetische Veränderungen, chronische Bronchitis, Geschwüre, Hautkrankheiten, Taubheit, Sehstörungen, Verdauungsstörungen, Funktionsstörungen der Leber.
Phthalate: Hormonstörungen, Asthma, Entwicklungs- und Fortpflanzungsstörungen, Krebs, Geburtsschäden, Endometriose, Beeinträchtigungen des Immunsystems.
Polycarbonat mit Bisphenol A: Krebs, Immunschwäche, vorzeitige Pubertät, Fettleibigkeit, Diabetes, Hyperaktivität.
Styrene: Reizung von Augen, Nase und Hals, Benommenheit, Bewusstlosigkeit, Nieren-, Magen- und Leberschäden, Veränderungen der roten Blutkörperchen, Lyphome, Leukämie.
Polyethylen: Krebs.
Polyester: Reizung von Augen und Atemtrakt, Hautausschlag.
Formaldehyd: Krebs, Geburtsschäden, genetische Veränderungen, Atemnot, Kopfschmerzen, Hautleiden, Müdigkeit.
Polyurethan: Bronchitis, Haut-, Augen- und Lungenprobleme.
Acryl: Atembeschwerden, Übelkeit mit Erbrechen, Durchfall, Kopfschmerzen, Erschöpfung.
Tetrafluoroethylen: Reizungen von Auge, Nase und Hals, Atembeschwerden.
Experimentelle Forschungen am Menschen stehen bislang völlig aus – aber wie sollten sie denn aussehen? Wollen wir Probanden zu Testzwecken mutmasslich toxische Substanzen einflößen, um dann interessiert zu beobachten, wie sie unheilbar erkranken? Untersuchen lässt sich eine Plastikbelastung lediglich im nachhinein. Selbst wenn sich dann zeigt, dass sie mit bestimmten Gesundheitsproblemen einhergeht – ein ursächlicher Zusammenhang lässt sich damit nie beweisen. Stets wiegeln Skeptiker ab, verweisen auf mögliche andere krankmachende Faktoren.
Zu den routinierten Verharmlosern zählt, ausgerechnet, die Bundesanstalt für Risiko-
bewertung (BfR) – dieselbe staatliche Einrichtung, die sich kürzlich dabei ertappen ließ, aus einem Unbedenklichkeitsgutachten des Glyphosat-Herstellers Monsanto abzuschreiben. „Nach jetzigem Kenntnisstand ist ein gesundheitliches Risiko für Verbraucher unwahrscheinlich“, beschwichtigt sie in einer Stellungnahme von 2014, die bis heute unaktualisiert geblieben ist. Noch sei es zu früh, um irgendwelche Einschätzungen über die mögliche Gesundheitsgefährdung durch Mikroplastik abzugeben, erklärt sie – eine verquere Form der Verniedlichung. Solange kein Geld in Forschung fließt, kann es auch keine Forschungsergebnisse geben, die eine fundierte Risikoabschätzung erlauben.
Klar scheint immerhin: Die meisten Kunststoffe wirken auch im menschlichen Körper als
„endokrine Disruptoren“ - sie stören den Hormonhaushalt, weil ihre Struktur das Östrogen nachahmt. Phthalate und Polyethylen fördern höchstwahrscheinlich hormonbedingte Tumorerkrankungen wie Brust-, Prostata- und Hodenkrebs, Fettleibigkeit und Diabetes Typ 2, verminderte Spermienqualität, Endometriose, vorzeitige Pubertät und Fehlbildungen der Fortpflanzungsorgane, wie neuerdings sogar die US-Umweltschutzbehörde EPA einräumt. Das in Polystyrol enthaltene Styren gilt als krebserregend.
Plastikflaschen als Massenvergifter
Zu den tückischsten Plastikgiftquellen zählen Getränkebehälter. Drei von vier Mineral-
wasserflaschen, die wir den Herstellern abkaufen, bestehen nicht mehr aus Glas, sondern bequemerweise aus Plastik, vornehmlich PET. Wie praktisch, wie bequem, es erleichtert uns das Herumtragen, erst recht das Wegwerfen. Aus den Plastikhüllen lösen sich jedoch hochgiftige Chemikalien, insbesondere Bisphenol A, neben Acetaldehyden, Weichmachern wie DEHP, das strukturähnliche DEHF (Diethyhexylfumarat) und Phthalate. Dieses „Auslaugen“ ist zeit- und wärmeabhängig: Je länger sich eine Flüssigkeit in der Kunststoffverpackung befindet, desto mehr geht in sie über. Die austretende Giftmenge steigt mit der Temperatur. Je wärmer sie werden, je länger Lebensmittel Kontakt mit ihnen haben, desto mehr Kunststoffbestandteile gehen darauf über. Wer einmal bei Sommerhitze eine Plastikwasserflasche im Auto liegen ließ und anschließend daraus trank, der weiß: Diese Flüssigkeit schmeckt seltsam chemisch. Dafür sorgen Acetaldehyde, die der Kunststoff freigesetzt hat.
Wer damit unbedarft seinen Durst löscht, ignoriert den Forschungsstand. In neun von zehn Urinproben, die 190 Männer mit Fruchtbarkeitsproblemen ablieferten, fand sich BPA; bei jenen, die besonders hohe BPA-Konzentrationen aufwiesen, ließen sich unter anderem eine um 23 Prozent geringere Samenkonzentration sowie rund 10 Prozent mehr DNA-Schäden feststellen. Besonders auffällig waren Störungen der Sexualfunktion bei Fabrikarbeitern, die Bisphenol A laufend ausgesetzt sind. Neue Studien deuten auf Zusammenhänge zwischen einem erhöhten BPA-Spiegel im Blut und Diabetes, Herz-Kreislaufproblemen, fehlender Libido, Fettleibigkeit hin. Darüber hinaus fanden Mediziner Zusammenhänge zwischen einer frühzeitigen Bisphenol-A-Exposition und Ängsten, Depressionen sowie ADHS bei Jugendlichen. Auch an Funktionsstörungen der Schilddrüse, an Hashimoto-Thyreoditis und anderen Autoimmunerkrankungen, an Demenz und Alzheimer, an Fehlgeburten und Brustkrebs könnte BPA beteiligt sein. Ferner steht es im Verdacht, die Bildung von Zahnschmelz zu stören („Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation“, MIH). Es beeinträchtigt die Funktion von Proteinen, die entscheidend für Wachstumsprozesse in Zellen sind, und fördert so eine Tumor-
entwicklung. Zudem entfaltet Bisphenol A hormonähnliche Wirkungen: Bei Versuchstieren stört es die Sexual- und Hirnentwicklung. Männliche Mäuse gingen nach Bisphenol-A-Gaben zu weiblichen Verhaltensweisen über, woraufhin Artgenossinnen sie mieden.
Viele Verbraucher lassen sich von der Werbung für „Bispenol-A-freie“ Kunststoffflaschen
beeindrucken. In dem neuartigen Ersatzmaterial Tritan fand ein amerikanisches Forscherteam allerdings ebenfalls östrogenartige Substanzen. Welche weiteren langfristigen Wirkungen von ihnen ausgehen, weiß bisher niemand.
„Tickende Zeitbombe“
Giftig sind nicht bloß die Mikroplastikteilchen selbst, sondern auch die im Wasser
schwebenden Schadstoffe, die an sie andocken: darunter Spuren von Brandschutzmitteln, Pestiziden aus der Landwirtschaft, Abrieb von bioziden Anstrichen, Medikamentenrückstände, organische Chlorverbindungen, Schwermetalle wie Blei, Cadmium, Chrom, Arsen, Zink, Quecksilber und Nickel. Auch vielerlei Mikroorganismen besiedeln die Kunststoffoberfläche. Darunter fand der Mikrobiologe Gunnar Gerdts vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) etliche Krankheitserreger – etwa das Bakterium Vibrio parahaemolyticus, das Magen-Darm-Entzündungen und Brechdurchfall auslösen kann. „Wer weiss“, sagt er, „vielleicht wird das massenweise im Meer vorhandene Mikroplastik künftig zur Verbreitung von Krankheiten beitragen.“ Geraten Kunststoffpartikel in unseren Organismus, haben sie solche blinden Passagiere häufig im Gepäck. Viele stehen im Verdacht, ihrerseits krebserregend oder hormonell wirksam zu sein.
Die Fähigkeit der Mikropartikel, andere Stoffe zu binden, machen sich Pharmahersteller
zunutze, um Arzneimittel zeitverzögert im Körper freizusetzen. Die Plastikteilchen, so versichern sie, würden anschließend wieder ausgeschieden. Woher wissen sie das?
Kurzum, Mikroplastik ist „eine tickende Zeitbombe", warnt Rolf Buschmann vom Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND). „Im schlimmsten Fall müssen wir einige hundert Jahre mit diesem Zeugs leben“, schwant dem Oldenburger Biochemiker Gerd Liebezeit.
Dementieren, verharmlosen, hinhalten
Freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie, auf welche die Bundesregierung wie schon im Diesel-Skandal blauäugig setzt, sprechen dem Ernst der Lage Hohn. Soll es einer Müllschleuder überlassen bleiben, nach eigenem Gutdünken darüber zu entscheiden, ob sie weitermachen darf? Zumal einer, die so tut, als gäbe es kein Problem? „Nach eingehender Überprüfung der Sachlage“, so stellt sich etwa der Spitzenverband der Lebenswirtschaft (BLL) blind und taub, „ist für uns ein kausaler Zusammenhang zwischen potentiellen Mikropartikeln in einzelnen Lebensmitteln und durch Kosmetika oder Textilien freigesetzte Kunststoffpartikel jedoch nicht ersichtlich. Es ist auszuschließen, dass Partikel aus Gewässern und Meeren ins Grundwasser und folglich über das Trinkwasser in die Lebensmittelverarbeitung bzw. Nahrungskette gelangen.“ Notfalls lancieren sie, wie der Deutsche Brauer-Bund, flugs gekaufte Gegengutachten, die „beweisen“, dass ihr Produkt unbedenklich sei – ohne offenzulegen, welche Untersuchungsmethoden dabei zum Einsatz kamen.
Beim Dementieren, Verharmlosen, Hinhalten helfen Bundesregierung, Ministerien und
Kontrollbehörden skandalöserweise mit. Auf die Orb-Media-Studie angesprochen, wiegelte das Umweltbundesamt ab: Die Befunde seien „nicht besorgniserregend“, ein paar Plastikteilchen pro Liter „sehr wenig – das sagt nichts aus, das ist Grundrauschen“. Eine Gesundheitsgefahr sei „sehr unwahrscheinlich“. Wie kann eine Gesundheitsschutzbehörde die Konzentration einer einzelnen Substanzgruppe isoliert betrachten? Kleinste Mengen unterschiedlichster Herkunft können sich gewaltig summieren – ganz zu schweigen von ihren unerforschten Wechselwirkungen untereinander.
Auf eine Anfrage der „Grünen“ zu Mikroplastik in Kosmetika hin verwies die
Bundesregierung Ende 2016 lapidar auf die Kennzeichnungspflicht für Inhaltsstoffe auf der Verpackung – so als wüsste der durchschnittliche Verbraucher mit der chemischen Nomenklatur dort etwas anzufangen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Über das „Verbraucherwissen bezüglich des Einsatzes und der Auswirkungen von Mikroplastik“ liegen der Bundesregierung indes „keine Erkenntnisse vor“. Sowohl das Bundesumweltministerium als auch das Bundesministerium für Ernährung erklärten auf eine Journalistenanfrage, für das Problem von Mikroplastik in Brauwasser nicht zuständig zu sein – und verwiesen jeweils auf das andere Ressort.
Massenhafter Protest und Konsumverzicht, von geschäftsschädigendem Medienecho
begleitet, beeindrucken die Industrie erheblich mehr als noch so viele alarmierende Studien – denn sie bedrohen ihren Profit unmittelbar. Mitunter denken sie dann verblüffend zügig um: Firmen wie Unilever, Body Shop, Johnson & Johnson, Procter & Gamble kündigten schon 2013 an, Plastik „in naher Zukunft“ aus ihren Produkten vollständig zu verbannen. Der Hersteller AOK ersetzte Mikroplastik in seinem Peelingprodukt bereits durch Silica, eine Art Sand, wie auch Elmex in seiner Zahncreme. Immerhin.
Trotzdem ist Kontrolle besser als Vertrauen: Schon im Oktober 2015 hatten sich die Mitglieder des Branchenverbands Cosmetics Europe feierlich dazu verpflichtet, Mikroplastik aus ihren Produkten zügig auszuschleichen. Trotzdem fand Öko-Test sie Anfang 2017 in den meisten von 22 untersuchten Körperpeelings. Eine Liste des BUND auf dem Stand vom Juli 2017 zeigt, wie weitverbreitet Kunststoff nach wie vor in Körperpflegemitteln ist. Von gehaltenen Versprechen sei „nicht viel zu merken“, resümierte Codecheck, der größte deutschsprachige Online-Konsumentenratgeber, nachdem er knapp 103.000 Kosmetikprodukte der Jahre 2014 und 2016 vergleichen ließ. In vielen Erzeugnissen hatte der Einsatz von Polyethylenen sogar leicht zugenommen.
Erst Ende 2017, über ein Vierteljahrhundert nach den ersten eindringlichen Warnungen von Wissenschaftlern, bequemte sich das Umweltbundesamt, der EU-Kommission ein europaweites Verbot von Mikroplastik zu empfehlen – kurioserweise beschränkt auf den Einsatz von Festpartikeln in Kosmetika. Keine Rede von allen anderen Einsatzgebieten, von flüssigen, gel- oder wachsartigen Kunststoffen.
Da sind Connecticut und Kalifornien längst weiter. Im Jahr 2015 ordneten beide US-
Bundesstaaten ein radikales Verbot durch, das fragwürdige Ersatzstoffe vorsorglich mit
einschloss.
Und anderswo? Wie meistens, wenn Wirtschaftsinteressen auf dem Spiel stehen, leisten staatliche Stellen hanebüchene Beihilfe, die Beweislast umzudrehen: „Solange nicht zweifelsfrei feststeht, dass ein Produkt gefährlich ist“, so lautet die Devise, „bleibt es auf dem Markt.“ Müsste für Volksvertreter, die lieber ihr Volk schützen als mächtige Konzerne, nicht andersherum gelten: „Solange begründete Zweifel an der Ungefährlichkeit eines Produkts nicht vollständig ausgeräumt sind, hat es in unserer Lebenswelt nichts zu suchen“? Sich berechtigte Bedenken nicht ausreden zu lassen, mag „innovationsfeindlich“ aussehen, ist aber klug und verantwortungsbewusst – bei Kunststoffen nicht weniger als bei Pestiziden, gentechnisch veränderten Lebewesen, Nanomaterialien, Strahlungsquellen und Arzneimitteln.
Der gesetzliche Rahmen, in dem chemische Stoffe bewertet und zugelassen werden, öffnet der Bürger- und Umweltvergiftung weiterhin Tür und Tor. Im Jahre 2007 trat von Lissabon bis Athen REACH in Kraft (Verordnung 1907/2006): die Europäische Chemikalienverordnung, die „ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und die Umwelt sicherstellen“ soll, wie das Umweltbundesamt versichert. Dieser Schutz besteht worin genau? Dank REACH genügt es nicht mehr, dass Hersteller ihre neuen Substanzen bloß registrieren – nein, nunmehr müssen sie auch „Daten vorlegen“ und „Risiken selbst bewerten“. Selbst? In der Tat. Was sie einreichen, prüft die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) in Helsinki lediglich auf formale „Vollständigkeit“. Ordnet die Behörde bestimmte Stoffe aufgrund der vorgelegten Unterlagen ausnahmsweise als „besonders besorgniserregend“ ein – etwa weil sie krebserregend, erbgutverändernd, fortpflanzungsgefährdend sind, sich in Organismen anreichern oder hormonell wirken -, so führt dies nicht etwa zu eigenen Studien und Kontrollen, zu Verboten und öffentlichen Warnungen, sondern lediglich dazu, die Einsatzbereiche zu „beschränken“ und „zeitlich zu befristen“. Da haben Lobbyisten in Brüssel mal wieder ganze Arbeit geleistet.
Was Verbraucher tun können
Wie werden wir Kunststoffbelastungen wieder los? Die Naturheilkunde kennt Ausleitungsverfahren für Schadstoffe aller Art – gegen Plastik scheint auch sie weitgehend machtlos. Ob ein „Anti-Plastik-Tee“ aus Königskerzen- und Olivenblättern, Zitronenmelisse und den Samen des Bockshornklees Abhilfe schafft, wie ein Heilerpaar aus Oberbayern in Aussicht stellt, harrt des Beweises. In Internetforen raten manche Heilpraktiker zu „regelmässigem Saunieren und Schwitzen“, zur Aminosäure Glycin als Kunststoffbinder, zu Fettsäuren mit möglichst hohem Omega-3-Anteil, zu Leber- und Gallenunterstützung, zu Bindemitteln im Darm. Wirksamkeitsstudien darüber stehen aus.
Was ist dem Konsumenten in dieser vertrackten Lage zu raten? Zumindest dem Mikroplastik im Trinkwasser entkommt er weitgehend: Statt kistenweise PET-Flaschen aus dem Supermarkt heimzuschleppen, dreht er besser den häuslichen Wasserhahn auf. Sein Leitungswasser wird weitaus besser kontrolliert als die abgefüllten Durstlöscher der Getränkeindustrie, und billiger ist es allzumal. Will er noch mehr Sicherheit, so legt er sich eine hochwertige Filteranlage zu.
Ansonsten bleibt ihm nur, mit gutem Beispiel voranzugehen: Weniger Fasern verliert
Kleidung, wenn sie kürzer, bei niedrigeren Temperaturen und geringerer Drehzahl gewaschen wird. Für Plastikkosmetika bieten Bio-Supermärkte und Reformhäuser umweltfreundliche Alternativen. Farbpinsel sollten wir in Eimern reinigen, deren Inhalt zu einer Sammelstelle für Sondermüll gehört.
Darüber hinaus kann jeder von uns beim Umwelt- und Selbstschutz ein wenig mithelfen. Machen wir aus unserem Haushalt, so gut es geht, eine plastikfreie Zone. Vermeiden wir aufwändig verpackte Waren, Plastiktüten und Kunststoffbehälter, eingeschweißtes Obst und Gemüse. Bevorzugen wir Mehrwegverpackungen aus Glas. Setzen wir unsere Kinder keinen Schnullern, Spielzeugen, Trinkflaschen, Essensbehältern aus Kunststoff aus. Verzichten wir auf Körperpflege mit Mikroplastik-Kügelchen, greifen wir zu Naturkosmetik; in zertifizierten Bio-Hautreinigern etwa schrubben zerkleinerte Nussschalen, Fruchtkerne, fein zerkleinertes Vulkangestein, Salze, gemahlene Aprikosen- oder Traubenkerne, Mandelkleie, Heilerde oder
Kieselsäure abgestorbene Hautschüppchen vom Körper. Verwenden wir Flüssigwaschmittel statt Pulver, waschen wir möglichst kurz, bei möglichst niedriger Temperatur, mit möglichst wenig Umdrehungen – dann werden nicht so viele Fasern ausgewaschen. Entleeren wir das Flusensieb von Waschmaschine und Trockner niemals in den Abfluss. Verwenden wir keine Putztücher aus Mikrofasern. Bevorzugen wir beim Kleiderkauf Naturfasern wie Baumwolle, Wolle, Seide und Leinen, die sich abbauen können, verzichten wir auf Polyester, Acryl, Nylon, GoreTex und ähnliche Synthetikfasern. Zu Einweg-Rasierern gibt es langlebige Alternativen aus Holz und Metall. Bevorzugen wir Geschäfte, die Produkte unverpackt anbieten. Trennen und sammeln wir unseren Müll sorgfältig. Verlassen wir unsere Wohnung nur noch mit einem Stoffbeutel in der Hand- oder Aktentasche. Trinken wir Coffee to go nur noch aus dem mitgebrachten Glas- oder Keramikbecher. Greifen wir altmodisch zu Omas hölzernen Kochlöffeln und Pfannenwendern. Ersetzen wir Frischhaltefolien, Plastiktütchen und Plastikdosen durch Schraubgläser, Tupperdosen durch Brotboxen aus Edelstahl und Glas. Unterstützen wir Parteien und Initiativen, die das Problem tatkräftig angehen, statt bloß Worte zu machen.
Das Plastik-Zeitalter hat uns zu ahnungslosen Versuchskaninchen eines einmaligen,
unkontrollierten globalen Experiments gemacht: Wieviel halten unser Planet, und insbesondere unser Organismus, durch unentwegte Giftinfusionen in Minidosis aus? „Allein unsere Gleichgültigkeit hat das Plastikproblem erschaffen“, erklärt der bengalische Ökonom Muhammad Yunus, der als Begründer des Mikrokredit-Gedankens im Jahr 2006 den Friedensnobelpreis erhielt. „Was jetzt not tut, ist die feste Entschlossenheit, es zu beseitigen – ehe es uns beseitigt.“
Quellen
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BUND: Mikroplastik – Die unsichtbare Gefahr. Der BUND-Einkaufsratgeber, Berlin 2017,
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Danke für diesen fundierten und erhellenden Beitrag - dass die Situation so schlimm ist, war mir bisher nicht bewusst.