Weil meine Stiftung Auswege auch Geistheiler vermittelt und in ihre Therapiecamps einbezieht, riskiert sie, als „esoterisch“ abgestempelt zu werden. Die üble Nachrede erträgt sie mit Gleichmut – wer sich die Mühe macht, sie näher kennenzulernen, merkt rasch, welch großen Abstand sie zur Esoterikszene hält, programmatisch wie praktisch.
„Esoterik“ ist weithin zum Schimpfwort geworden, fast schon zu einem Synonym für wolkige Schwarmgeisterei, für abstruse Ansichten und Praktiken in kilometerweiter Flughöhe oberhalb jedes wissenschaftlichen Fundaments, für geheimniskrämerische, wichtigtuerische Spinnerei, verbunden mit einem missionarischen Sendungsbewusstsein, das sich umgekehrt proportional zu seiner Rationalität und Kritikfähigkeit verhält, gepaart mit der Arroganz besserwisserischer Auserwählter – und insbesondere auf dem alternativen Gesundheitsmarkt fatal verknüpft mit Quacksalberei und Scharlatanerie, die Gutgläubigen skrupellos das Geld aus der Tasche zieht. Dabei schießen Otto Normalversteher reflexhaft Bilder durch den Kopf, mit denen Zeitungsjournalisten ganz unjournalistisch ihre Pauschalverrisse zu illustrieren pflegen: vorzugsweise Kristallkugeln und Wünschelruten, verbogene Löffel und das „Oui-ja“-Brett von Geisterbeschwörern.
Die Polemik ist ebenso billig wie geschichtsvergessen. Der ursprünglichen Wortbedeutung nach steht „Esoterik“ für Wissen, das nur Eingeweihten, einem begrenzten „inneren“ Personenkreis zugänglich ist (1) (altgriech. esoterikos: „dem inneren Bereich zugehörig“) – und das musste es jahrhundertelang sein. Denn sein Besitz war im christlichen Abendland lebensgefährlich. Es lief Lehrmeinungen zuwider, welche die Kirchen, im Bund mit weltlichen Herrschern, nicht nur mit unerschütterlicher Dogmatik verteidigten, sondern auch mit Folterwerkzeugen, Galgen und Fallbeilen. Wer unvorsichtig genug war, sein Gedankengut nicht konsequent im Verborgenen, „Okkulten“ zu halten, riskierte Leib und Leben, er schwebte in ständiger Gefahr, vom neidischen Bekannten, vom argwöhnischen Nachbarn, vom glaubensfanatischen Angehörigen bei der Inquisition denunziert zu werden. Bloß weil sie Dinge glaubten und wussten, die für häretisch, „nicht rechtgläubig“ befunden wurden, und erstaunliche Dinge konnten, die mutmaßlich einem Bund mit Dämonen oder Satan höchstselbst entsprangen, wurden nach neueren Schätzungen vom 13. Jahrhundert an in Europa drei Millionen „Esoterikern“ der Prozess gemacht – und 40’000 bis 60'000 von ihnen gnadenlos als Ketzer und Hexen auf Scheiterhaufen verbrannt, gesteinigt und gevierteilt, in Flüssen ertränkt, bei lebendigem Leib begraben, gehängt oder auf Guillotinen geköpft, sofern sie nicht in finsteren Verliesen verreckten (2) – in nomine patris et filii et spiritus sancti. Nur Wahnsinnige und Lebensmüde outen sich unter solchen Umständen.
Diese finsteren Zeiten sind gottlob vorbei, weshalb Esoterik im eigentlichen Sinne inzwischen so gut wie ausgestorben ist, spätestens seit in den sechziger Jahren eine „Welle“, die ihren Namen trägt, die westliche Welt erfasst hat. Was weiterhin penetrant so genannt wird, ist ein gigantisches Sammelsurium der unterschiedlichsten Weltanschauungen und Verfahrensweisen außerhalb des akademisch Anerkannten; das Spektrum reicht vom Wahrsagen über Magie, Wiedergeburt, Ufosichtungen und Rutengehen bis hin zu Numerologie, Reiki, Gläserrücken, Astrologie und Aura-Soma-Essenzen. Dieses Kunterbunt verbindet am ehesten der Umstand, dass es längst, ganz und gar unesoterisch, öffentlich zur Schau gestellt wird: auf Messen und Kongressen, in Seminaren und Workshops, in Illustrierten und TV-Sendern, im Anzeigenteil von Printmedien, in Flyern und Broschüren, neuerdings abermillionenfach im Internet. Aus Esoterik ist Exoterik geworden (3): ein jedermann ohne Eingangskontrollen zugänglicher Gemischtwarenladen voller Sachen, Ideen und Praktiken, dessen Werthaltigkeit, je nach Standpunkt, irgendwo zwischen dem von Fäkalien und purem Gold taxiert wird.
Heikler Berührungspunkt
Dass der Stiftung Auswege, und insbesondere ihren Therapiecamps, von Skeptikern „Esoterik“ vorgehalten wird, ertragen wir mit heiterer Gelassenheit. Der Eindruck entsteht in erster Linie durch einen heiklen Berührungspunkt mit Vorlieben der Esoszene: dem Vertrauen auf Geistiges Heilen. Doch dazu stehen wir, aus denselben Gründen, aus denen wir uns gegen die pauschale Verunglimpfung alles „Esoterischen“ wehren:
- Soweit es „Esoterik“ an wissenschaftlicher Absicherung mangelt, hat Geistiges Heilen es nicht länger verdient, in dieser Schublade zu landen. Durch Hunderte kontrollierter Studien, die seit den sechziger Jahren stattfanden – von Medizinern, Psychologen, Biologen, Chemikern, Physikern (4) – ist es mittlerweile empirisch besser abgesichert als so manche schulmedizinisch anerkannte und weithin praktizierte Maßnahme. Gleiches gilt für Phänomene wie Hellsehen, Telepathie, Präkognition und andere Formen von außersinnlicher Wahrnehmung sowie für Psychokinese, nach einem Jahrhundert parapsychologischer Forschung.
- Empirische oder theoretische Defizite und Widersprüche zu anerkannten Lehrmeinungen kennzeichnen jedes neue Wissenschaftsparadigma im Frühstadium. (5) Wer sie deswegen als „esoterisch“ belächelt, hätte dies seinerzeit auch mit der kopernikanischen Astronomie, mit Lavoisiers Sauerstoffchemie, mit Einsteins Relativitätstheorie tun müssen, ehe sie das ptolemäische Weltbild, die Phlogistontheorie bzw. die Newton´sche Physik ablösten. Steckt die Wissenschaftshistorie, und insbesondere die Geschichte der Medizin, nicht voller Indizien dafür, dass es sich bei allem, was man sicher zu wissen meint, immer nur um den aktuellen Stand des Irrtums handelt? Jede neue Erkenntnis wird zunächst ignoriert, dann verspottet, dann bekämpft – und schließlich waren immer schon alle dafür. (6)
- Bei jeder Therapie, ob konventionell oder „alternativ“, sollten drei Aspekte auseinandergehalten werden: 1. der Evidenzwert, d.h. die Qualität der empirischen Daten, auf die sie sich gestützt; 2. der Erklärungs- und Prognosewert ihrer zugrundeliegenden Theorie; 3. ihr Nutzwert für Patienten. Wenn wir Geistiges Heilen in unsere Camps einbezogen werden, so aus letzterem Grund. Um festzustellen, dass Behandlungsweisen wie Handauflegen, Gebets- und Fernheilen, Aura- und Chakratherapie Symptome günstig beeinflussen, müssen wir uns keineswegs vorgängig Glaubensinhalte wie feinstoffliche Zweitkörper und göttliche Energien zu eigen machen. In unsere Campteams beziehen wir Heiler nicht aus religiöser Neigung ein, sondern aus pragmatischen Erwägungen, geleitet von einem vorurteilsfreien Blick auf erzielte Ergebnisse.
- Dass Hilfesuchende vor der esoterischen Heilerszene mittlerweile eher gewarnt und in Schutz genommen werden müssen, muss uns niemand erst noch vor Augen führen; in unseren Schriften (7), im Internet, bei Veranstaltungen, auch während der Camps tun wir es selbst mit Nachdruck. Mit der Esoterikwelle hat sich die Zahl sogenannter "Geistheiler" in der westlichen Welt vervielfacht. Damit einher ging allerdings ein bestürzender Qualitätsverfall. Inzwischen überwiegen aufrichtig bemühte Dilettanten: unerfahrene, mäßig begabte, sich selbst überschätzende Möchtegerns, die mit überzogenen Erfolgsversprechen, wolkiger Esoterik, fragwürdigen Diplomen und dubiosen Titeln ("Meister", "zugelassen", "anerkannt", "geprüft", "zertifiziert") wettzumachen versuchen, was ihnen an therapeutischer Befähigung fehlt - im Bund mit mehreren Heilerverbänden und den meisten Heilerschulen, denen Eigeninteressen vor Patientenwohl gehen. Solche Heiler bringen ihre Behandlungsweise in Misskredit; sie ziehen den Ruf der wenigen Könner in Mitleidenschaft; sie enttäuschen und gefährden unzählige Kranke, die bei ihnen arglos Hilfe suchen. Und letztlich verspielen sie die Zukunft Geistigen Heilens: Denn Menschen, die einmal an sie geraten sind - seien es Patienten oder auch kooperationswillige Ärzte, Therapeuten und Seelsorger - werden es kein zweites Mal mehr tun und sich frustriert abwenden. Deshalb entstand 2005, parallel zur Stiftung Auswege und ihre Vermittlungstätigkeit unterstützend, die Internationale Vermittlungsstelle für herausragende Heilkundige (IVH) (8): als längst überfällige Einrichtung zum Verbraucherschutz vor Nichts- und Wenigkönnern, vor Etikettenschwindlern, Geschäftemachern, unheilen Pseudo-„Heilern“ und esoterischen Nebelwerfern.
Die zwölf Irrtümer von Esoterikern
Im übrigen brauchen weder Hilfesuchende noch Helfer irgendwelche esoterischen Glaubensbekenntnisse zu teilen, um an unseren Therapiecamps teilzunehmen (auch wenn manche sie mitbringen) - andernfalls würden Verlauf und Ergebnisse eher gefährdet als gefördert. Denn die esoterische Subkultur krankt, bislang therapieresistent, an zwölf grundlegenden Irrtümern. (9) Jeder entsteht aus einem durchaus nachvollziehbaren Ansinnen, das zu einer abstrusen Zumutung an kritische Rationalität aufgebläht und überdehnt wird – und schlimmstenfalls zur Gefahr für die geistige und seelische Gesundheit werden kann.
Die Geringschätzung von Wissenschaft. Für die Polemik, die ihnen aus akademischen Kreisen entgegengeschlägt – am heftigsten von seiten der als „Skeptiker“ getarnten Skeptizistenfraktion, die vor gehässigen, herabwürdigenden Diffamierungen bis zum gezielten Rufmord nicht zurückschreckt -, revanchieren sich Esoteriker mit herzlicher Verachtung. Ihnen gilt Wissenschaft als destruktiv, oberflächlich, seelenlos, das Wesen ihrer Erkenntnisobjekte verfehlend.
Völlig daneben liegen sie dabei durchaus nicht. Wenn Akademiker „die“ Wissenschaft zum Hort der Rationalität schlechthin verklären, preisen sie tatsächlich ein System der Erkenntnisgewinnung, das aus der neuzeitlichen Physik und benachbarten Naturwissenschaften stammt. Dort hat es sich bewährt, dort liegt seine Domäne. Dass es auf alle übrigen Forschungsbereiche ausgedehnt werden muss, versteht sich keineswegs von selbst. Nicht nur Ahnungslose mit Bildungsdefiziten, auch viele Geistes- und Sozialwissenschaftler sträuben sich mit klugen Argumenten dagegen, Menschen mit grundsätzlich denselben Methoden zu ergründen wie einen Pflanzensamen oder ein Metall, ein Gestein oder eine chemische Substanz. Von dieser Form von geistigem Imperialismus rühren womöglich die Grenzen her, an welche die westliche Medizin gerade bei chronischen Erkrankungen stößt: vom Ausblenden aller Aspekte, die sich einem rein physikalischen Zugang entziehen.
Andererseits verkennen Esoteriker einen Wesenszug von Wissenschaft: Es handelt sich um ein weithin bewährtes Vorgehen, systematisch und intersubjektiv überprüfbar Erkenntnisse zu sammeln – nach Regeln, die helfen, fragliche Sachverhalte zu klären; Tatsachen zu dokumentieren und von Täuschungen zu unterscheiden; Meinungsverschiedenheiten zu klären; herauszufinden, warum etwas geschieht, vor sich geht, besteht; Voraussagen zu treffen - mit der technischen Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse als Nagelprobe auf ihre Stichhaltigkeit. Wer eine wissenschaftliche Vorgehensweise in Bausch und Bogen verdammt, verabschiedet sich mit Sternzeichen Vage, Aszendent Großer Nebel von rationalem Diskurs, in eine entgeistigte Parallelwelt, in der abwägendes Argumentieren und kritisches Hinterfragen unerwünscht und ungefähr so aussichtsreich sind wie das Projekt, eine Wolke an die Wand zu nageln. Wer sich dorthingezogen fühlt, wird anfällig für autoritäre Ideologien. Am Horizont dämmert eine Diktatur von unantastbar Erleuchteten.
Die Privatisierung vermeintlicher Gewissheit. Esoterik stiftet dazu an, allgemein anerkannte Erkenntniswege, wie unser Bildungssystem sie uns vermittelt hat, bedenkenlos zu verlassen. Induktives Schließen aus Erfahrungen, logisches Schlussfolgern, rationales Begründen von Behauptungen fallen in den Herrschaftsbereich des Verstandes und unterliegen seinen Beschränkungen, so heißt es. Wahres Wissen erschließe sich vielmehr in einem privaten Erkenntnisakt: sei es durch Meditation, eine Initiation (Erleuchtung) oder durch Offenbarung aus „höheren“, medial zu erschließenden Quellen.
Auf fruchtbaren Boden fallen solche Lehren bei Menschen, die nachvollziehbar bedrückt, dass die Vergötterung der Wissenschaft, ihre Überhöhung zum alleinigen Erkenntnisproduzenten, unsere Gesellschaft mehr und mehr in eine Expertokratie verwandelt, in der die Einschätzungen einer akademischen Elite den Ausschlag dafür geben können, dass sich Institutionen über sozialen Konsens und persönliches Gutdünken hinwegsetzen. Immer größere Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens, über die früher die Beteiligten selbst entschieden, werden mittlerweile von Sachverständigenmeinungen beeinflusst: wie Kinder zu erziehen sind, unter welchen Umständen sie ihren Eltern weggenommen werden dürfen, wann ein Täter schuldfähig ist, worin guter Sex besteht, wo die Grenze zwischen Normalität und Erkrankung überschritten ist usw. Je stärker das ungute Gefühl ist, dabei übergangen und entmündigt zu werden, desto attraktiver erscheint die Aussicht, sich neue, noch höhere Erkenntnisquellen zu erschließen, in die kein Experte mehr hineinreden kann. Denn wissenschaftlicher Krittelei sind sie von vornherein entzogen.
Andererseits: Am Ende jedes Erkenntnisprozesses, gleichgültig aus welchen Quellen dabei geschöpft wurde, steht eine Behauptung. Wie erweist sie sich im Zweifelsfall als wahr oder irrig? Wer sie rationalem Argumentieren entzieht, vereitelt jegliche Auseinandersetzung damit. Er macht sie unantastbar, eine Widerlegung ist ausgeschlossen. Nicht weiter schlimm wäre das in einer Welt, deren Bewohner nicht nur allesamt bereits esoterisch bekehrt, sondern auch auf esoterischem Weg zu exakt denselben Einsichten gelangt sind. Dann erübrigt sich die Forderung nach intersubjektiver Überprüfbarkeit, weil eh schon alle einer Meinung sind. Das heillose Durcheinander von Überzeugungen in Geschichte und Gegenwart der esoterischen Subkultur, erst recht die Kluft zwischen ihnen und dem, was Common Sense und Wissenschaft für richtig halten, zeigt indes, dass erheblicher Diskussionsbedarf besteht. Denn manche Verblendung erreicht erst in der vermeintlichen “Erleuchtung” ihren Höhepunkt. Allzuoft besteht “spirituelles Erwachen” im Übergang ausgedehnter Areale der Großhirnrinde in die Tiefschlafphase.
Die Geringschätzung des Ego. Beeinflusst von östlichen Weltanschauungen, gilt das Ich in Esoterikerkreisen als etwas, das überwunden werden muss. Für den gläubigen Buddhisten ist Atman, das Selbst, die schwerwiegendste aller Illusionen und Wurzel allen menschlichen Leids, von der man sich auf einem Erkenntnisweg zu befreien hat, an dessen Ende man in Brahman, den ewigen, transzendenten Urgrund eingeht, sich darin auflösend wie ein Tropfen im Ozean. Geistesverwandtes lehren das hinduistische Advaita Vedanta und islamische Sufi-Traditionen.
Wie Außenstehende durchaus einräumen können, rühren einige Grundübel auf diesem Planeten in der Tat von Ich-Problemen her: Sie entstehen, wenn das Ego sich in Egoismus und Egozentrismus zum Nabel seiner Welt macht; alles nur aus der eigenen Perspektive wahrnimmt; selbstsüchtig und selbstverliebt, gierig und rücksichtslos denkt und handelt; immer nur auf den eigenen Vorteil aus ist. Aber als das kognitive Ordnungsprinzip des Menschen, als Kontrollinstanz seiner äußeren und inneren Erfahrungen, als Korrektiv seiner unbewussten Triebe und Neigungen, als Kommandozentrale seines bewussten Handelns ist das Ich unentbehrlich; ohne abgrenzendes Selbst-Bewusstsein würden wir psychotisch.
Die Abwertung des Bewertens. Jegliches Bewerten gilt Esoterikern als schlecht: Vielmehr komme es darauf an, alles im Leben so anzunehmen, wie es ist.
Auf breite Zustimmung dürften sie stoßen, wenn sie damit auf das Abwerten abzielen: das Fällen negativer Urteile ohne ausreichendes Vorwissen. Das Bewerten an sich hingegen ist ein notwendiger Bestandteil unseres Daseins, keineswegs beschränkt auf Worte und Gedanken. Es geschieht, wann immer wir wählen und entscheiden – ob es sich dabei um ein Nahrungsmittel handelt oder um ein Kleidungsstück, eine Lektüre, einen Einrichtungsgegenstand, einen Partner, eine Ausbildung, eine Arbeit, einen Standpunkt, eine Äußerung, eine Geste, eine Wegstrecke. Jeder unserer Handlungen gehen, zumeist unbewusst, negative Urteile voraus, die mögliche Alternativen aussortieren. Ein Mensch, der sich konsequent jeglichen Bewertens enthielte, würde nicht nur apathisch, sondern in absurdem Selbstwiderspruch vor sich hindämmern - verleitet von einer Negativbewertung des Bewertens. Zudem: Wie kann einer, der nicht bewerten will, das Bewerten abwerten?
Die Romantisierung des Herzens. Den angeblich „zersetzenden“, unsere wahren Bedürfnisse verleugnenden Verstand verabscheuend, huldigen Esoteriker geradezu überschwänglich der Macht von Gefühl und Intuition. Nur wer „auf sein Herz hört“, lebe „von seiner Mitte aus“, heißt es. Insofern knüpft die Esoterikszene an die deutsche Romantik des 18. Jahrhunderts an, die als Gegenbewegung zu den Ansprüchen rationaler Aufklärung entstand.
Richtig ist: Eines der zuverlässigsten Rezepte zum Unglücklichsein besteht darin, „verkopft“ zu leben, unter dem Diktat logisch-analytischen Denkens, gegen innere Widerstände, vorbei an dem, wonach man sich im Grunde sehnt, was einem gut täte. Auch sind Herzenswärme und Herzensgüte feine, wenngleich kardiologisch unverdächtige Charakterzüge. Und mitunter helfen Emotionen und Eingebungen tatsächlich eher als noch so komplexe Grübeleien, die richtigen Entscheidungen zu treffen; denn für ein logisches Abwägen aller möglichen Optionen sind die meisten Situationen viel zu komplex; Intuition hingegen kann, unterhalb der Bewusstseinsschwelle, sekundenschnell integrieren und auswerten, was man wahrnimmt und weiß.
Wer allerdings meint, ohne kritisch durchleuchtenden, kühl abwägenden, sorgfältig planenden Verstand durchs Leben zu kommen, den wird es schmerzlich bestrafen.
Ein metaphysischer Idealismus. Esoteriker wähnen das Universum durchdrungen von einem geistigen Prinzip – sei es Gott oder ein unpersönliches Etwas -, das alles weise und liebevoll zu unserem Besten lenkt: beispielsweise nach den „Gesetzen“ der gegenseitigen Anziehung von Gleichem (Resonanz) und der ausgleichenden Gerechtigkeit (Karma).
Von den Naturgesetzen unserer empirischen Wissenschaften unterscheiden sich diese mutmaßlichen Prinzipien in einer gravierenden Hinsicht: Unter keinen Umständen können sie an der Erfahrung scheitern – immer lassen sich Hilfshypothesen zurechtkonstruieren, mit denen sie rhetorisch zu verteidigen sind. Und in eben dieser Nichtfalsifizierbarkeit besteht ein Hauptmerkmal von ideologischen Leerformeln. (10)
Ein teleologisches Weltbild. Nichts geschehe zufällig, versichern Esoteriker – alles und jegliches habe einen tieferen Sinn, es folge einem höheren Zweck, den es zu entdecken gilt.
Die Überschätzung des Geistigen. In die grenzenlose Macht des menschlichen Geistes setzen Esoteriker ein ebenso grenzenloses Vertrauen. Mit ihm Berge zu versetzen, sei nur eine Frage des richtigen Bewusstseins, heißt es.
Was Geistheiler bisweilen zustande bringen, scheint diese These eindrucksvoll zu bestätigen. Doch selbst die erfahrensten, fähigsten Heiler stoßen an Grenzen, in unseren Therapiecamps ebenso wie in ihrem Praxisalltag. Und solange noch niemand einen Berg mental beiseite geschoben hat, tun Bauunternehmer gut daran, auf Bulldozer und Sprengladungen zu setzen.
Ein radikaler Konstruktivismus. Eine „objektive“ Realität gibt es nicht, meinen Esoteriker. Was wir dafür halten, sei ein bloßes Produkt unserer subjektiven Wahrnehmungen, Empfindungen, Überzeugungen und Gedanken. Das hat relativistische Folgen: Es gibt nur persönliche Sichtweisen, keine unabhängig davon gültige Wahrheit, an der sie zu messen wären.
In Streitereien zwischen Eheleuten und Nachbarn, bei Gerichtsverhandlungen, in politischen Konflikten zeigt sich immer wieder: Tatsachen können Ansichtssache sein. Wer allerdings behauptet, subjektive Standpunkte verfehlen prinzipiell die wahren Verhältnisse, führt sich selbst ad absurdum: Ob etwas verzerrt wahrgenommen wird, kann nur entscheiden, wer schon unperspektivisch weiß, wie dieses Etwas objektiv beschaffen ist. Und wenn alles relativ ist, dann auch dies.
Die Überhöhung des Positiven Denkens. Weil alles, was ist, aus Sicht eines metaphysischen Idealisten letztlich gut ist, muss unser Denken dem entsprechen, meinen Esoteriker. Gelinge uns das, so sei uns nichts unmöglich - uns winken immerwährendes Glück, Gesundheit und Erfolg im Überfluss. Was immer schiefläuft in unserem Leben: Durch negatives Denken, durch Zweifel, Ängste und Kritik, haben wir es „angezogen“.
Die Aussicht auf Selbsterlösung. Theologen sprechen von „Soteriologie“ (von griech. soteria: Rettung, Erlösung, Heil): einer Lehre vom vollendeten Heil bzw. der Erlösung des Menschen. Eine solche beinhaltet Esoterik: Auch sie verspricht Heil – nicht erst in einem nachtodlichen Jenseits, sondern bereits im Hier und Jetzt. Die frohe Botschaft lautet: Werde Teil der Bewegung, verinnerliche ihr Weltbild, beachte die spirituellen Gesetzmäßigkeiten – dann wirst du vollkommene Erkenntnis und größtmögliches Glück erreichen, die phantastischsten Fähigkeiten erlangen, dich von allem befreien, was dich bedrückt und ängstigt, und zur Entfaltung bringen, was an Großartigem, geradezu Göttlichem in dir steckt.
Die Lebenswege vieler esoterisch Bekehrter, zumal besonders inbrünstiger, wecken indes Zweifel daran, ob es wirklich immer klug, ergiebig und zum eigenen Besten ist, dem Heilsversprechen zu trauen. Und sie zeigen, wie leicht man nach Abkehr von traditionellen Kirchen in den Bannkreis neuer geraten kann: Die Esoterikszene ist geprägt von Gurukult und reichlich Offenbarungsliteratur, deren Wahrheitsanspruch der Heiligen Schrift in nichts nachsteht.
Die Verherrlichung des Einsseins in Liebe. Uralte Mystik und romantische Naturphilosophie leben im Esoterikerglauben auf, letztlich sei „alles eins“, jegliches Getrenntsein eine Täuschung, von der schlimmste Übel herrühren. Nicht von ungefähr kommt auf esoterischen Websites, neben Meister Eckhart und Goethe, die Dichtkunst eines Novalis zu neuen Ehren, der die Natur als großes, lebendiges Ganzes zelebrierte, mit welchem der Mensch im Zuge einer Initiation erkennend verschmelzen kann. Das einigende Band besteht für Esoteriker aus Liebe in ihrer reinsten Form: bedingungslos, allumfassend, immerwährend.
Wenn aus Trennung Ab- und Ausgrenzung, das Anderssein zum Makel, zur Zielscheibe von Vorurteilen, Gleichgültigkeit, Verachtung und Hass zu werden droht, bevorzugen auch Nichtesoteriker gerne das Gefühl von Verbundenheit, Respekt und Wertschätzung sowie solidarisches, das Fremde einbeziehendes Handeln. Aber die mystische Vereinigung hat ihre Grenzen, psychologische ebenso wie logische. Wer alles und jegliches in Liebe umarmt, liebt nicht nur Schnaken, Erdbeben, Adolf Hitler, Ebola-Viren, Landminen, Verkehrsunfälle, Zecken samt ihren Borrelien, Vergewaltigungen, Auschwitz und Hiroshima, sondern auch Dinge, die einander wechselseitig ausschließen – Krieg und Frieden, Krankheit und Gesundheit, Faulheit und Fleiß, Dürre und Fruchtbarkeit, Armut und Reichtum -, womit er den Liebesbegriff jeglichen Gehalts entleert.
Wieso kommt Außenstehenden die universelle Liebe, von der sich Esoteriker beseelt wähnen, häufig unecht, aufgesetzt, ja heuchlerisch und zynisch vor? Wem alles gleich gültig ist, dem wird vieles gleichgültig. Bei vielen, die mit Vorliebe die ganze Welt umarmen, reicht die Spannweite ihrer oberen Extremitäten noch nicht einmal aus, den Allernächsten in Liebe festzuhalten.
Esoterik schließt die Ideologie einer insgeheimen, umfassenden Verbundenheit zwischen uns allen ein, die jegliche raumzeitlichen Grenzen sprengt. Telepathische Brücken, morphische Felder, Aura-Kontakte, Schwingungsresonanzen, karmische Bande, Seelenverwandtschaften, Beziehungen aus früheren Inkarnationen, ein alles durchdringender Geist: All dies verbindet uns angeblich aufs Innigste, wer, wo und wie immer wir sind. Eben hierin liegt ein Schlüssel zur Antwort auf die Frage, woher die überbordende Sozialromantik der Esoterikbewegung rührt – wie sie ausgerechnet Ende des zweiten Jahrtausends und ausgerechnet in der westlichen Welt Furore machen konnte. Sie ist ein romantischer Abwehrreflex auf den schmerzlichen Verlust von sozialer Gemeinschaft, auf die Atomisierung des öffentlichen Raums in Miniparzellen von Egozentrikern, Karrieristen und Narzissten, und kompensiert die alltägliche Erfahrung von Rücksichtslosigkeit, Gefühlskälte, Lieblosigkeit, Ausgrenzung und Vereinzelung. Je isolierter du bist, desto sehnlicher dürstest du nach neuer Wir-Erfahrung, um nicht psychisch vor die Hunde zu gehen. Esoterik bietet hochwillkommene Selbsthilfe gegen Vereinsamung.
Die fünf Verlockungen der Esoterikszene
Wie mehrere Studien belegen, sind überdurchschnittlich Gebildete besonders anfällig dafür, derartigem Gedankengut zu erliegen. Spricht dieser Befund dafür, dass Esoterik intelligent ist – oder eher dafür, dass Intelligenz nicht vor Unfug schützt, sofern er menschliche Grundbedürfnisse befriedigt?
Vor allem fünf Faktoren sind es, die der Esoterikszene Zulauf bescheren: Zu ihr finden in erster Linie
- spirituell Heimatlose, bei denen die christlichen Kirchen an Autorität verloren haben (11);
- Orientierungslose, die sich nach „Reduktion von Komplexität“ in einer immer unübersichtlicheren Welt sehnen;
- von einschneidenden Lebensereignissen Traumatisierte, die durch Verluste, Schicksalsschläge oder schwere Krankheit aus der Bahn geworfen wurden;
- Frustrierte, die nicht länger befriedigt und erfüllt, womit sie allzu lange beschäftigt gewesen waren, sei es in der Arbeitswelt oder in der Familie;
- und Vereinsamte, die sich nach Geborgenheit in einer Subkultur Allesliebender sehnen.
Dass unter Esoterikern nur erbauliche Botschaften Gehör finden, verrät, welche Nöte sie kompensieren müssen. Polemisch zugespitzt: Wenn “alles Karma” ist, dann gewiss auch das Vorhandensein einer Esoterikszene - und der Umstand, dass man ihr angehört. Welche spirituelle Lektion erwächst einem daraus? Drin ist man womöglich, weil man andernfalls seine besonderen Glaubens-, Zugehörigkeits- und Wärmebedürfnisse nicht so exzessiv ausleben könnte; weil Verblendung erst auf die Spitze getrieben werden muss, ehe es dem Heimgesuchten wie Schuppen von den Augen fallen kann. Und vielleicht trägt der esoterische Mitläufer ein in früheren Leben angehäuftes Karma ab, in dem er Anderen der Guru war.
Dass unsere Campteams weitgehend frei von solchen Charakteren sind, ist ein Hauptgrund für den Erfolg ihrer therapeutischen Arbeit.
Anmerkungen
1 Wohl als erster verwendete ihn der griechische Arzt und Philosoph Galen von Pergamon im 2. Jahrhundert vor Christus. Im Sinne von „geheim“ benutzte den Begriff esoterikos erstmals der Kirchenvater Clemens von Alexandria (150-215 n. Chr.).
2 Gerd Schwerhoff: „Vom Alltagsverdacht zur Massenverfolgung. Neuere deutsche Forschungen zum frühneuzeitlichen Hexenwesen“, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46/1995, S. 359–380.
3 Als „exoterisch“ - „nach außen gerichtet“ - bezeichnete Aristoloteles (384-322 v. Chr.) seine vorbereitenden, für Fachfremde und Anfänger bestimmten Kurse.
4 s. dazu die im Anmerkungsteil des Essays „Wie ‚wissenschaftlich’ muss Medizin sein?“ genannten Quellen.
5 Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962; dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. rankfurt am Main 1967, 2. Aufl. 1976.
6 Nach einem Aphorismus des Philosophen Arthur Schopenhauer.
7 s. Harald Wiesendanger: Heilen ‚Heiler’? Ein Wegweiser für Hilfesuchende, Schönbrunn 4. Aufl. 2011
8 s. IVH-Site sowie Heilen ‚Heiler’?, a.a.O., S.84 ff.
9 siehe Harald Wiesendanger: Auf der Suche nach Sinn, Schönbrunn 2005, Kap. „Esoterik – Im Drüben gefischt“, S. 107-138.
10 s. Ernst Topitsch/Kurt Salamun: Ideologie - Herrschaft des Vor-Urteils, München/Wien 1972.
11 Zu den Hintergründen dieser Abkehr s. H. Wiesendanger: Wie Jesus heilen. Geistiges Heilen: ein Akt christlicher Nächstenliebe. Schönbrunn, 4. Aufl. 2008, S. 9 ff.
Dieser Betrag stammt aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015).
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