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Dr. Harald Wiesendanger

Mit Bodenhaftung – Auf Abstand zur Esoterik

Weil meine Stiftung Auswege auch Geistheiler vermittelt und in ihre Therapiecamps einbezieht, riskiert sie, als „esoterisch“ abgestempelt zu werden. Die üble Nachrede erträgt sie mit Gleichmut – wer sich die Mühe macht, sie näher kennenzulernen, merkt rasch, welch großen Abstand sie zur Esoterikszene hält, programmatisch wie praktisch.


„Esoterik“ ist weithin zum Schimpfwort geworden, fast schon zu einem Syno­nym für wolkige Schwarm­geisterei, für abstruse An­sichten und Praktiken in kilometerweiter Flughöhe oberhalb jedes wissenschaftlichen Fundaments, für ge­heimniskrämerische, wichtigtuerische Spinnerei, verbunden mit einem missionarischen Sendungsbewusst­sein, das sich umgekehrt proportional zu seiner Rationalität und Kritik­fähigkeit verhält, gepaart mit der Ar­ro­ganz besserwisserischer Auser­wähl­ter – und insbesondere auf dem alternativen Gesundheitsmarkt fatal verknüpft mit Quacksalberei und Scharlatanerie, die Gutgläubigen skrupellos das Geld aus der Tasche zieht. Dabei schießen Otto Normal­versteher reflexhaft Bilder durch den Kopf, mit denen Zeitungsjournali­sten ganz unjournalistisch ihre Pau­schalverrisse zu illustrieren pflegen: vorzugsweise Kristallkugeln und Wün­schelruten, verbogene Löffel und das „Oui-ja“-Brett von Geister­beschwörern.


Die Polemik ist ebenso billig wie geschichtsvergessen. Der ursprünglichen Wortbedeutung nach steht „Esoterik“ für Wissen, das nur Ein­geweihten, einem begrenzten „inneren“ Personenkreis zugänglich ist (1) (altgriech. esoterikos: „dem inneren Be­reich zugehörig“) – und das muss­te es jahrhundertelang sein. Denn sein Besitz war im christlichen Abend­land lebensgefährlich. Es lief Lehr­meinungen zuwider, welche die Kir­chen, im Bund mit weltlichen Herr­schern, nicht nur mit unerschütterli­cher Dogmatik verteidigten, sondern auch mit Folterwerkzeugen, Galgen und Fallbeilen. Wer unvorsichtig genug war, sein Gedankengut nicht konsequent im Ver­bor­genen, „Ok­kul­ten“ zu hal­ten, riskierte Leib und Le­ben, er schweb­te in ständiger Ge­fahr, vom nei­di­schen Be­kann­ten, vom argwöhnischen Nachbarn, vom glaubensfanatischen Angehörigen bei der In­qui­si­tion denunziert zu werden. Bloß weil sie Dinge glaubten und wussten, die für häretisch, „nicht rechtgläubig“ be­funden wurden, und er­staunliche Dinge konnten, die mutmaßlich einem Bund mit Dämo­nen oder Sa­tan höchstselbst ent­spran­gen, wurden nach neueren Schätzungen vom 13. Jahrhundert an in Europa drei Millionen „Esoteri­kern“ der Prozess gemacht – und 40’000 bis 60'000 von ihnen gnadenlos als Ketzer und Hexen auf Schei­ter­haufen verbrannt, gesteinigt und gevierteilt, in Flüssen ertränkt, bei lebendigem Leib begraben, gehängt oder auf Guillotinen geköpft, sofern sie nicht in finsteren Verliesen verreckten (2) – in nomine pat­ris et filii et spiritus sancti. Nur Wahn­sinnige und Lebensmüde outen sich unter solchen Umständen.


Diese finsteren Zeiten sind gottlob vor­bei, weshalb Esoterik im eigentlichen Sinne inzwischen so gut wie ausgestorben ist, spätestens seit in den sechziger Jahren eine „Welle“, die ihren Namen trägt, die westliche Welt erfasst hat. Was weiterhin penetrant so genannt wird, ist ein gigantisches Sammelsurium der unterschiedlichsten Weltanschauungen und Verfahrensweisen außerhalb des akademisch Anerkannten; das Spek­trum reicht vom Wahr­sagen über Magie, Wie­der­geburt, Ufosichtungen und Rutengehen bis hin zu Nume­ro­logie, Reiki, Gläserrücken, Astrolo­gie und Aura-Soma-Essen­zen. Dieses Kun­ter­bunt verbindet am ehesten der Umstand, dass es längst, ganz und gar unesoterisch, öffentlich zur Schau gestellt wird: auf Messen und Kon­gressen, in Seminaren und Work­­shops, in Illu­strierten und TV-Sen­dern, im Anzei­gen­teil von Print­medien, in Flyern und Broschü­ren, neuerdings abermillionenfach im Internet. Aus Eso­terik ist Exoterik geworden (3): ein jedermann ohne Ein­gangskontrollen zugänglicher Ge­mischt­warenladen voller Sachen, Ideen und Praktiken, dessen Wert­hal­tig­keit, je nach Standpunkt, ir­gendwo zwischen dem von Fäka­lien und purem Gold taxiert wird.


Heikler Berührungspunkt


Dass der Stiftung Auswege, und insbesondere ihren Therapiecamps, von Skeptikern „Esoterik“ vorgehalten wird, ertragen wir mit heiterer Gelas­senheit. Der Eindruck entsteht in erster Linie durch einen heiklen Be­rührungspunkt mit Vorlieben der Eso­szene: dem Vertrauen auf Geisti­ges Heilen. Doch dazu stehen wir, aus denselben Gründen, aus denen wir uns gegen die pauschale Verun­glimpfung alles „Esoterischen“ wehren:


- Soweit es „Esoterik“ an wissenschaftlicher Absicherung mangelt, hat Geistiges Heilen es nicht länger verdient, in dieser Schublade zu landen. Durch Hunderte kontrollierter Studien, die seit den sechziger Jahren stattfanden – von Medizinern, Psy­cho­logen, Biologen, Chemikern, Phy­sikern (4) – ist es mittlerweile empirisch besser abgesichert als so manche schulmedizinisch anerkannte und weithin praktizierte Maßnahme. Gleiches gilt für Phänomene wie Hellsehen, Telepathie, Präkognition und andere Formen von außersinnlicher Wahrnehmung sowie für Psy­cho­kinese, nach einem Jahrhundert parapsychologischer Forschung.


- Empirische oder theoretische Defizite und Widersprüche zu anerkannten Lehrmeinungen kennzeichnen jedes neue Wissenschafts­para­digma im Frühstadium. (5) Wer sie deswegen als „esoterisch“ belächelt, hätte dies seinerzeit auch mit der koper­nikanischen Astronomie, mit Lavoisiers Sauerstoffchemie, mit Ein­steins Relativitätstheorie tun müssen, ehe sie das ptolemäische Welt­bild, die Phlogistontheorie bzw. die Newton´sche Physik ablösten. Steckt die Wissenschaftshistorie, und insbesondere die Geschichte der Medizin, nicht voller Indizien dafür, dass es sich bei allem, was man sicher zu wissen meint, immer nur um den aktuellen Stand des Irrtums handelt? Jede neue Erkenntnis wird zunächst ignoriert, dann verspottet, dann bekämpft – und schließlich waren immer schon alle dafür. (6)


- Bei jeder Therapie, ob konventionell oder „alternativ“, sollten drei Aspekte auseinandergehalten werden: 1. der Evidenzwert, d.h. die Qua­­­li­tät der empirischen Daten, auf die sie sich gestützt; 2. der Erklä­rungs- und Prognosewert ihrer zu­grun­deliegenden Theorie; 3. ihr Nutzwert für Patienten. Wenn wir Gei­stiges Heilen in unsere Camps einbezogen werden, so aus letzterem Grund. Um festzustellen, dass Behandlungsweisen wie Hand­auflegen, Gebets- und Fernheilen, Aura- und Chakratherapie Sympto­me günstig beeinflussen, müssen wir uns keineswegs vorgängig Glau­bensinhalte wie feinstoffliche Zweit­körper und göttliche Energien zu eigen machen. In unsere Campteams beziehen wir Heiler nicht aus religiöser Neigung ein, sondern aus pragmatischen Erwägungen, geleitet von einem vorurteilsfreien Blick auf er­ziel­te Ergebnisse.


- Dass Hilfesuchende vor der esoterischen Heilerszene mittlerweile eher gewarnt und in Schutz genommen werden müssen, muss uns niemand erst noch vor Augen führen; in unseren Schriften (7), im Internet, bei Veran­stal­tungen, auch während der Camps tun wir es selbst mit Nach­druck. Mit der Esoterikwelle hat sich die Zahl sogenannter "Geistheiler" in der westlichen Welt vervielfacht. Damit einher ging allerdings ein bestürzender Qualitätsverfall. Inzwi­schen überwiegen aufrichtig bemühte Dilettanten: unerfahrene, mäßig begabte, sich selbst überschätzende Möchtegerns, die mit überzogenen Erfolgsversprechen, wolkiger Esote­rik, fragwürdigen Diplomen und dubiosen Titeln ("Meister", "zugelassen", "anerkannt", "geprüft", "zertifiziert") wettzumachen versuchen, was ihnen an therapeutischer Befähi­gung fehlt - im Bund mit mehreren Heilerverbänden und den meisten Heilerschulen, denen Eigeninteres­sen vor Patientenwohl gehen. Solche Heiler bringen ihre Behandlungs­weise in Misskredit; sie ziehen den Ruf der wenigen Könner in Mit­leidenschaft; sie enttäuschen und ge­fährden unzählige Kranke, die bei ihnen arglos Hilfe suchen. Und letztlich verspielen sie die Zukunft Geistigen Heilens: Denn Menschen, die einmal an sie geraten sind - seien es Patienten oder auch kooperationswillige Ärzte, Therapeuten und Seel­sorger - werden es kein zweites Mal mehr tun und sich frustriert abwenden. Deshalb entstand 2005, parallel zur Stiftung Auswege und ihre Ver­mittlungstätigkeit unterstützend, die Internationale Vermittlungsstelle für herausragende Heilkundige (IVH) (8): als längst überfällige Einrichtung zum Ver­brau­cherschutz vor Nichts- und We­nig­könnern, vor Etikettenschwind­lern, Geschäftemachern, unheilen Pseudo-„Heilern“ und esoterischen Nebelwerfern.


Die zwölf Irrtümer von Esoterikern


Im übrigen brauchen weder Hilfesuchende noch Helfer irgendwelche esoterischen Glaubensbekenntnisse zu teilen, um an unseren Therapie­camps teilzunehmen (auch wenn manche sie mitbringen) - andernfalls würden Verlauf und Ergebnisse eher gefährdet als gefördert. Denn die esoterische Subkultur krankt, bislang therapieresistent, an zwölf grundlegenden Irrtümern. (9) Jeder entsteht aus einem durchaus nachvollziehbaren Ansinnen, das zu einer abstrusen Zumutung an kritische Rationalität aufgebläht und überdehnt wird – und schlimmstenfalls zur Gefahr für die geistige und seelische Gesund­heit werden kann.


Die Geringschätzung von Wissen­schaft. Für die Polemik, die ihnen aus akademischen Kreisen entgegengeschlägt – am heftigsten von seiten der als „Skeptiker“ getarnten Skep­tizistenfraktion, die vor gehässigen, herabwürdigenden Diffamierungen bis zum gezielten Rufmord nicht zurückschreckt -, revanchieren sich Esoteriker mit herzlicher Verach­tung. Ihnen gilt Wissenschaft als destruktiv, oberflächlich, seelenlos, das Wesen ihrer Erkenntnisobjekte verfehlend.


Völlig daneben liegen sie dabei durchaus nicht. Wenn Akademiker „die“ Wissenschaft zum Hort der Rationalität schlechthin verklären, preisen sie tatsächlich ein System der Erkenntnisgewinnung, das aus der neuzeitlichen Physik und benachbarten Naturwissenschaften stammt. Dort hat es sich bewährt, dort liegt seine Domäne. Dass es auf alle übrigen Forschungsbereiche ausgedehnt werden muss, versteht sich keineswegs von selbst. Nicht nur Ah­nungslose mit Bildungsdefiziten, auch viele Geistes- und Sozialwis­sen­schaftler sträuben sich mit klugen Argumenten dagegen, Menschen mit grundsätzlich denselben Methoden zu ergründen wie einen Pflanzen­samen oder ein Metall, ein Gestein oder eine chemische Substanz. Von dieser Form von geistigem Imperia­lismus rühren womöglich die Gren­zen her, an welche die westliche Medi­zin gerade bei chronischen Erkrankungen stößt: vom Ausblen­den aller Aspekte, die sich einem rein physikalischen Zugang entziehen.


Andererseits verkennen Esoteriker einen Wesenszug von Wissenschaft: Es handelt sich um ein weithin be­währtes Vorgehen, systematisch und intersubjektiv überprüfbar Erkennt­nisse zu sammeln – nach Regeln, die helfen, fragliche Sachverhalte zu klären; Tatsachen zu dokumentieren und von Täuschungen zu unterscheiden; Meinungsverschieden­hei­ten zu klären; herauszufinden, wa­rum etwas geschieht, vor sich geht, besteht; Voraussagen zu treffen - mit der technischen Umsetzung der ge­wonnenen Erkenntnisse als Nagel­probe auf ihre Stichhaltigkeit. Wer eine wissenschaftliche Vorgehens­weise in Bausch und Bogen verdammt, verabschiedet sich mit Stern­zeichen Vage, Aszendent Großer Nebel von rationalem Diskurs, in eine entgeistigte Parallelwelt, in der abwägendes Argumentieren und kritisches Hinterfragen unerwünscht und ungefähr so aussichtsreich sind wie das Projekt, eine Wolke an die Wand zu nageln. Wer sich dorthingezogen fühlt, wird anfällig für autoritäre Ideologien. Am Horizont dämmert eine Diktatur von unantastbar Erleuchteten.


Die Privatisierung vermeintlicher Gewissheit. Esoterik stiftet dazu an, allgemein an­erkannte Erkenntniswege, wie unser Bildungssystem sie uns vermittelt hat, bedenkenlos zu verlassen. Induktives Schließen aus Erfah­rungen, logisches Schlussfolgern, rationales Begrün­den von Behauptun­gen fallen in den Herrschaftsbereich des Verstandes und unterliegen seinen Beschränkungen, so heißt es. Wahres Wis­sen erschließe sich vielmehr in einem privaten Erkenntnis­akt: sei es durch Me­di­tation, eine Initia­tion (Erleuchtung) oder durch Offenbarung aus „höheren“, medial zu erschließenden Quel­len.


Auf fruchtbaren Boden fallen solche Lehren bei Menschen, die nachvollziehbar bedrückt, dass die Vergöt­terung der Wissen­schaft, ihre Überhöhung zum alleinigen Erkenntnis­produzenten, unsere Gesellschaft mehr und mehr in eine Expertokratie verwandelt, in der die Einschätzun­gen einer akademischen Elite den Ausschlag dafür geben können, dass sich Institutionen über sozialen Kon­sens und persönliches Gutdünken hinwegsetzen. Immer größere Berei­che des öffentlichen und privaten Lebens, über die früher die Beteilig­ten selbst entschieden, werden mittlerweile von Sachverständigenmei­nun­gen beeinflusst: wie Kinder zu er­ziehen sind, unter welchen Um­stän­den sie ihren Eltern weggenommen werden dürfen, wann ein Täter schuldfähig ist, worin guter Sex be­steht, wo die Grenze zwischen Nor­ma­lität und Erkrankung überschritten ist usw. Je stärker das ungute Gefühl ist, dabei übergangen und ent­mündigt zu werden, desto attraktiver erscheint die Aussicht, sich neue, noch höhere Erkenntnisquellen zu erschließen, in die kein Experte mehr hineinreden kann. Denn wissenschaftlicher Krittelei sind sie von vornherein entzogen.


Andererseits: Am Ende jedes Er­kennt­nisprozesses, gleichgültig aus welchen Quellen dabei geschöpft wurde, steht eine Behauptung. Wie erweist sie sich im Zweifelsfall als wahr oder irrig? Wer sie rationalem Argumentieren entzieht, vereitelt jegliche Auseinandersetzung damit. Er macht sie unantastbar, eine Wider­legung ist ausgeschlossen. Nicht weiter schlimm wäre das in einer Welt, deren Bewohner nicht nur allesamt bereits esoterisch be­kehrt, sondern auch auf esoterischem Weg zu exakt denselben Einsichten gelangt sind. Dann er­übrigt sich die Forderung nach intersubjektiver Überprüfbarkeit, weil eh schon alle einer Mei­nung sind. Das heillose Durchein­ander von Über­zeu­gungen in Ge­schichte und Ge­gen­wart der esoterischen Subkultur, erst recht die Kluft zwischen ihnen und dem, was Com­mon Sense und Wissenschaft für richtig halten, zeigt indes, dass er­heblicher Diskussions­bedarf besteht. Denn manche Verblendung erreicht erst in der ver­meint­lichen “Erleuch­tung” ihren Höhepunkt. Allzuoft besteht “spirituelles Erwachen” im Übergang ausgedehnter Areale der Großhirnrinde in die Tiefschlaf­pha­se.


Die Geringschätzung des Ego. Beeinflusst von östlichen Weltanschauungen, gilt das Ich in Esoterikerkreisen als etwas, das überwunden werden muss. Für den gläubigen Buddhisten ist Atman, das Selbst, die schwerwiegendste aller Il­lu­sionen und Wur­zel allen menschlichen Leids, von der man sich auf einem Erkenntnis­weg zu befreien hat, an dessen En­de man in Brahman, den ewi­gen, transzendenten Ur­grund ein­geht, sich darin auflösend wie ein Tropfen im Ozean. Geistesverwandtes lehren das hinduistische Advaita Ve­dan­ta und islamische Sufi-Traditio­nen.


Wie Außenstehen­de durchaus einräumen können, rüh­­­ren einige Grund­übel auf diesem Planeten in der Tat von Ich-Proble­men her: Sie entstehen, wenn das Ego sich in Egoismus und Ego­zen­tris­mus zum Nabel seiner Welt macht; alles nur aus der eigenen Per­spektive wahrnimmt; selbstsüchtig und selbstverliebt, gierig und rück­sichtslos denkt und handelt; immer nur auf den eigenen Vorteil aus ist. Aber als das kognitive Ordnungs­prin­zip des Men­schen, als Kontroll­instanz seiner äußeren und inneren Er­fahrungen, als Korrektiv seiner un­bewussten Triebe und Neigungen, als Kom­man­­­­do­zentrale seines be­wussten Handelns ist das Ich unentbehrlich; ohne abgrenzendes Selbst-Bewusstsein würden wir psychotisch.


Die Abwertung des Bewertens. Jeg­liches Bewerten gilt Esoterikern als schlecht: Vielmehr komme es darauf an, alles im Leben so anzunehmen, wie es ist.

Auf breite Zustimmung dürften sie stoßen, wenn sie damit auf das Ab­werten abzielen: das Fällen negativer Urteile ohne ausreichendes Vorwis­sen. Das Bewerten an sich hingegen ist ein notwendiger Bestandteil unseres Daseins, keineswegs beschränkt auf Worte und Gedanken. Es ge­schieht, wann immer wir wählen und entscheiden – ob es sich dabei um ein Nahrungsmittel handelt oder um ein Kleidungsstück, eine Lektüre, einen Einrichtungsgegenstand, einen Partner, eine Ausbildung, eine Ar­beit, einen Standpunkt, eine Äußerung, eine Geste, eine Wegstrecke. Jeder unserer Handlungen gehen, zumeist unbewusst, negative Urteile voraus, die mögliche Alternativen aussortieren. Ein Mensch, der sich kon­sequent jeglichen Bewertens enthielte, würde nicht nur apathisch, son­dern in absurdem Selbstwider­spruch vor sich hindämmern - verleitet von einer Negativbewertung des Bewer­tens. Zudem: Wie kann einer, der nicht bewerten will, das Bewerten abwerten?


Die Romantisierung des Herzens. Den angeblich „zersetzenden“, unsere wah­ren Bedürfnisse verleugnenden Verstand verabscheuend, huldigen Esoteriker geradezu überschwänglich der Macht von Gefühl und In­tuition. Nur wer „auf sein Herz hört“, lebe „von seiner Mitte aus“, heißt es. Insofern knüpft die Eso­terik­szene an die deutsche Romantik des 18. Jahrhunderts an, die als Gegen­­bewegung zu den Ansprüchen rationaler Aufklärung entstand.


Richtig ist: Eines der zuverlässigsten Rezepte zum Unglücklichsein be­steht darin, „verkopft“ zu leben, unter dem Diktat logisch-analytischen Denkens, gegen innere Wider­stände, vorbei an dem, wonach man sich im Grunde sehnt, was einem gut täte. Auch sind Herzenswärme und Herzensgüte feine, wenngleich kardiologisch unverdächtige Charakter­züge. Und mitunter helfen Emotio­nen und Eingebungen tatsächlich eher als noch so komplexe Grübe­leien, die richtigen Entscheidungen zu treffen; denn für ein logisches Ab­wägen aller möglichen Optionen sind die meisten Situationen viel zu komplex; Intuition hingegen kann, unterhalb der Bewusstseinsschwelle, sekundenschnell integrieren und aus­­werten, was man wahrnimmt und weiß.


Wer allerdings meint, ohne kritisch durchleuchtenden, kühl abwägenden, sorgfältig planenden Verstand durchs Leben zu kommen, den wird es schmerzlich bestrafen.


Ein metaphysischer Idealismus. Eso­te­riker wähnen das Universum durchdrungen von einem geistigen Prinzip – sei es Gott oder ein unpersönliches Etwas -, das alles weise und liebevoll zu unserem Besten lenkt: beispielsweise nach den „Ge­setzen“ der gegenseitigen Anzie­hung von Gleichem (Resonanz) und der ausgleichenden Gerechtigkeit (Karma).


Von den Naturgesetzen unserer empirischen Wissenschaften unterscheiden sich diese mutmaßlichen Prinzipien in einer gravierenden Hinsicht: Unter keinen Umständen können sie an der Erfahrung scheitern – immer lassen sich Hilfs­hypothesen zurechtkonstruieren, mit denen sie rhetorisch zu verteidigen sind. Und in eben dieser Nicht­falsifizierbarkeit besteht ein Haupt­merkmal von ideologischen Leer­formeln. (10)


Ein teleologisches Weltbild. Nichts geschehe zufällig, versichern Esoteri­ker – alles und jegliches habe einen tieferen Sinn, es folge einem höheren Zweck, den es zu entdecken gilt.


Die Überschätzung des Geistigen. In die grenzenlose Macht des menschlichen Geistes setzen Esoteriker ein ebenso grenzenloses Vertrauen. Mit ihm Ber­ge zu versetzen, sei nur eine Frage des richtigen Bewusstseins, heißt es.


Was Geistheiler bisweilen zustande bringen, scheint diese These ein­drucks­voll zu bestätigen. Doch selbst die erfahrensten, fähigsten Heiler stoßen an Grenzen, in unseren The­rapie­camps ebenso wie in ihrem Pra­xis­all­tag. Und solange noch niemand einen Berg mental beiseite geschoben hat, tun Bauunternehmer gut daran, auf Bulldozer und Sprengladungen zu setzen.


Ein radikaler Konstruktivismus. Eine „objektive“ Realität gibt es nicht, meinen Esoteriker. Was wir dafür hal­­ten, sei ein bloßes Produkt unserer subjektiven Wahrnehmungen, Empfindungen, Überzeugungen und Gedanken. Das hat relativistische Folgen: Es gibt nur persönliche Sicht­weisen, keine unabhängig davon gültige Wahrheit, an der sie zu messen wären.


In Streitereien zwischen Eheleuten und Nachbarn, bei Gerichtsver­handlungen, in politischen Konflik­ten zeigt sich immer wieder: Tat­sachen können Ansichtssache sein. Wer allerdings behauptet, subjektive Standpunkte verfehlen prinzipiell die wahren Verhältnisse, führt sich selbst ad absurdum: Ob etwas verzerrt wahrgenommen wird, kann nur entscheiden, wer schon unperspektivisch weiß, wie dieses Etwas objektiv beschaffen ist. Und wenn alles relativ ist, dann auch dies.


Die Überhöhung des Positiven Den­kens. Weil alles, was ist, aus Sicht eines metaphysischen Idealisten letztlich gut ist, muss unser Denken dem entsprechen, meinen Esoteriker. Gelinge uns das, so sei uns nichts unmöglich - uns winken immerwährendes Glück, Gesund­heit und Erfolg im Überfluss. Was immer schiefläuft in unserem Leben: Durch negatives Den­ken, durch Zweifel, Ängste und Kritik, haben wir es „angezogen“.


Die Aussicht auf Selbsterlösung. Theologen sprechen von „Soteriolo­gie“ (von griech. soteria: Rettung, Erlösung, Heil): einer Lehre vom vollendeten Heil bzw. der Erlösung des Menschen. Eine solche beinhaltet Esoterik: Auch sie verspricht Heil – nicht erst in einem nachtodlichen Jenseits, sondern bereits im Hier und Jetzt. Die frohe Botschaft lautet: Werde Teil der Bewegung, verinnerliche ihr Weltbild, beachte die spirituellen Gesetzmäßigkeiten – dann wirst du vollkommene Erkenntnis und größtmögliches Glück erreichen, die phantastischsten Fähigkeiten er­langen, dich von allem befreien, was dich bedrückt und ängstigt, und zur Ent­faltung bringen, was an Großarti­gem, geradezu Göttlichem in dir steckt.


Die Lebenswege vieler esoterisch Bekehrter, zumal besonders inbrünstiger, wecken indes Zweifel daran, ob es wirklich immer klug, ergiebig und zum eigenen Besten ist, dem Heilsversprechen zu trauen. Und sie zeigen, wie leicht man nach Abkehr von traditionellen Kirchen in den Bannkreis neuer geraten kann: Die Esoterikszene ist geprägt von Guru­kult und reichlich Offenbarungs­literatur, deren Wahrheitsanspruch der Heiligen Schrift in nichts nachsteht.


Die Verherrlichung des Einsseins in Liebe. Uralte Mystik und romantische Naturphilosophie leben im Esoterikerglauben auf, letztlich sei „alles eins“, jegliches Getrenntsein eine Täuschung, von der schlimmste Übel herrühren. Nicht von ungefähr kommt auf esoterischen Websites, neben Meister Eckhart und Goethe, die Dichtkunst eines Novalis zu neuen Ehren, der die Natur als großes, lebendiges Ganzes zelebrierte, mit welchem der Mensch im Zuge einer Initiation erkennend verschmelzen kann. Das einigende Band besteht für Esoteriker aus Liebe in ihrer reinsten Form: bedingungslos, allumfassend, immerwährend.


Wenn aus Trennung Ab- und Aus­grenzung, das Anderssein zum Ma­kel, zur Zielscheibe von Vorurteilen, Gleichgültigkeit, Verachtung und Hass zu werden droht, bevorzugen auch Nichtesoteriker gerne das Ge­fühl von Verbundenheit, Respekt und Wertschätzung sowie solidarisches, das Fremde einbeziehendes Handeln. Aber die mystische Ver­einigung hat ihre Grenzen, psychologische ebenso wie logische. Wer alles und jegliches in Liebe umarmt, liebt nicht nur Schnaken, Erdbeben, Adolf Hitler, Ebola-Viren, Landminen, Ver­kehrsunfälle, Zecken samt ihren Bor­relien, Vergewaltigungen, Auschwitz und Hiroshima, sondern auch Dinge, die einander wechselseitig ausschließen – Krieg und Frieden, Krankheit und Gesundheit, Faulheit und Fleiß, Dürre und Fruchtbarkeit, Armut und Reichtum -, womit er den Liebes­begriff jeglichen Gehalts entleert.

Wieso kommt Außenstehenden die universelle Liebe, von der sich Esoteriker beseelt wähnen, häufig un­echt, aufgesetzt, ja heuchlerisch und zynisch vor? Wem alles gleich gültig ist, dem wird vieles gleichgültig. Bei vielen, die mit Vorliebe die ganze Welt umarmen, reicht die Spannweite ihrer oberen Extremitä­ten noch nicht einmal aus, den Allernächsten in Liebe festzuhalten.


Esoterik schließt die Ideologie einer insgeheimen, umfassenden Verbun­denheit zwischen uns allen ein, die jegliche raumzeitlichen Grenzen sprengt. Telepathische Brücken, morphische Felder, Aura-Kontakte, Schwin­­­gungsresonanzen, karmische Bande, Seelenverwandtschaften, Be­ziehungen aus früheren Inkarnatio­nen, ein alles durchdringender Geist: All dies verbindet uns angeblich aufs Innigste, wer, wo und wie immer wir sind. Eben hierin liegt ein Schlüssel zur Antwort auf die Frage, woher die überbordende Sozialromantik der Esoterikbewegung rührt – wie sie aus­gerechnet Ende des zweiten Jahrtausends und ausgerechnet in der westlichen Welt Furore machen konnte. Sie ist ein romantischer Abwehrreflex auf den schmerzlichen Verlust von sozialer Gemeinschaft, auf die Atomisierung des öffentlichen Raums in Miniparzellen von Egozentrikern, Karrieristen und Nar­zissten, und kompensiert die alltägliche Erfahrung von Rücksichtslo­sig­keit, Gefühlskälte, Lieblosigkeit, Aus­grenzung und Vereinzelung. Je isolierter du bist, desto sehnlicher dürstest du nach neuer Wir-Erfah­rung, um nicht psychisch vor die Hunde zu gehen. Esoterik bietet hochwillkommene Selbsthilfe gegen Vereinsamung.


Die fünf Verlockungen der Esoterikszene


Wie mehrere Studien belegen, sind überdurchschnittlich Gebildete be­son­ders anfällig dafür, derartigem Gedankengut zu erliegen. Spricht dieser Befund dafür, dass Esoterik intelligent ist – oder eher dafür, dass Intelligenz nicht vor Unfug schützt, sofern er menschliche Grund­bedürf­nisse befriedigt?


Vor allem fünf Fak­to­ren sind es, die der Eso­terikszene Zulauf bescheren: Zu ihr finden in erster Linie

- spirituell Hei­matlose, bei denen die christlichen Kirchen an Autorität verloren ha­ben (11);

- Orientie­rungslose, die sich nach „Reduktion von Komplexität“ in einer immer unübersichtlicheren Welt sehnen;

- von einschneidenden Lebensereig­nis­sen Traumatisierte, die durch Ver­luste, Schicksalsschläge oder schwere Krankheit aus der Bahn geworfen wurden;

- Frustrierte, die nicht länger befriedigt und erfüllt, womit sie allzu lange beschäftigt gewesen waren, sei es in der Arbeitswelt oder in der Familie;

- und Vereinsamte, die sich nach Gebor­gen­heit in einer Sub­kultur Alles­liebender sehnen.

Dass unter Eso­terikern nur erbauliche Botschaften Gehör finden, verrät, welche Nöte sie kompensieren müssen. Polemisch zugespitzt: Wenn “alles Karma” ist, dann gewiss auch das Vorhanden­sein einer Esoterik­szene - und der Umstand, dass man ihr angehört. Welche spirituelle Lek­tion erwächst einem daraus? Drin ist man womöglich, weil man andernfalls seine besonderen Glaubens-, Zugehörig­keits- und Wärmebedürf­nisse nicht so exzessiv ausleben könn­te; weil Verblendung erst auf die Spitze getrieben werden muss, ehe es dem Heimgesuchten wie Schuppen von den Augen fallen kann. Und vielleicht trägt der esoterische Mitläufer ein in früheren Leben angehäuftes Karma ab, in dem er An­de­ren der Guru war.


Dass unsere Campteams weitgehend frei von solchen Charakteren sind, ist ein Hauptgrund für den Erfolg ihrer therapeutischen Arbeit.

Anmerkungen

1 Wohl als erster verwendete ihn der griechische Arzt und Philosoph Galen von Pergamon im 2. Jahrhundert vor Christus. Im Sinne von „geheim“ benutzte den Begriff esoterikos erstmals der Kirchenvater Clemens von Alexandria (150-215 n. Chr.).

2 Gerd Schwerhoff: „Vom Alltagsver­dacht zur Massenverfolgung. Neuere deutsche Forschungen zum frühneuzeitlichen Hexenwesen“, Geschichte in Wis­sen­schaft und Unterricht 46/1995, S. 359–380.

3 Als „exoterisch“ - „nach außen gerichtet“ - bezeichnete Aristoloteles (384-322 v. Chr.) seine vorbereitenden, für Fachfrem­de und Anfänger bestimmten Kurse.

4 s. dazu die im Anmerkungsteil des Essays „Wie ‚wissenschaftlich’ muss Me­di­zin sein?“ genannten Quellen.

5 Thomas S. Kuhn: The Structure of Scien­tific Revolutions, Chicago 1962; dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutio­nen. rankfurt am Main 1967, 2. Aufl. 1976.

6 Nach einem Aphorismus des Philo­so­phen Arthur Schopenhauer.

7 s. Harald Wiesendanger: Heilen ‚Heiler’? Ein Wegweiser für Hilfesuchende, Schönbrunn 4. Aufl. 2011

8 s. IVH-Site so­wie Heilen ‚Heiler’?, a.a.O., S.84 ff.

9 siehe Harald Wiesendanger: Auf der Suche nach Sinn, Schönbrunn 2005, Kap. „Esote­rik – Im Drüben gefischt“, S. 107-138.

10 s. Ernst Topitsch/Kurt Salamun: Ideo­lo­gie - Herrschaft des Vor-Urteils, Mün­chen/Wien 1972.

11 Zu den Hintergründen dieser Abkehr s. H. Wiesendanger: Wie Jesus heilen. Geistiges Heilen: ein Akt christlicher Nächstenliebe. Schönbrunn, 4. Aufl. 2008, S. 9 ff.


Dieser Betrag stammt aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015).


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