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Dr. Harald Wiesendanger

„Muss ich daran glauben?“ – Das unsägliche Placebo-Argument

Helfen die Therapiecamps meiner Stiftung Auswege bloß dem, der an die Wirksamkeit der angebotenen Behandlungen glaubt? Werden Patienten dort mit Pseudomedizin hinters Licht geführt? Fallen sie auf Placebos herein? Gebetsmühlenhaft führen Skeptiker gegen unkonventionelle Heilweisen das „Placebo-Argument“ an – und liegen aus mehreren Gründen daneben.


Wenn du zu Hause von deinen Erfahrungen in unseren Camps erzählst, musst du auf zwei Reaktionen gefasst sein: „Unmöglich! Glaub´ ich nicht!“ oder „Alles Place­bo!“


Mit der einen wirst du der Lüge bezichtigt, mit der anderen als naiv hingestellt.


Die erste Reaktion wirst du, empört oder gelassen, an dir abprallen lassen: Schließlich weiß keiner besser als du, was du erlebt hast.


Die zweite hingegen könnte dich nachträglich zweifeln lassen. Sie stützt sich auf ein Ar­gu­­ment, in dem Skeptiker das schärfste Schwert sehen, das sich gegen „alternative“ Heilweisen führen lässt. Es besagt: Der bloße Glaube, eine Behandlung wirke, reicht aus, für Wirkungen zu sorgen – diesem „Pla­ce­bo-Effekt“ erliegen Patienten, die von unwissenschaftlichen Thera­pien zu profitieren meinen. Hast du dich von uns verführen lassen, darauf hereinzufallen?


Ausgangspunkt dieses Arguments ist ein hochspannendes Phänomen, für das sich die Medizinforschung Ende der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu interessieren begann; seither ist es in Hunderten von Studien eindrucksvoll bestätigt worden: Arzneimittel ohne jegliche pharmakologisch wirksame Inhaltsstoffe – sei es eine Zuckerpille oder eine Spritze, die nur Kochsalz­lösung enthält – können nicht nur das subjektive Befin­den verbessern, sondern unterschiedlichste körperliche Symptome lindern oder gar beseitigen, sofern der Patient sie in der Überzeugung einnimmt, er habe ein echtes Medikament, ein sogenanntes Verum erhalten.


Dazu genügt es, dass sie aussehen, schmecken und verabreicht werden wie ein gewöhnliches Präparat. Dabei wirken Placebo-Spritzen stärker als Kapseln, Kapseln stärker als Tabletten - selbst wenn sie exakt die gleichen Substanzen in identischer Dosis enthalten; rote, orange- oder rosafarbige Pillen sind wirksamer als blaue oder mehrfarbige, weiße wirksamer als braune; bittere wirken besser als solche, die nach nichts schmecken; eine größere Anzahl Pillen ist effektstärker als wenige oder gar eine einzelne. Placebos wirken besser, wenn sie an­geb­lich aus dem Ausland stammen; wenn ihre Bezeich­nung Anleihen bei altehrwürdigem Latein oder Grie­chisch macht und vielversprechende Steigerungen wie "forte" oder "plus" einschließt; wenn sie einen Marken­namen tragen; wenn man sie nicht kostenlos bekommt, sondern dafür bezahlen muss.


Der Effekt verstärkt sich, wenn das Placebo von jemandem verabreicht wird, dessen Autorität der Patient anerkennt - aus den Händen eines Arztes, nicht bloß von einer Pflegekraft.


Derartige „Placebos“ - wörtlich „ich werde gefallen“, sinngemäß „ich werde gut tun“, von lat. placere (1) - senken bei zwei von drei Diabetikern den Blut­zucker­spiegel; bei Bettnässern wirken sie meist ebenso gut wie die üblichen Medikamente; bei über 70 Prozent aller Patienten mit Magengeschwüren lindern sie die Beschwerden erheblich, ebenso bei vier von fünf Arthritis-Kranken. Drei von vier Patienten mit starken Wundschmerzen sprechen auf Morphi­um an - aber jedem Dritten hilft ein Placebo gleichermaßen. Ebenfalls auf Placebos reagieren Testperso­nen mit Migräne, mit Asthma, Bronchitis, Reise­krank­­heit, Verdauungsstörungen, Impotenz, Haut­leiden, Bluthochdruck, Morbus Parkinson, Angina pecto­ris und Dutzenden weiterer schwerwiegender Diagnosen.


Sogar bei Operationen kam dieser Effekt zum Vor­schein: Wurde Patienten ein Eingriff vorgetäuscht – z.B. eine Knie-Arthroskopie oder eine sogenannte Ligatur, bei der Herzchirurgen eine Brustwand­arterie abbinden -, ging es ihnen anschließend so deutlich besser, als seien sie einer echten OP unterzogen worden. (2)


Daraus folgt: Von unseren Camps könntest du gesund­heitlich auch dann profitieren, wenn du dort nichts weiter als Pseudo-Medizin erleben würdest, angewandt von Scharlatanen, die sich vortrefflich darauf verstehen, Vertrauen zu wecken. Haben wir dir also nichts weiter als Placebos verabreicht: Schein­medikamente ohne therapeutisches Agens, die bloß helfen, solange du von ihrer Wirkung überzeugt ist?


Zehnmal Sand in die Gebetsmühle


Seit Jahrzehnten gebetsmühlenhaft wiederholt, ist das "Placebo-Argument" in Wahrheit ein miserabler rhetorischer Schachzug, aus mindestens einem Dutzend Gründen, von denen man immer ein paar parat haben sollte, wenn man mit Skeptikern ins Gespräch kommt; zehn davon folgen sogleich in Kurzfassung.3 Nehmen wir als Beispiel Geistiges Heilen, das bei „Auswege“-Camps besonders intensiv zum Einsatz kommt:


1. Wäre Geistheilung ein bloßes Placebo, dann müsste es um so besser wirken, je stärker ein Patient an seine Wirkung glaubt. Heiler helfen manchmal aber auch Misstrauischen, ja selbst ausgesprochenen Skeptikern. Andererseits warten viele aufgeschlossene, teilweise bereits esoterisch bekehrte Patienten, die vom Nutzen felsenfest überzeugt sind, vergeblich auf ein Wunder.


2. Geistheilungen gelingen manchmal auch unter Umständen, die Placebo-Wirkungen von vornherein ausschließen:


- bei Fernbehandlungen, von denen der Behandelte gar nicht wissen konnte: etwa, weil er bewusstlos war; oder weil ihm die kognitiven Fähigkeiten abgingen, Überzeugungen über Therapiewirkungen zu hegen: ein Säugling etwa, ein geistig Schwerst­behinderter, oder ein Unfallopfer im Koma.


- in sogenannten "Doppelblindstudien", d.h. Unter­suchungen, bei denen sowohl die Versuchspersonen als auch die beteiligten Ärzte und Wissenschaftler im ungewissen gelassen werden, wer geistig behandelt wird und wer nicht - wodurch Erwartungseffekte aus­scheiden;


- in Experimenten mit nichtmenschlichen Versuchs­objekten, denen wir schwerlich zutrauen würden, für Placebo-Effekte anfällig zu sein: etwa mit niederen Tieren, Pflanzen, Pilzen, Bakterien, isolierten Zellen und Zellbestandteilen, Enzymen und DNS, ja sogar mit Kristallen, Wasserproben und anderem anorganischem Material. Häufig haben sie messbar angesprochen, als Geistheiler auf sie einzuwirken versuchten. (4)


3. Nachdem Geistheilungen begonnen haben, nimmt die weitere Krankengeschichte oft einen Verlauf, den das "Placebo-Argument" allein schwerlich erklären kann. Gäbe starker Glaube allein den Ausschlag, so wäre zu erwarten, dass es mit einem Patienten langsam, aber stetig aufwärts geht: Die Genesung müsste kontinuierlich voranschreiten. Recht häufig tritt aber ein Phänomen auf, das den Erwartungen und Hoff­nungen des Patienten diametral entgegengesetzt ist, zumindest anfangs: Kaum hat der Heiler mit ihm zu arbeiten begonnen, da verschlimmern sich die Symptome vorübergehend, und neue Beschwerden stellen sich ein: Schmerzen, Erbrechen, Durchfall, Fieber und andere heftige Re­ak­tionen können auftreten. Sie überraschen und ängstigen viele Behandelte, weil sie auf einen Rückfall hinzudeuten scheinen. Merkwürdigerweise zeigen sie aber häufig an, dass die Behandlung anschlägt. Die Wahrscheinlichkeit, von einer Geistheilung zu profitieren, wächst erfahrungsgemäß erheblich, nachdem solche Krisen aufgetreten und überstanden sind. Das erinnert an einen Vorgang, der Homöo­pathen wohlvertraut ist: die sogenannte "Erstver­schlim­merung" nach Ein­nahme eines Präparats, die der Heilung oft vorangeht.


4. Wären „geistige“ Heilerfolge ausschließlich auf Suggestionen und Placebo-Effekte zurückzuführen, dann müssten vorgetäuschte Behand­l­­ungen ebenso wirksam sein wie echte. Wenn ich also bloß so tue, als ob ich einem Kranken "Heilenergie übermittle", während ich in Wahrheit an etwas völlig anderes denke – zum Beispiel, wie in einer US-Studie geschehen, von 100 auf Null zurückzähle -, dann müsste ich damit ebenso viel erreichen, wie wenn ich mich voll und ganz aufs Heilen konzentriere. Die wenigen Studien, die diesem Verdacht nachgegangen sind, deuten aber vielmehr darauf hin, dass konzentriertes Geistiges Heilen deutlich besser hilft.


5. Etwa zwei Drittel aller Patienten, mit denen Heiler auf Distanz arbeiten, berichten von sonderbaren körperlichen Empfindungen zu genau dem Zeitpunkt, an dem eine Fernbehandlung stattfindet: z.B. ein starkes Kribbeln, Wärme oder Käl­te, ein Gefühl des Durchströmtwerdens, des Schwe­bens, schlagartiger innerer Ruhe, oder eines Unter-Strom-Stehens. Kriti­ker deuten dieses Phäno­men grundsätzlich als Ergebnis von Autosuggestion und als Begleiterschei­nung einer Placebo-Reaktion: Denn schließlich wisse der Patient ja in der Regel, wann er fernbehandelt wird - also rede er sich pünktlich ein, dass ihn heilende Energieströme von fern erreichen, und empfinde entsprechend. Aber das erklärt in keiner Weise zwei Phänomene, zu denen es bei Fernheilungen manchmal kommt:


- Es kann vorkommen, dass ein Heiler die vereinbarte Fernbehandlung versäumt - sei es, dass ihm etwas dazwischenkommt, sei es, dass er den Termin einfach vergisst. Manchmal gehen bei ihm anschließend Beschwerden der betroffenen Patienten ein - sie haben gespürt, dass nicht mit ihnen gearbeitet worden ist, weil die üblichen charakteristischen Emp­fin­dungen diesmal ausblieben.


- Auch kann es passieren, dass sich ein Heiler mit der Fernbehandlung um ein paar Minuten oder gar Stunden verspätet - und entsprechend später erlebt sein Patient mitunter rätselhafte Empfindungen, ob­wohl er von der Verzögerung zunächst nichts weiß. Wie ist das möglich, wenn alle Reaktionen eines Patienten auf Geistiges Heilen bloß glaubensbedingt wären?


6. Wäre Geistheilung ein Placebo, dann müssten Fernbehandlungen, also geistige Heilversuche in Abwesenheit des Patienten, grundsätzlich schwächer wirken als andere Formen Geistigen Heilens, bei denen Heiler und Hilfesuchender un­-mi­ttel­baren Kontakt miteinander haben. Denn die physische Prä­senz eines Kranken erleichtert es dem Heiler erheblich, den Glauben an seine Fähigkeiten zu stärken: durch sein ganzes Auftreten, seine Aus­strahlung, seine Überzeugungskraft im verbalen Austausch, durch mehr oder minder offensichtliche Suggestio­nen, durch die besondere Einrichtung und Atmo­sphäre des Behandlungsraums. Aber erstaunlicherweise erzielen manche Heiler bessere Erfolge bei Fernheilungen. Begründet wird dieses Phänomen fast immer gleich: Beim Behandeln auf Distanz, so heißt es, könnten sich Heiler und Patient ganz auf ihre Begegnung auf "energetischer" Ebene konzentrieren, ohne von unerheblichen Wahrnehmungen, Einschätzungen und Emotionen abgelenkt zu werden, die sie zwangsläufig ineinander auslösen, sobald sie einander gegenübersitzen.


7. Selbst wenn Geistiges Heilen ausschließlich Placebo-Wirkungen erzielen könnte, so würde daraus mitnichten folgen, dass es ärztlichen Maß­nahmen unterlegen ist und insofern eine minderwertige Therapieform darstellt. Unter vielen Medizinern herrscht die irrige Ansicht vor, Placebo-Reaktionen fielen grundsätzlich milder, abgeschwächter aus als die "objektiven" Effekte einer "echten" Therapie – das tun sie nicht, wie Forschung zeigt.


8. Unter Ärzten, den sprichwörtlichen "Halb­göttern in Weiß", kommen charismatische Persönlichkeiten, mit großer suggestiver Ausstrah­lung und einem Nimbus von Allwissenheit und Unfehlbarkeit, bestimmt nicht seltener vor als unter Geistheilern; ihr akademischer Titel, ihre Bildung, ihre Sprach­gewandtheit, das Inventar und Ambiente ihres Arbeitsplatzes verschaffen ihnen im Gegenteil einen gehörigen Autoritätsvorsprung. Nach wie vor rechnen 72 Prozent der deutschen Bevölkerung Ärzte zu jenen fünf Berufen, vor denen sie "am meisten Ach­tung" haben, wohingegen keine andere Berufs­gruppe einen Prestigewert über 45 Prozent erreicht - nicht einmal Geistliche, Rechtsanwälte und Hoch­schul­professoren.5 Müssten sich in Arztpraxen und Kliniken denn nicht viel öfter unfassbare "Heil­wunder" ereignen, wenn dazu lediglich nötig wäre, Vertrauen und Zuversicht von Kranken zu stärken? Patienten von Ärzten glauben und hoffen schließlich nicht weniger stark als Patienten von Heilern; warum widerfahren ihnen denn nicht viel häufiger unerwartete Genesungen, falls es dazu lediglich einer Placebo-Reaktion bedürfte?


9. Wenn ein Langzeitpatient, dem kein Arzt helfen konnte, nach ein paar Heilsitzungen ein vermeintlich unheilbares Leiden los wird, so ist ihm reichlich wurscht, ob dafür ein "Placebo-Effekt" oder eher ein "Psi-Effekt" verantwortlich ist, der Mann im Mond oder Rumpelstilzchen. Hauptsache, gesund.


Die Placebo-Reaktion: kein Ärgernis, sondern ein Segen


10. Dass Geistheilern ausgerechnet von Ärzten aus dem "Placebo-Argument" ein Strick gedreht wird, ist im Grunde ein schlechter Witz. Denn in Wahrheit sind Placebo-Effekte bei jeglichen Heil­weisen, auch den schulmedizinisch anerkannten, „wissenschaftlich“ abgesicherten und allgemein praktizierten, niemals auszuschließen. Experten schätzen, dass 30 bis 60 Prozent der Wirkung aller ärztlichen Maßnahmen auf den Placebo-Effekt zu­rück­zuführen sind; gar von einem 99-Prozent-Anteil ging provokativ der Psychologe Hans-Jürgen Eyenck aus. (6) Wenn der Einnahme eines Arzneimittels trotzdem eine Besserung folgt, dann weniger dank ir­gend­welcher hochpotenter pharmakologischer In­halts­stoffe als vielmehr aufgrund positiver Erwar­tun­gen der Kranken, die sie wohlgemut schlucken, und ihrer Ärzte, die sie zuversichtlich verschreiben - und dabei unbewusst Placebos verabreichen. (7) Bei jeder schulmedizinischen Therapie wirkt auch die "Droge Arzt" mit.


In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Rückblick auf die Medizingeschichte. Bis vor wenigen Jahr­zehnten waren die meisten von Ärzten verordneten Medikamente pharmakologisch inaktiv, wenn nicht gar schädlich, wie wir inzwischen wissen. Im 17. Jahrhundert riet ein weitverbreitetes Londoner Arz­neibuch zu solch abenteuerlichen Heilmitteln wie abgezogene Schlangenhaut, zermahlene Skorpione, Schwalbennester, Lunge von Füchsen, den Speichel von Fastenden, Mutterkuchen und Moos von den modernden Schädeln Gehenkter. (8)


Hun­dert Jahre später spottete der französische Schriftsteller und Philosoph Voltaire (1694-1778): “Ärzte geben Medikamente, über die sie wenig wissen, in Menschenleiber, über die sie noch weniger wissen, zur Behandlung von Krankheiten, französische Schriftsteller und Philosoph Voltaire (1694-1778): “Ärzte geben Medi­kamente, über die sie wenig wissen, in Menschenleiber, über die sie noch weniger wissen, zur Behandlung von Krankheiten, über die sie überhaupt nichts wissen.”


Noch 1860 brachte der amerikanische Schriftsteller Oliver Holmes ein ironisches Gedankenspiel zu Papier: Würden die meisten damals verwendeten Arzneien "auf den Boden des Meeres versenkt, so wäre das um so besser für die Menschheit und um so fataler für die Fische". (9)


Generationen von Ärzten setzten überwiegend Placebos oder Schlimmeres ein, ohne sich darüber im klaren zu sein, und insofern ist "die Geschich­te der medizinischen Behandlung bis in relativ neue Zeit die Geschichte des Placebo-Effekts", wie der amerikanische Psychiater und Medizin­historiker A. Shapiro anmerkt. (10) Doch wenngleich sie sich unwissentlich auf Placebos verließ, wahrte die Ärzteschaft doch Ruf und Ansehen als erfolgreiche Heiler­profession, woraus geschlossen werden darf, dass die Mittel ihrer Wahl im großen und ganzen wirksam waren.


Hat sich daran bis heute wirklich Wesent­li­ches geändert? Üppig verdient wird mit therapeutischen Illu­sionen unter anderem auf dem Pharmamarkt. Allein in Deutsch­land werden Milliardenge­winne mit Arzneimitteln erzielt, deren einzig gesicherter Effekt in der Bewe­gung der Umsatzkon­ten der rund 850 Her­steller besteht. Über 250 Millionen mal pro Jahr verschreiben Ärzte hier­zu­lande Medika­men­te, deren klinischer Wirk­samkeitsnachweis zu­min­dest strittig ist, wenn nicht gar fehlt; das entspricht 34 Pro­zent des gesamten deut­schen Arzneimit­telmarkts. Wie selbst das Bun­des­gesund­heits­ministerium einräumt, werden in Deutschland Tausende von Medikamenten ver­kauft, für die "kein therapeutischer Nutzen nachgewiesen ist" (11) - mehr als ein Drittel der über 8’000 angebotenen Arzneimittel, die in fünfmal so vielen Darrei­chungsformen und Wirkstärken auf dem Markt sind.


Im Verdacht von teuren Massen­placebos stehen etwa durchblutungsfördernde Mit­tel, die vor allem ältere Men­schen in der Hoffnung schlucken, dadurch Wahrneh­mung und Ge­dächt­nis zu verbessern.


Auch bei Gallen­wegsmitteln wer­den wesentliche therapeutische Effekte bezweifelt, eben­so bei Leber­schutz­präpa­raten, die strikte Alkohol­abstinenz ohnehin weitgehend erübrigen wür­de; bei Schlank­heitsmitteln; bei Antidepressi­va; bei einem Großteil der urologischen Medikamente.


Und nach wie vor stehen überzeugen­de klinische Nachweise dafür aus, dass Rheuma­salben der Wär­me­flasche entscheidend überlegen sind; dass Venen­mittel tatsächlich Krampfadern entlasten und Throm­bosen vorbeugen; oder dass Trop­fen gegen den Grauen Star, sogenannte "Antikata­raktika", wirklich eine Augenoperation erübrigen können.


Vermutlich wirkt jedes dritte Medikament, das wir in Apotheken kaufen können, im Grunde gar nicht spezifisch gegen jene Beschwerden, derentwegen es rezeptiert wird. Wenn es dennoch hilft, dann weniger dank irgendwelcher chemischer In­gredienzen als vielmehr aufgrund positiver Erwar­tungen der Kranken, die es wohlgemut schlucken, und ihrer Ärzte, die es zuversichtlich verschreiben.


Und lauert der Placebo-Effekt nicht allgegenwärtig in jeder ärztlichen Sprechstunde? Nichts fördert Zu­trau­en mehr als Sozialprestige - und kein Beruf ge­nießt in Deutschland größeres Ansehen als der des Arztes. Entsprechend großen Respekt haben Patien­ten vor ihrem Doktor, sie vertrauen ihm. Sie sind von seinem Titel und seinem Fachjargon beeindruckt, aber auch von seinem Schweigen; jedem Stirnrun­zeln, jedem Räuspern, jedem stummen Kopfnicken messen sie Bedeutung bei. Sie sind beruhigt, wenn der Doktor ihre Beschwerden durch Diagnose-Latein benennt und genau zu wissen scheint, was ihnen fehlt. Sie erleben, wie respektvoll bis devot sein Hilfspersonal zu ihm aufschaut. Sie bestaunen die Fachliteratur in seinen Bücherregalen und all die technischen Apparate um ihn herum, mit denen er so sicher hantiert. All dies fördert doch immens die Erwartung des Patienten, geheilt zu werden - ist also "Placebo".


Damit soll keineswegs abgewertet werden, was Ärzte tun, im Gegenteil. Bei Patienten segensreiche Placebo-Reaktionen auszulösen, ist eine hohe ärztliche Kunst, die unverdientermaßen beargwöhnt wird.


Dass solche Reaktionen überhaupt vorkommen, müsste bei Medizinforschern und allen in Heilberu­fen Tätigen enthusiastische Aufmerkamkeit wecken; stattdessen gelten sie in der Schulmedizin weithin als Ärgernis, das es herauszufiltern und auszuschalten gilt, wenn der Wert einer therapeutischen Maß­nahme beurteilt werden soll. Für vie­le Ärzte haben Placebos etwas An­rüchiges, Schein­heiliges, Unseriöses; ihr Einsatz scheint auf Tricks und Täu­schungen zu beruhen, insofern auf Quack­salberei hinauszulaufen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein hatte “Placebo” die denkbar geringschätzige Bedeu­tung eines Schmeichlers, Schön­red­ners, Kriechers und Schnor­rers. (12)


Manche Ärzte verabreichen deswegen, aus ethischen Gründen, niemals Placebo-Präparate. Solche "un­echten" Heilmittel werden von oben herab behandelt, wie eine vorsintflutliche Requisite, derer man sich schämen muss. Auch gelten Placebo-Effek­te als "unecht": Wenn es beispielsweise Schmerz­patienten, nachdem sie ein Placebo eingenommen haben, besser geht, wird diese an sich begrüßenswerte Reaktion gewöhnlich als Indiz dafür gedeutet, dass die Schmer­zen ohne physiologische Grundlage, also "bloß eingebildet" waren. Schon in einem medizinischen Wörterbuch aus dem Jahre 1811 wird "Placebo" abfällig definiert als "Bezeich­nung für jede Medizin, die eher geeignet ist, einen Patienten zufriedenzustellen, als ihm zu nützen." (13)


Aber wie­so soll es nicht nützen dürfen, indem es zufriedenstellt?


In Wahrheit spricht jeder Mensch auf Placebos an, inner- wie außerhalb des etablierten Medizinbetriebs, sofern sie ihm unter Bedingungen verabreicht werden, die seinen Glauben daran stärken. Und das ist gut so: Denn die Macht des Glaubens, Selbsthei­lungskräfte zu wecken, ist eine weithin unterschätzte therapeutische Größe; sie anzuerkennen und zu nutzen, statt darauf aus zu sein, sie als etwas "Unwirkliches" auszuschalten, würde die Human­medizin nicht nur effektiver machen, sondern letztlich auch humaner.


Der Illusion, Placebo-Reaktionen ausschließen zu müssen, kann nur erliegen, wer den Geist für unwirklich hält oder ihm jede Verbindung zum Kör­per abspricht - ihn als "Gespenst in der Maschine" betrachtet, wie der englische Philosoph Gilbert Ryle einmal anmerkte. Dagegen führen die Erfolge von Heilern nebenbei vor Augen, wie innig sich Geist und Körper auf Bah­nen durchdringen, welche ein noch junger Wissen­schaftszweig, die Psychoneuro­im­mu­no­logie, gerade erst nachzuzeichnen beginnt. "Als praktischer Arzt", so erklärt der amerikanische Medizinphilosoph Andrew Weil, "habe ich keinerlei Interesse, eine Placebo-Reaktion bei meinen Patien­ten zu eliminieren. Placebos einzusetzen, die mittels eines psychischen Mechanismus die inneren Heil­kräfte freisetzen, ist nicht Quack­salberei oder Täu­schung, sondern psychosomatische Medizin in ihrer besten Form - schlicht und einfach gute Medizin, gleich nach welchem Maßstab." (14)

Insofern sind Heiler oft die besseren Ärzte. Gut, dass du dich ihnen bei uns anvertraut hast.


Anmerkungen

1 Der Begriff Placebo tauchte zuerst in der christlichen Liturgie auf. Im 12. Jahrhundert fand der Vers Placebo domino in regione vivorum (Psalm 116,9) - „Ich werde dem Herrn gefallen im Lande der Lebenden“ – Eingang in die Toten­andacht. Im 14. Jahrhundert bezeichnete „Placebo“ den Toten­gesang eines Begräbnischors. Erst im 18. Jahrhundert begannen Mediziner das Wort „Placebo“ in der heutigen Bedeutung zu verwenden.

2 s. Fernheilen, Band 2: Fallbeispiele, Forschungen, Einwände, Erklärungen. Schönbrunn 2004, S. 81 f. und die dort zitierten Quellen

3 Mit dem Placebo-Argument, auf das ich hier nur kurz eingehe, habe ich mich in mehreren Büchern ausführlich auseinandergesetzt; eine detaillierte Kritik, Hinweise auf wissenschaftliche Studien und Quellenangaben finden Sie in Harald Wiesendanger: Fernheilen, Band 2, a.a.O., S. 65-86; Geistheiler – Der Ratgeber, Schönbrunn 5. Aufl. 2007, S. 104-118; Das Große Buch vom Geistigen Heilen, Schönbrunn 4. Aufl. 2000, S. 228-238.

4 Den Forschungsstand fasse ich zusammen in Fernheilen, Band 2, a.a.O. Den detailliertesten Überblick über kontrollierte Studien seit den fünfziger Jahren bietet der amerikanische Arzt und Heiler Daniel Benor: Healing Research, Bd. 1, München 1992.

5 Institut für Demoskopie Allensbach (2003); 75 Prozent waren es in einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allens­bach im Januar 1999 unter 2131 Bundesdeutschen ab 16 Jahren, veröffentlicht in Allensbacher Berichte 4/1999.

6 Bemerkung auf einem Kongress zur Suggestibilität, Gießen, Juli 1987.

7 Siehe D. M. Dunlop/T. L. Henderson/R. S. Inch, “Sur­vey of 17 301 prescriptions of form EC10”, British Medical Journal 1952, S. 292-295

8 Nach Geo 10/2003, S. 55f.

9 Zitiert nach A. K. Shapiro: "The placebo effect in the history of medical treat­ment: Implications for psychiatry", American Journal of Psychiatry 116/1959, S. 298-304, dort S. 301.

10 Shapiro, a.a.O., S. 303.

11 Nach Welt am Sonntag Nr. 10 / 8.3.1998, S. 14: "16.000 Arz­neien ohne Nachweis des Nutzens".

12 Siehe Rupert Sheldrake: Seven experiments that could change the world - a do-it yourself guide to revolutionary science, New York 1995, Kapitel 7, Abschnitt “The Placebo Effect”.

13 Hooper´s Medical Dictionary, zit. in B. Roueché, "Place­bo", in ders.: A Man Named Hoffman and Other Narra­tives of Medical Detection, Boston 1965, S. 92.

14 Andrew Weil: Heilung und Selbstheilung. Über konventionelle und alternative Medizin. Weinheim 1988, S. 261.

Dieser Betrag stammt aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015).


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