Keine Frage: Viele Psychotherapeuten helfen seelisch Belasteten ganz hervorragend. Dank ihres wissenschaftlichen Hintergrunds? Eher beruhen ihre Erfolge auf ausgeprägten Fähigkeiten, die sie mit Laien gemeinsam haben – und schon besaßen, ehe sie zum ersten Mal ein Hochschulgebäude betraten.
Es klingt fast schon zu banal, um der Rede wert zu sein: Beileibe nicht jeder Amateur eignet sich gleichermaßen als Stütze in seelischen Nöten. Kein Psychiatriekritiker, der noch recht bei Trost ist, versteift sich auf den himmelschreienden Unfug, alle Laien könnten genauso viel wie Profis. Selbstverständlich bringt ein Großteil von ihnen Defizite mit, und diese schränken ihre therapeutischen Möglichkeiten ein.
Aber der springende Punkt ist doch: Bestehen diese Defizite zwangsläufig, mangels Fachstudium? Beruhen sie darauf, dass der Amateur von wissenschaftlichen Studien, Methodik und Theorien keine Ahnung hat? Werden sie an der Uni behoben, und nur dort?
Wie professionelle Psychotherapeuten, so unterscheiden sich auch Amateure enorm hinsichtlich Eigenschaften und Fähigkeiten, von denen abhängt, ob ihre Hilfe gut tut: etwa in puncto Geduld, Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen, Unvoreingenommenheit, Verzicht auf Wertungen, Offenheit, Freundlichkeit, Warmherzigkeit, Authentizität, geschickte Gesprächsführung - also in alledem, worauf es beim Beistehen entscheidend ankommt. Solche allgemeinen Wirkfaktoren zu handhaben, gelingt vielen Laien kaum besser als ein Klaviersolo oder ein sternewürdiges Fünfgangmenü, ein dreifacher Wurfaxel oder ein Roman. Andere hingegen bringen besagte Faktoren virtuos ins Spiel, ohne erst einiger hundert Vorlesungen, Seminare und Supervisionen zu bedürfen. Denn die Fähigkeiten dazu entwickeln sich in den beiden ersten Lebensjahrzehnten, im Zuge der Sozialisation. Sie harren nicht erst einer Immatrikulation, ehe sie zum Vorschein kommen und sich voll entfalten.
Zu welchen Fehlern der Laie neigt
Viele Laien verkennen, dass kein Fall dem anderen gleicht. Hinweise, Empfehlungen und Maßnahmen, die dem einen Belasteten gut tun, sind beim anderen, oder beim selben unter anderen Umständen, nutzlos bis schädlich. Wie lernt man, jeweils das Richtige zu tun? Im einfühlsamen Miteinander, bei dem im Gegenüber ein einmaliges Subjekt zum Vorschein kommt. Das geschieht im sozialen Raum unentwegt und überall, nicht erst auf dem Campus.
Weitverbreitete Belastungen wie Ängstlichkeit, Niedergeschlagenheit, Trauer, Anspannung, Verbitterung, Antriebslosigkeit, Stimmungsschwankungen, Selbstzweifel, Unruhe und Erschöpfung kennen Laien aus leidvoller eigener Erfahrung, und bei Sozialkontakten begegnen sie ihnen ein ums andere Mal. Daraus kann sich ein tiefes Verständnis für solche Probleme entwickeln – und Erfahrung damit, was Betroffenen gut tun könnte. Doch was fängt unsereins mit extrem abweichendem Erleben und Verhalten an, das ihm noch nie begegnet ist?
Da hört jemand auf zu essen, mutiert zum wandelnden Skelett – und will weiter abnehmen, um sich noch schöner zu finden. Ein anderer wäscht sich mehrere Dutzend Mal pro Tag die Hände, hört bedrohliche Stimmen aus dem Nichts, findet Tiere oder Leichen sexuell erregend, wähnt sich unentwegt verfolgt, ritzt sich lustvoll mit Scheren, Küchenmessern oder Rasierklingen. Ein Weiterer will sich ein Bein amputieren lassen, weil er es als fremd empfindet, nicht seinem Körper zugehörig (1). Jemand verabreicht seinem Kind Gift, um Krämpfe und Erbrechen zu erzeugen, oder drückt ihm die Hauptschlagader ab, um einen epileptischen Anfall auszulösen. (2) Unbekanntes verunsichert und erschreckt, hier stößt der Psychoamateur gewöhnlich an seine Grenzen. So ergeht es dem Profi übrigens häufig ebenfalls. Was er dem Laien in derart befremdlichen Fällen allerdings voraus hat, ist schlicht: Erfahrung. Mit äußerst Ungewöhnlichem bekamen er und seine Fachkollegen bereits zu tun, und allein dieser Umstand verschafft ihnen Vorteile: Sie bleiben gefasster, behalten eher kühlen Kopf, reagieren bedachter. Und sie wissen schon, was da manchmal geholfen hat. Das ist es, wovon sie und ihre Klienten gelegentlich profitieren - und nicht etwa von universellen Gesetzmäßigkeiten, einer alles erklärenden Theorie, einer stets durchschlagenden Technik.
“Gesunder Menschenverstand” hat Grenzen
Das psychologische Alltagswissen des Laien, von Profis verächtlich als „Küchen-“ oder „Stammtischpsychologie“ abgetan, deckt sich zwar in vielerlei Hinsichten damit, was wissenschaftliche Studien ergeben; daran liegt es, dass Laien ein Großteil psychologischer Forschung nichtssagend und überflüssig vorkommt. Andererseits steckt es voller verbreiteter Vorurteile, an denen vermeintlich gesunder Menschenverstand oftmals hartnäckig festhält, obwohl sie empirisch widerlegt sind (3). Beispielsweise an Thesen wie: „Frauen reden mehr als Männer“, „Die Pubertät ist immer eine Phase der Rebellion, der Konflikte mit Erwachsenen und erhöhter Risikobereitschaft“, „Intellektuell Hochbegabte haben mehr Probleme im Umgang mit Anderen“, „In der Handschrift spiegelt sich die Persönlichkeit“, „Stress verursacht Magengeschwüre“, „Wenn Kleinkindern regelmäßig Mozart vorgespielt wird, steigt ihre Intelligenz“, „Bei Vollmond werden mehr Gewalttaten begangen“, „Wenn Kinder gleich erzogen werden, entwickeln sie später auch die gleiche Persönlichkeit.“ (4)
Dass nichts dergleichen stimmt, erfahren professionelle Psychologen während ihres Studiums. Das verschafft ihnen einen Informationsvorsprung. In einer neueren Studie erwiesen sich Experten – Personen, die Psychologie studieren oder ein solches Studium bereits abgeschlossen haben – im Vergleich mit Laien allerdings als kaum weniger anfällig für die oben erwähnten, inzwischen klar widerlegten Common-Sense-Ansichten. Andererseits erkannten mehr als die Hälfte der befragten Laien zehn von dreizehn Irrtümern als solche, 80 Prozent fünf und mehr, über 90 Prozent mindestens drei. (5)
Der Laie hilft unflexibler
Mit psychischen Nöten ihrer Mitmenschen konfrontiert, pflegen Laien überwiegend einen bestimmten Beratungs- und Behandlungsstil. In ihm spiegeln sich ihre eigenen Überzeugungen, Einstellungen, Erfahrungen und Gewohnheiten wider, aber auch ihr Naturell. Der eine gibt sich eher als hochempathischer Allesversteher (Typ „seelischer Mülleimer“), der andere eher als gewiefter Einflüsterer, als zupackender Verhaltensänderer, als funkensprühender Motivator. Ein Seelenhelfer erreicht aber umso mehr, je vielfältigere Strategien und Werkzeuge ihm zur Verfügung stehen, die er je nach Problem und Situation flexibel einsetzt.
Hier haben Profis die Nase vorn. Denn im Laufe ihrer Ausbildung bekommen sie ein solches Instrumentarium an die Hand und üben es unter Aufsicht ein.
Mit zunehmender Praxiserfahrung erweitert sich anschließend nicht nur die Bandbreite möglicher Vorgehensweisen. Zugleich wachsen Mut und Selbstvertrauen, sich ihrer zu bedienen. Lasse ich einen Hilfesuchenden reden und halte mich mit Kommentaren möglichst zurück? Löchere ich ihn mit Fragen, oder bin ich eher schweigsam? Konfrontiere ich ihn, womit, wie ausgiebig? Lasse ich ihn auf einem Berggipfel seine Wut herausschreien? Oder im Wald Bäume umarmen? Lasse ich ihn malen? In „Aufstellungen“ szenisch darstellen, welches Verhältnis er zu wichtigen Bezugspersonen hat? Duze ich ihn, oder beharre auf einem distanzierten „Sie“? Biete oder vermeide ich Körperkontakt? Lasse ich ihn liegen oder sitzen? Grabe ich in seiner Vergangenheit, oder richte ich seinen Blick aufs Hier und Jetzt sowie nach vorne? Provoziere ich ihn zwischendurch? Setze ich Humor ein? Wieviel Beachtung schenke ich seinen Träumen, seinen Versprechern? Gebe ich ihm Leitsätze vor? Lasse ich ihn ein Tagebuch führen? Einen Brief an sein künftiges Selbst schreiben? Bleibe ich betont sachlich und nüchtern, oder engagiere ich mich emotional? Wieviel Sympathie und Mitgefühl zeige ich? Wann breche ich ab? Setze ich ausschließlich auf Bewährtes, oder probiere ich ganz neue Wege aus - wie etwa jener Südkoreaner, der Selbstmordgefährdete ihre eigene Beerdigung vorbereiten, Abschiedsbriefe an ihre Lieben verfassen und im Sarg probeliegen lässt? Patentrezepte gibt es nicht. Wieviel eine Maßnahme bringt, erweist sich immer nur individuell und meist erst im nachhinein, vom Ergebnis her; dabei entpuppt sich die scheinbar abwegigste bisweilen als die hilfreichste. Die Sargtherapie vermittelt den Teilnehmern eine „derart schockierende Erfahrung“, dass sie danach für einen Neustart bereit seien, versichert ihr Erfinder Jeong Yong-mun vom Hyowon Healing Centre in Seoul. (6)
Wann welche Strategie Sinn macht, entscheidet ein guter Therapeut eher intuitiv, keine Fachliteratur nimmt ihm das ab. Dass er um eine Vielzahl möglicher Vorgehensweisen weiß, verschafft ihm gegenüber Amateuren einen erheblichen Vorteil - allerdings keinen, der sich zwangsläufig aus höheren akademischen Weihen ergibt. Eine Begegnung flexibel zu gestalten, auf wechselnde Situationen kreativ reagierend, wird Studenten an der Uni eher ausgetrieben als beigebracht. Es bedürfte weniger Wochenendkurse, um engagierte Laien dafür fit zu machen, soweit sie es überhaupt noch nötig haben.
Der Vorteil des Profis: ein voller Werkzeugkasten
Wenn Profis hier kopfschüttelnd abwinken, verkennen sie, worin ihr Kompetenzvorsprung letztlich besteht. Auf ihrem Ausbildungsweg ist ihnen ein stattlicher Werkzeugkasten überreicht worden, prallgefüllt mit Dutzenden, wenn nicht Hunderten von unterschiedlichen Instrumenten. Der Laie hingegen, wie sie selbst vor Studienbeginn, kennt und nutzt im allgemeinen nur ein paar wenige.
Jegliche allgemeinen Bedienungsanleitungen, wie sie wissenschaftliche Ausbildungen zu vermitteln vorgeben, erweisen sich im alltäglichen Gebrauch, beim Helfen und Heilen, freilich als weitgehend nutzlos. Denn die Instrumente müssen in einer Welt zum Einsatz kommen, in der verwirrenderweise kein Werkstoff, kein zu reparierender Gegenstand dem anderen gleicht.
Im Laufe der Zeit dämmert manchen Profis, wie sinnfrei die Frage ist, welches Instrument denn nun das allerbeste sei. Ist ein Schraubenzieher besser als ein Hammer oder eine Feile, eine Säge oder ein Lötkolben? Im Handwerk wie beim Psychotherapieren lautet die Antwort: Kommt drauf an. Wirkliche Könner gehen nach und nach dazu über, ihr Werkzeug pragmatisch einzusetzen, je nach Einzelfall und Umständen - wie, lehrt sie nicht der Prof, das Lehrbuch und die Fachzeitschrift, sondern das pralle Leben. Erweist sich ein Instrument als ungeeignet, greifen sie undogmatisch zu einem anderen, oder sie kombinieren mehrere miteinander. Je ausgiebiger sie damit hantieren, desto sicherer, erfinderischer und spontaner werden sie darin. Dabei verdrängt Intuition zunehmend Deduktion. So, und niemals nach Schema-F-Methodik und Schema-G-Theorie, funktioniert Psychotherapie, die hilft - einerlei, ob ein Profi oder ein Amateur sie ausübt.
Vielen Laien fällt es schwerer, objektiv zu sein
Je näher Laien dem Hilfesuchenden stehen, desto eher sind sie voreingenommen und befangen, wenn sie einzuschätzen versuchen, was ihm aus welchen Gründen fehlt. Ihr Urteilsvermögen könnten Sympathien trüben, vielleicht auch ein handfestes Interesse daran, einen Gesunden für krank oder einen Kranken für gesund zu erklären. An einen Therapeuten wendet man sich in ähnlicher Erwartung, die man einem Richter entgegenbringt: Man sieht in ihm eine neutrale Instanz, frei von vorgefassten Meinungen (worin man sich hin und wieder täuscht). Therapeuten fehlt in der Regel ein Motiv, sich nicht um Objektivität zu bemühen. Jeder beliebige Befund kann ihnen gleichermaßen recht sein, es sei denn, sie haben zuwenig zu tun, weshalb sie Kundschaft an sich binden wollen. Aber auch manche Laien sind durchaus imstande, eine innere Notlage sachlich zu betrachten und Bindungen vorübergehend auszublenden.
Profis nützt ein größerer Erfahrungsschatz
Profis verbringen mehr Zeit mit seelisch Belasteten. So wahr wie banal: Je öfter und länger man sich mit einer Sache befasst, desto besser kennt man sich im allgemeinen mit ihr aus. Wer täglich stundenlang TV-Gekicke guckt, im Zoo vor dem Schimpansenkäfig hockt oder seine Briefmarkensammlung pflegt, weiß weitaus mehr über Fußball, Affen und Postwertzeichen als jemand, der das bloß gelegentlich oder niemals tut – auch ohne DFB-lizenzierter Fußball-Lehrer, Diplom-Zoologe oder Philatelist zu sein. Dem psychologischen Laien hat der Profi voraus, dass er mit seelisch Belasteten von morgens bis abends zu tun hat, nicht bloß ab und zu stundenweise. Kein Wunder, dass er aus einem weitaus größeren Erfahrungsschatz schöpfen kann. Und weil ihm psychische Einschränkungen vertrauter sind, geht er von vornherein gelassener mit ihnen um. Auf Überraschungen ist er eher vorbereitet, unabsehbare Gesprächsverläufe und plötzliche Gefühlsausbrüche bringen ihn weniger aus der Fassung, und so wirkt er souveräner.
Profis kommt Expertengläubigkeit zugute
Hilfesuchende öffnen sich eher für einen Helfer, in dem sie einen Experten sehen, ob zurecht oder voreilig. Man kennt das von Parties, man erlebt es in Reisegruppen: Kaum hat sich einer als Psycho-Profi geoutet, da legen Anwesende hemmungslos einen Seelenstriptease hin: Sie enthüllen intime Probleme, spitzen die Ohren, lauschen gebannt. Die Hemmschwelle, sich vor Fachleuten zu entblößen, liegt erheblich niedriger. Dem Gynäkologen zeigt man im Krankheitsfall ziemlich ungeniert seine Geschlechtsteile – wer würde das vor einem Bekannten, einem Kollegen, einem Nachbarn tun? Einem Psycho-Profi gewährt man im allgemeinen tiefere Einblicke ins eigene Innere, auch in Begebenheiten, Neigungen und Phantasien, derer man sich gewöhnlich schämt. Das verschafft ihm einen Informationsvorsprung - einen, der freilich nicht auf wahrer Wissenschaft beruht, sondern auf einem Statusgefälle und eingefleischten Rollenerwartungen.
Dem Laien fehlt das Informationsnetz
Unter Laienpsychologen überwiegen Einzelgänger. Begegnen sie fremdem Leid, so beraten und behandeln viele drauflos, auf eigene Faust, ausgehend von persönlichen Erfahrungen. Beim Helfen schöpfen sie vornehmlich aus sich selbst. Professionelle Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater hingegen werden im Laufe ihrer Ausbildung in eine gut vernetzte Großgruppe eingeführt, in der man rege Informationen austauscht und Rückmeldungen gibt: die scientific community. In Fachzeitschriften und Newslettern, auf Kongressen, Tagungen und Weiterbildungsveranstaltungen werden Erfahrungen berichtet, verglichen, zur Diskussion gestellt: Wie machen es Andere? Was hat bei einer bestimmten Störung geholfen, was nützte weniger bis nichts, was richtete eher Schaden an? Wissenschaft ist eine kollektive Lebensform. Von der Anbindung an sie zehren praktizierende Seelenheilkundige weiterhin, nachdem sie den Hochschulbetrieb hinter sich gelassen haben. Jede Wette: Würden psychologisch interessierte Laien in großer Zahl beschließen, gemeinsame Plattformen des Erfahrungsaustauschs zu schaffen – auch ohne akademische Vorbildung brächten sie noch weitaus mehr zustande als ohnehin.
Eine organisierte, auf ständigen Austausch ausgerichtete Gemeinschaft hat noch einen weiteren Vorteil: Erworbenes Wissen kann sie systematisch anhäufen – und daran wachsen. Wissenschaft entwickelt sich kumulativ: Jede neue Generation baut darauf, was vorherige hinterlassen haben. Sie übernimmt deren Erkenntnisse, modifiziert oder erweitert sie, macht sich schon gefundene, bewährte Lösungen zunutze. Wer daran teil hat, gleicht dem Zwerg, der auf den Schultern von Riesen steht: Er sieht weiter. Brächte es die Multimillionenschar fähiger Laienpsychologen außerhalb des Wissenschaftsbetriebs zustande, ihre gesammelten Erfahrungen ebenso zu bewahren und daran anzuknüpfen: Im Wettbewerb mit akademischen Psychologen schnitte sie noch erheblich besser ab.
Die meisten Profis waren von vornherein begabter
Die Nase vorn haben Psycho-Profis durchweg bereits, ehe ihre akademischen Lehrjahre begannen. Im Kümmern um psychisch Belastete eine Berufung zu sehen und einen entsprechenden Beruf anzustreben, anstatt lieber Handwerker, Ingenieur oder Bankkaufmann, Chemiker, Dolmetscher oder Programmierer zu werden: das zeichnet junge Leute aus, die brennend daran interessiert waren, was in Anderen vorgeht, lange bevor sie ein Hochschulgebäude betraten. Immer schon fielen sie durch ein besonderes Geschick auf, ihre Mitmenschen aufmerksam zu beobachten und einzuschätzen, feinfühlig auf sie einzugehen, sich in sie hineinzuversetzen, sie aufzurichten. Immer schon konnten sie besonders achtsam zuhören und beobachten, sich einfühlen und kommunizieren. Es gelingt ihnen eher, sich selbst zurückzunehmen und Fehler zu vermeiden, die Verstehen erschweren: beispielsweise ein Anderssein abzuwerten, recht haben wollen, manipulieren, Respekt verweigern, vom eigenen Fall kurzschließen, sich von eigenen Vorurteilen, Abneigungen und Denkgewohnheiten beherrschen lassen. Die Befähigung hierfür, die ihnen angeblich erst ein Studium vermittelt, brachten sie bereits ins erste Semester mit. Kein Wunder, dass vortreffliche Menschenversteher unter ihnen häufiger vorkommen als im Bevölkerungsdurchschnitt. In Leistungstests zum sozialen Verstehen und Unterstützen würde ein Großteil der Diplom-Psychologen, psychiatrischen Fachärzte und staatlich anerkannten Psychotherapeuten vermutlich höher performen als andere Berufsgruppen - doch das täten sie auch, wenn solche Vergleiche schon vor Beginn ihrer akademischen Laufbahn stattfänden. Sollten wir eine Tauchschule für Fische loben, wenn ihre Absolventen unter Wasser klarkommen?
Mehr Optionen
Was geben jungen Leuten ein Hochschulstudium, psychotherapeutische und psychiatrische Zusatzausbildungen dann an die Hand? Keine zuverlässigen Bedienungsanleitungen, sondern günstigstenfalls weitere Handlungsoptionen, über jene hinaus, mit denen sie vorher schon vertraut waren. Keine schlüssigen Erklärungen, sondern eine Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten – Schablonen, Textbausteine und Bilder für Geschichten, mit denen sie Unverstandenen Sinn vermitteln. Langjährige Berufstätigkeit beschert ihnen obendrein reichlich Erfahrungen damit, wie sich bestimmte Vorgehensweisen auswirken können; Gelegenheiten, eigene soziale Fähigkeiten weiterzuentwickeln; praktische Lektionen darin, Mitgefühl nicht in Mitleid abgleiten zu lassen, Nähe nicht in plumpe Vertraulichkeit, gegenseitige Sympathie nicht in eine Bindung, die abhängig macht. Außerdem zehren sie von dem erheblichen Vorsprung an Prestige und Autorität, den ihnen das Wissen Hilfesuchender um ihren akademischen Hintergrund verschafft.
Das ist es, was sie den Laienhelfern in unseren Camps voraushaben. Wenn sie es Patienten zugute kommen lassen, dann weniger aufgrund ihrer universitären Ausbildung, sondern an ihr vorbei, über sie hinweg, ja gegen sie. Was Psychologen verstehen hilft, sind in erster Linie grundlegende psychosoziale Fähigkeiten, die im Wissenschaftsbetrieb nicht nur keine Förderung erfahren, sondern im Gestrüpp von „Varianzanalysen“ und „Signifikanztests“, „Kreuzvalidierungen“ und „Cronbachs Alpha“, „Intervallskalierungen“ und „kumulativen Verteilungsfunktionen“ eher verkümmern. Hochschulpsychologie ist der organisierte Versuch, angehende Psychologen vergessen zu lassen, worum es ihnen ging, als sie welche werden wollten, und ihnen auszutreiben, was sie dringend benötigen, um zu helfen.
So löst sich ein vermeintlicher Widerspruch auf: Nicht die Psychologie, wohl aber manche Psychologen können seelisch Belasteten eine große Hilfe sein. Ein Psychologe, egal wie wissenschaftlich sein Selbstverständnis ausfällt, ist nicht fleischgewordene Wissenschaft. Er ist ein Subjekt wie wir. Er hatte ein Leben vor seiner Begegnung mit der universitären Psychologie. Er hatte eines während seines Studiums. Er hat es außerhalb seiner Praxis, aber auch während seiner Sprechstunden in jedem Moment, in dem er intuitiv und spontan agiert und reagiert, ohne sein Handeln lehrbuchkonform aus angelernten Studiendaten, Methoden und Theorien herzuleiten – also so gut wie immer. Über all die sozialen Fähigkeiten, die Laienhelfer in Beziehungen einzubringen haben, verfügt auch er – allerdings oft in erheblich höherem Maße als Vertreter anderer Berufsgruppen. Kurzum: Seine Praxis gestaltet er mittels Fähigkeiten, die ihn immer schon ausgezeichnet haben.
Nun wird ein übereinstimmender Befund mehrerer Wirksamkeitsstudien verständlicher: Zumindest ein Teil der professionellen Therapeuten bringt erheblich zustande als üblich. Wie in jeder Berufsgruppe, so finden sich auch unter ihnen wenige herausragende Könner - Supershrinks, wie amerikanische Therapieforscher sie salopp getauft haben. Die Fähigsten erzielen bei ihren Klienten Besserungsraten, die zehnmal höher sind wie im Therapeutendurchschnitt (7), die Abbruchquoten sind in ihren Praxen weniger als halb so hoch. (8) Worin besteht ihr Erfolgsgeheimnis? Sie sind imstande, eben jene allgemeinen Wirkfaktoren geschickt ins Spiel zu bringen, dank derer auch manche psychologischen Amateure zu vortrefflichen Seelenhelfern werden.
Nach Aristoteles sind Tugenden ideal ausgeprägt, wenn sie die Mitte zwischen den Extremen halten: die Freigebigkeit beispielsweise zwischen Geiz und Verschwendungssucht, die Tapferkeit zwischen Feigheit und Tollkühnheit. Mit dieser Richtschnur in Händen sollte es unterschätzten Laienpsychologen gelingen, die Waage zu halten, wann immer sie mit Psychoprofis zu tun bekommen: zwischen lächerlichem, respektlosen Größenwahn und vorauseilender Selbstverzwergung.
Zur Ehrenrettung der Putzkraft
„Ist das alles dein Ernst?“, entfuhr es meinem alten Bekannten, einem Psychologie-Dozenten, nachdem er sich die Gefälligkeit angetan hatte, das Manuskript dieses Buchkapitels mir zuliebe gegenzulesen. „Du würdest also eher zur Putzfrau gehen als zum Psychotherapeuten“, spöttelte er kopfschüttelnd, „und eher zum Stammtisch als in die psychiatrische Fachklinik, falls du aus einem seelischen Tief aus eigener Kraft nicht mehr herauskämst?“
Damit brachte er mich im Nu auf die Palme: „Zeugt es nicht eher von küchenpsychologischer Voreingenommenheit und der Arroganz des Akademikers als vom Geist der Wissenschaft, wenn du Reinigungskräfte und gesellige Lokalrunden pauschal abwertest? Wenn die Putzfrau mit mir so umzugehen verstünde, wie ich mir das von jemandem wie dir wünschen würde: Warum eigentlich nicht? Was sie dazu in erster Linie bräuchte, lernt man schließlich nicht erst und ausschließlich an der Uni.“
Weil ich dafür einen entgeisterten Blick erntete, fuhr ich fort: „Lass mich empirisch werden. Aus eigener Erfahrung kann ich unter Eid beschwören: Obwohl ich in den vergangenen vierzig Jahren bestimmt eine dreistellige Zahl von professionellen Seelenheilkundigen kennenlernte, verdanke ich einige der psychologisch tiefgründigsten, bewegendsten, hilfreichsten Begegnungen: einem Physiklehrer, einer Erzieherin, einer Sozialarbeiterin, einer Buchhalterin, einer Mathematikerin, einem Radiologen, einer Zahnarzthelferin sowie einer Werbefachfrau mit Hauptschulabschluss. Sie erreichten, berührten und bewegten mich – übrigens mehr als du, offen gestanden.“
Seither ist unser Kontakt abgerissen.
Dieser Text ist ein Auszug aus Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 3: Seelentief: ein Fall für Profis?, Schönbrunn 2017, 2. erw. u. aktualisierte Aufl. 2024; 124 S., auch als PDF.
Die Folgen dieser Serie („Helfen Psycho-Profis wirklich besser?“)
10 Pragmatismus statt Lobbyismus - Für eine weise Psycho-Politik
Anmerkungen
1 Ein Merkmal der Body Integrity Identity Disorder (BIID).
2 Zu solch grausamen Methoden greifen Eltern mit sog. „Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom“, um die Aufmerksamkeit von Ärzten und Mitmenschen zu bekommen; rund 15 Prozent der betroffenen Kinder überleben solche Torturen nicht.
3 S. O. Lilienfeld u.a.: 50 Great Myths of Popular Psychology: Shattering Widespread Misconceptions about Human Behaviour, Chichester 2010.
4 Dreizehn nicht zutreffende Aussagen dieser Art, neben drei richtigen, bewerteten in einer 2013 veröffentlichten Studie 1688 Laien zwischen 16 und 82 Jahren sowie 142 psychologische Experten, s. U. P. Kanning/F. Rist/M. T. Thielsch: „Mythen der Alltagspsychologie – Was wissen Laien über (vermeintliche) Forschungsergebnisse?“, Skeptiker 26 (1) 2013, S. 10-15.
5 Kanning u.a., a.a.O., Anm. 108.
6 Südwest Presse, 15.12.2015: „Sarg-Schock soll vor Selbstmord schützen.“
7 J. Okiishi u.a.: „Waiting for Supershrink: An Empirical Analysis of Therapist Effects“, Clinical Psychology and Psychotherapy 10/2003, S. 361-373.
8 Barry Duncan/Scott Miller: „Supershrinks: What is the secret of their success?“, Psychotherapy Networker, Nov/Dez 2007, https://www.researchgate.net/publication/284394201_Supershrinks_What_is_the_secret_ of_their_success
Das Titelbild ließ ich von Microsofts KI „Bing Image Creator“ generieren.
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