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Dr. Harald Wiesendanger

Nimmersatte Mietmäuler - Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer

Aktualisiert: 27. Feb. 2023

Wer ein Produkt verkaufen will, muss nicht jeden einzelnen Konsumenten ansprechen. Es genügt, ein paar ausgewählte, gut vernetzte, überaus populäre Leute, „Influencer“, dafür zu gewinnen, es lautstark anzupreisen. Dann ist es bloß eine Frage der Zeit, bis sich ihre Empfehlung wie ein Lauffeuer verbreitet. Das macht die Meinungsführer der Ärzteschaft so ungeheuer wertvoll für die Pharmaindustrie – und die evidenz- zur eminenzbasierten Medizin.


Sie wollten immer schon für umme in der Suite eines Fünf-Sterne-Hotels nächtigen? In Nobelrestaurants auf Michelin-Niveau speisen, ohne dass der Kellner Sie am Ende mit einer Rechnung belästigt? Freikarten für Olympische Spiele oder eine Fußball-WM ergattern, Logenplatz inclusive? Einen kostenlosen Strandurlaub in Florida oder auf Hawaii verbringen? Dorthin in der Business Class fliegen, ohne sich dafür ein Ticket besorgen zu müssen? Umsonst in exklusiven Nightclubs den Augenschmaus aufreizender Girls genießen, deren Dienstkleidung eher nach Geschenkverpackung aussieht? Sich in feucht-fröhlicher Männerrunde für null Cent in einem Edelbordell vergnügen?


Sie wären gerne so wichtig, dass Sie vor über tausend Kollegen eine vielbeklatschte Rede halten dürfen - und dafür rund 5000 Euro zugesteckt bekommen? Für die Teilnahme an einer sechsstündigen Gesprächsrunde möchten Sie fast 7.000 Euro einstreichen, für einen Aufsatz knapp 16.000 Euro? (1) Ihr guter Rat, acht Tage lang erteilt, sollte über 350.000 Euro wert sein? (2)


Dann werden Sie Arzt. Und bringen Sie es zu was. Leiten Sie ein größeres Krankenhaus, am besten eine Uniklinik. Besetzen Sie einen Lehrstuhl. Gehören Sie dem Vorstand Ihrer Fachgesellschaft an. Geben Sie eine medizinische Zeitschrift heraus. Lassen Sie sich in Kommissionen wählen. So oder so klappt es dann ziemlich sicher.


Aber wer bezahlt all die offenen Rechnungen, wer lässt die traumhaften Honorare springen? Und wozu überhaupt?


Die Macht der Silberrücken


Unter Gorillas geht es seltenst zu wie in einem basisdemokratischen Debattierklub. An ihrer Spitze steht mindestens ein älteres Männchen mit silbergrauem Rückenfell – ein Insignium der Macht, das sich entwickelte, als sein stolzer Träger voll ausgewachsen war. Ihre Gruppe dirigieren die Chef-Primaten mit Imponiergehabe und Gebrüll. Artgenossen versperren sie den Zugang zur Macht. Mit plötzlichen aggressiven Ausrastern ist jederzeit zu rechnen, wie auch mit dem Ausstoß von Duftmarken, bei Ärger und Gefahr: Stinkt der Silberrücken, hat er was zu sagen.


Von „Silberrücken“ wimmelt es, im übertragenen Sinne, in der Medizin wie in kaum einem anderen Lebensbereich. Das Sagen haben etwas ältere Männer, häufig mit grauen Schläfen und stets mit überaus dominanter Ausstrahlung. Auf sie hört, ihnen folgt die Herde. Wer sich ihnen widersetzt, kann was erleben. Für ihre soziale Position werden Silberrücken im Affenreich mit der leichten Verfügbarkeit von Weibchen belohnt - unter Menschen des öfteren ebenfalls, vor allem aber mit Geld und Ansehen.

Was Verhaltensforscher „Alphatiere“ nennen, bezeichnen Sozialwissenschaftler als opinion leaders oder influencers: Menschen, die innerhalb einer Gruppe als „Meinungsführer“ größten Einfluss ausüben. Sie genießen hohes Ansehen. Ihnen hört man besonders aufmerksam zu. Recht häufig schließt man sich ihren Meinungen an, folgt ihren Empfehlungen, richtet eigene Entscheidungen daran aus.


Für jeden, der ein Produkt verkaufen will, sind menschliche „Silberrücken“ von allergrößter Bedeutung. Warum sollten sich Werbung und Marketing darauf beschränken, direkt beim Endverbraucher Interesse und Kauflust zu wecken? Geht es auf Umwegen nicht viel einfacher, billiger und wirkungsvoller? Genügt es nicht, einige ausgewählte, gut vernetzte, überaus populäre Leute dafür zu gewinnen, die Ware möglichst begeistert und lautstark anzupreisen? Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich ihr Lob wie ein Lauffeuer verbreitet.


Der gefeierte Propagandist dieses Ansatzes, der kanadische Unternehmensberater Malcolm Gladwell, schwärmt in seinem Bestseller Tipping Point – Wie kleine Dinge Großes bewirken können (2001): „Eine totgesagte Schuhmarke, die über Nacht zum ultimativ angesagten Modeartikel wird. Ein neu eröffnetes Restaurant, das sofort zum absoluten Renner wird. Der Roman einer unbekannten Autorin, der ohne Werbung zum Bestseller wird. Für den magischen Moment, der eine Lawine lostreten und einen neuen Trend begründen kann, gibt es zahlreiche Beispiele. Wie ein Virus breitet sich das Neue, einer Epidemie gleich, unaufhaltsam flächendeckend aus. So wie eine einzelne kranke Person eine Grippewelle auslösen kann, genügt ein winziger, gezielter Schubs, um einen Modetrend zu setzen, ein neues Produkt als Massenware durchzusetzen (...) Wenig Aufwand kann zu einem Mega-Erfolg führen.“


Auch Pharmaunternehmen wissen das.


Eine Arznei zu vermarkten, ist überall dort, wo Rezeptpflicht herrscht, allerdings weitaus heikler als bei anderen Produkten. Wenn nicht der Konsument selbst entscheidet, ob er sie braucht, sondern sein Arzt, der den Bezugsschein ausstellt, so gilt es, diesen zum Verschreiben zu bewegen. Einerseits erleichtert sein unerreichtes Sozialprestige die Mühsal des Überredens, denn der Patient vertraut seinem Arzt in einem Maße, wie er es den Werbe- botschaften eines Herstellers gegenüber niemals täte. Ärzte als Umsatzförderer einzuspannen, ist andererseits aber viel schwieriger, als ein zeigefreudiges Girlie als Youtube-“Influencerin“ für Klamotten oder Schminke anzuheuern. Schließlich handelt es sich bei Ärzten um überdurchschnittlich kluge, gebildete, kritische Zeitgenossen. Durchschauen sie schnöde Geschäftsinteressen nicht viel eher als Otto Normalversteher? Halten sie nicht weitaus größeren inneren Abstand zu aufdringlichen Pillenverkäufern?


Eminenz- statt evidenzbasierte Medizin


Aus dieser Klemme helfen die Meinungsführer des Medizinbetriebs vorzüglich - die KOLs, vom englischen „Key Opinion Leaders“, wie die Masterminds des Pharma-Marketings sie nennen. Denn zu KOLs schaut der praktizierende Arzt auf. Sie lehren und forschen als Professor. Bei der ärztlichen Fortbildung stehen sie am Rednerpult. In Unikliniken sitzen sie auf Chefsesseln, stehen ärztlichen Standesorganisationen vor. Sie organisieren und leiten große Fachkongresse. Als Verfasser von Standardwerken, als Herausgeber oder ständige Autoren angesehener Fachjournale haben sie sich hervorgetan. Sie beraten und entscheiden in gewichtigen Ausschüssen und Gremien mit. Als Gutachter finden sie bei politisch Verantwortlichen offene Ohren.


Zum Beispiel der Anästhesist J.B. Eine große Nummer war er mal in Deutschlands Spitzenmedizin. Bei Kongressen, in seinen Lehrveranstaltungen galt der Chefarzt am Klinikum Ludwigshafen als brillanter Redner. Dass er seinem beeindruckten Publikum oft vorsätzlich Humbug auftischte, war erst klar, nachdem er 2010 als dreister Datenfälscher entlarvt wurde. Als echtes Wundermittel hatte er jahrelang das Medikament Hydroxylethylstärke (HES) angepriesen, einen aus Mais- oder Kartoffelstärke hergestellten Blutplasmaersatz. Wie er in mehreren eigenen Studien herausgefunden haben wollte, stabilisieren HES-Infusionen den Kreislauf von Patienten auch bei immensem Blutverlust und machen Transfusionen überflüssig.


Seinen Job, seine Professur, sein Ansehen verlor J.B., als aufflog, dass er emsig gefälscht hatte: In Wahrheit half HES nicht nur keineswegs, es konnte erheblichen Schaden anrichten. (3)


Jeglicher Industrieferne unverdächtig machte sich Professor H.-J. M., von 1994 bis 2012 Direktor der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ein Topmann seines Fachs war er: als Autor oder Mitverfasser von mehreren Lehrbüchern und über 1100 wissenschaftlichen Aufsätzen, als Herausgeber führender Fachzeitschriften, als Mitglied und Präsident zahlreicher Fachgesellschaften. Eifrig „beriet“, forschte und referierte er für mindestens 14 Pharmariesen, von Astra Zeneca über Bristol-Myers Squibb, Eli Lilly und GlaxoSmithKline bis hin zu Janssen-Cilag, Lundbeck, Merck, Novartis und Pfizer. Das Abmagerungsmittel Acomplia pries er in einer Werbeveranstaltung des Herstellers sowie einem Artikel für das hochangesehene British Medical Journal für ein „günstiges Nutzen-Risiko-Profil“ – teilweise sogar noch, nachdem die US-Gesundheitsbehörde dem Appetitzügler schon die Zulassung verweigert hatte, wegen schwerer Nebenwirkungen: Depressionen, Suizidgedanken, Angstzustände, Gedächtnisstörungen, Krampfanfälle, Atemwegsinfektionen, Übelkeit, Durchfall. Ebenso nachdrücklich lobte M. das Antidepressivum Valdoxan – Wirkstoff Agomelatin -, dem die europäische Arzneimittelagentur wegen fehlender Wirksamkeit die Anerkennung verweigerte. (4)


M. befindet sich in bester Gesellschaft. Für Bristol-Myers Squibb und Otsuka referierte, für sechs weitere Pharmariesen forschte Professor W. M., Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn, Sprecher zweier vom Bundesforschungsministerium geförderter „Kompetenznetze“ für Demenz, federführender Herausgeber der maßgebenden Fachzeitschrift Der Nervenarzt; von 2012 bis 2014 war M. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), mehrfach leitete er deren Jahreskongresse. (5)


Einer von W.M.´s Vorgängern im DGPPN-Vorsitz (2001/2002), Professor M. S., machte sich auf Werbeveranstaltungen von Pfizer, Merz, Pharmacia und Lundbeck für die umstrittenen Antidepressiva Cymbalta, Solvex und Cipralex sowie die Neuroleptika Zeldox und Abilify stark. (6)


Als „Consultant“ und Vortragender für ein rundes Dutzend Pharmagiganten legte sich Professor S. K. von der Psychiatrischen Universitätsklinik Wien ins Zeug. (7) Von 2005 bis 2009 war er Präsident einer der drei weltweit führenden Gesellschaften seines Fachs, der World Federation of Societies of Biological Psychiatry; er saß der Sektion Pharmakopsychiatrie der World Psychiatric Association (WPA) vor; von 2012 bis 2016 gehörte er dem Führungsgremium des International College of Neuropsychopharmacology (CINP) an.


Preisfrage: Welche Art von Behandlung seelisch Belasteter stellen solche Leute wohl in ihren Kliniken sicher?


Standesethik verhöhnt


Eine vielsagende Probe aufs Exempel machte der österreichische Journalist Hans Weiss. Getarnt als „Peter Merten, freier Strategischer Berater“ eines Wiener Pharmaunternehmens, wandte er sich in den Jahren 2007 und 2008 an fünf weltweit angesehene Psychiater in leitenden Positionen an Unikliniken oder Großkrankenhäusern. (8) Seine Firma habe ein tolles neues Antidepressivum entwickelt, so schwindelte er – und unterbreitete ihnen ein verlockend unmoralisches Angebot. Würden sie sich dafür kaufen lassen, eine klinische Studie durchzuführen, die der Weltärztebund als unethisch einstuft, zumindest aber als ethisch fragwürdig: eine an schwerkranken Patienten mit stärksten Depressionen? Die nötige „Placebokontrolle“ hätte erfordert, jedem Zweiten monatelang ihre bewährte Therapie vorzuenthalten, stattdessen bloß eine unwirksame Scheinarznei zu verabreichen – und das, obwohl Medizinstudenten schon in ihren ersten Semestern lernen, wie entsetzlich bei höchstgradig Depressiven der Leidensdruck, wie erheblich das Selbstmordrisiko ist. Für den Studienleiter sah Mertens Offerte ein Honorar von 8000 Euro vor. Pro teilnehmendem Patienten, versteht sich. Ergäbe bei fünfzig Probanden happige 400.000 Euro.


Das niederschmetternde Ergebnis: Alle fünf Geköderten erklärten sich bereit einzusteigen oder mochten sich näheren Verhandlungen zumindest „nicht verschließen“. Könnten sie klarer gegen die ärztliche Standesethik verstoßen? „Die Gesundheit meines Patienten“, heißt es in der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes, „soll mein vornehmstes Anliegen sein. Der Arzt soll bei der Ausübung seiner Tätigkeit ausschließlich im Interesse des Patienten handeln. In der medizinischen Forschung haben Überlegungen Vorrang, die das Wohlergehen der Versuchspersonen betreffen.“ (9)


Anmerkungen

1 Berechnet nach dem jeweils üblichen durchschnittlichen Stundensatz und Zeitaufwand, nach dem die Pharmabranche Einsätze von Meinungsbildnern um Jahre 2007 vergütete, s. Cutting Edge: Pharmaceutical Opinion Leader Management - Cultivating Today´s Influential Physicians for Tomorrow (2007), zit. nach Hans Weiss: Korrupte Medizin - Ärzte als Komplizen der Konzerne, 3. Aufl. Köln 2008, S. 84-86. Gewiss kam seither noch ein großzügiger „Inflationsausgleich“ hinzu.

2 R. Abelson: „Whistle-blower suit says device maker generously rewards doctors“, New York Times 24.1.2006.

3 Veronika Hackenbroch: „Zu schön, um wahr zu sein“, Spiegel Online vom 29. November 2010: www.spiegel.de/spiegel/print/d-75376536.html.

4 Nach Hans Weiss: Korrupte Medizin - Ärzte als Komplizen der Konzerne, a.a.O., S. 148 f., 259.

5 Nach Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 163, 258., Eintrag zu W. M. bei Wikipedia.de, abgerufen am 30.12.2016.

6 Nach Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 169 f., S. 261; Eintrag zu M. S. bei Wikipedia.de, abgerufen am 30.12.2016.

7 Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 171 f. und 265; Eintrag zu S. K. bei Wikipedia.de, abgerufen am 30.12.2016.

8 Siehe Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 141-191.

9 Siehe „WMA Deklaration von Helsinki“, www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/ user_upload/Deklaration_von_Helsinki_2013_DE.pdf, abgerufen am 30.12.2016.

Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen:

9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer

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