Weshalb trauen wir berufsmäßigen Seelenhelfern weitaus mehr zu als unsereinem? Warum gehen wir wie selbstverständlich davon aus, dass Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater viel mehr wissen und können als wir, wenn es um unser Innenleben geht? Unsere Expertengläubigkeit hat drei Hauptgründe: ein unbefriedigtes Bedürfnis nach Orientierung, nachdem Traditionen an Bedeutung verloren; die Hypersensibilität von materiell Sorgenfreien in einer Wohlstandsgesellschaft, das „Prinzessin-auf-der-Erbse“-Syndrom; und vor allem die weltbewegende Macht der pharmazeutischen Industrie: ihren Marketingstrategen ist es gelungen, einen erweiterten Krankheitsbegriff durchzusetzen - und uns vor immer neuen „Störungen“ das Fürchten zu lehren.
Was wissen und können professionelle Seelenhelfer besser als unsereins? Wieviel trauen wir Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiatern zu? In Meinungsumfragen würden wohl die meisten von uns, und erst recht die Profis selbst, den folgenden Ansichten beipflichten:
„Es gibt psychische Krankheiten, genauso wie körperliche. Immer mehr Menschen sind davon betroffen.“
„Psychoprofis können solche Störungen zuverlässig erkennen, wirksam behandeln, plausibel erklären und recht genau voraussehen.“
„Ein Hochschulstudium vermittelt die nötigen Fähigkeiten dazu.“
„Laien hängen einer naiven Küchenpsychologie an. Der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt wird über sie hinweggehen.“
Die ersten Semester meines Psychologiestudiums verliefen unbelastet von Zweifeln an alledem. Zwar ächzte ich, wie die meisten meiner Kommilitonen, unter den Vertracktheiten von Statistik und Methodenlehre. Aber war die Tortur nicht der angemessene Preis, den ich dafür zahlen musste, mich endlich aus den Denkfallen der Laienpsychologie zu befreien, indem ich die Rätsel von Geist und Seele wissenschaftlich angehen lernte? Tat ich in meiner persönlichen Entwicklung dabei nicht einen gewaltigen Entwicklungsschritt, mit dem auf höherem intellektuellem Niveau Phase Zwei meines Lebens begann, ein Zeitalter der Aufklärung innerhalb meiner Biografie? War es nicht großartig, dass ich mich beim Erklären und Vorhersagen, wie Menschen sich verhalten, von nun an auf systematisches Beobachten objektiver Sachverhalte, auf hochwertige Erkenntnismethoden wie Tests und Experimente, auf daraus gewonnene Theorien stützen konnte? War es nicht redlich und für einen akademisch Gebildeten alternativlos, dass ich mich künftig darauf beschränkte?
So hörte ich es von meinen Professoren, so las ich es in Lehrbüchern. Und es leuchtete mir ein, zumal ich nun eine Vielzahl von spannenden, aufschlussreichen Untersuchungen kennenlernte, die darauf beruhten, wissenschaftliche Forschungsregeln konsequent anzuwenden. Zwar ergaben sie kaum je psychologische Gesetzmäßigkeiten, sondern bloß mehr oder minder ausgeprägte Wahrscheinlichkeiten. Doch immerhin widerlegten sie verbreitete Vorurteile. Sie machten auf Überraschungen gefasst, die dem keineswegs gesunden Menschenverstand zuwiderliefen. Und sie begründeten Erwartungen, wie eine Vielzahl von Menschen, oder einzelne Gruppen von Menschen mit bestimmten Merkmalen, unter bestimmten Umständen wahrnehmen und fühlen, denken und handeln. Sollte das für einen Psychologen nicht genügen, um stolz auf sich und sein Fach zu sein – und selbstbewusst davon auszugehen, dass er weitaus mehr weiß und kann als ein hochschulferner Amateur?
„Allerdings!“, hätte ich nach fünf Studienjahren auf solche Fragen mit Nachdruck geantwortet.
Zum Umdenken haben mich erst die vier anschließenden Jahrzehnte bewegt - ganz besonders Erfahrungen, die ich einer Stiftung namens „Auswege“ für chronisch Kranke verdanke, welche ich 2005 ins Leben rief. Bis Ende 2021 lernte ich in 34 Therapiecamps dieser Einrichtung Hunderte von psychisch Belasteten kennen, deren Vertrauen in eine wissenschaftlich begründete Psychotherapie und Psychiatrie bitter enttäuscht wurde – jahrelang, vereinzelt seit Jahrzehnten. Jeder vierte Hilfesuchende brachte in die „Auswege“-Camps die Diagnose einer psychischen Erkrankung mit: von Autismus, ADHS und anderen Verhaltensstörungen über Depressionen und Phobien bis hin zu Zwängen. Es fanden Angstgeplagte, Ausgebrannte und Traumatisierte dorthin, gelegentlich sogar mutmaßlich Schizophrene. Und wenngleich bei den übrigen Teilnehmern körperliche Beschwerden im Vordergrund standen, kamen auch sie zumeist seelisch schwer angeschlagen an.
In den bis zu 20-köpfigen Helferteams, die sich ehrenamtlich um diese Menschen kümmerten, begegnete ich bemerkenswerten Persönlichkeiten, die in solchen Fällen verblüffend erfolgreich arbeiteten: Nach siebeneinhalb Behandlungstagen ging es über 90 Prozent der Patienten psychisch besser als je zuvor in der Obhut von ausgebildeten Seelenheilkundigen. Keinerlei Psychopharmaka kamen zum Einsatz. Erstaunlich oft hielten die erzielten Besserungen an. Ist es abwegig zu vermuten, dass sogar noch deutlich mehr zu erreichen gewesen wäre - und Erreichtes noch stabiler fortbestanden hätte -, wenn die Campteilnehmer nicht nach gut einer Woche hätten heimgeschickt werden müssen?
Dabei handelte es sich bei den Helfern fast ausnahmslos um Amateure, ohne medizinisch-psychologische Ausbildung, mit erlernten Berufen wie Dreher, Steuerfachgehilfin, Arzthelferin, Deutschlehrer, Finanzberater oder Wirtschaftsingenieur. Trotzdem bewirkten sie offenkundig mehr als jeder Psycho-Profi vor ihnen.
Wie ist das möglich? Was lehren die Therapiecamps der Stiftung Auswege darüber, wie wertvoll und unverzichtbar professionelle Seelenkunde ist, wie überlegen deren akademisch graduierten Anwender?
Heute würde ich darauf antworten: Im Bestreben, objektive Wissenschaft zu sein, haben Psychologie und Psychiatrie Subjekte aus den Augen verloren - Personen mit Bewusstsein, einer einmaligen Erlebnisperspektive und einer einzigartigen Geschichte, in immer besonderen Lebensumständen. Die Verhaltenswahrscheinlichkeiten, mit denen Fachzeitschriften, Lehrbücher und Ratgeber voll sind, bringen uns bestenfalls den Menschen im allgemeinen ein wenig näher – aber sie tragen wenig bis nichts dazu bei, diesen Menschen zu verstehen und ihm zu helfen. Wann immer es um ein einzelnes Ich geht, erweist sich Wissenschaft als weitgehend nutzlos: sei es für Eltern und Lehrer; für Freunde, Lebensgefährten und Arbeitgeber; für Sachbearbeiter in Jugend- und Sozialämtern; für Strafverfolger und Richter, Vollzugsbeamte und Bewährungshelfer; für Sozialarbeiter und Pflegekräfte; für Seelsorger, Lebensberater - und nicht zuletzt für Psychotherapeuten. Wer von ihr mehr erwartet, überfordert sie. Wenn sie mehr verspricht, lügt sie.
Denn Wissenschaft ist eine Lebensform, die für den Einzelfall blind macht - und stolz darauf, ihn zu verachten. Wo Individuen einander begegnen, versagt ihre Zugangsweise, kläglich und unvermeidlich. Es gibt angemessenere und ergiebigere, und über diese verfügen Laien oftmals in höherem Maße: Lebenserfahrung, Bildung, kommunikative Kompetenz, Achtsamkeit, Intuition, vor allem die Fähigkeit, sich in ein Gegenüber hineinzuversetzen.
Insofern könnten Amateure es sich leisten, dem Psychoprofi mit einem Selbstbewusstsein entgegenzutreten, das gegenüber einem Physiker, einem Chemiker oder Biologen mehr als vermessen wäre. Sie wissen nämlich nicht nichts oder zuwenig. Sie wissen zuviel - wenngleich im allgemeinen auf ziemlich ungeordnete und selten bedachte Weise –, jedenfalls weitaus mehr, als naturwissenschaftlich ausgerichtete Psychoforscher jemals über sie herausfinden können. Soweit Wissenschaft ist, was Wissen schafft, könnten sie mithalten. Denn Sachverständige sind Schwachverständige, sobald die Sache kein bloßes Ding ist. Der verstehende Laie und die fliegende Hummel haben eines gemeinsam: Der Experte beweist eindrucksvoll, dass sie unmöglich können, was sie trotzdem tun.
Und so werben etliche KLARTEXT-Beiträge, ausgehend von Einzelschicksalen aus den Therapiecamps meiner Stiftung Auswege, für einen respektlosen, geradezu ketzerischen Standpunkt: Es wird Zeit, die Expertokratie akademischer Seelenkundler, die unser Gesundheitswesen wie naturnotwendig durchdringt, zu beenden. Ihr fragwürdiger Nutzen erweist sich an der belämmernden Unergiebigkeit moderner Psychotherapie und Psychiatrie, soweit diese sich auf sie stützen. Setzen wir ihren Lügen ein Ende. Stärken wir unsere Widerstandskraft gegen Versuchungen, ihnen auf den Leim zu gehen.
Dieser Text stammt aus der 10-bändigen Schriftenreihe von Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 1: Neue Heimat Psycholand – Woher unser Vertrauen in Seelenprofis rührt (2017).
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