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Dr. Harald Wiesendanger

„Rein somatisch ist gar nichts“

An Grenzen stößt die Schulmedizin, solange sie Patienten als Körper ohne Seelen betrachtet und behandelt: als biochemische Maschinen, die es zu reparieren gilt. Die Psychosomatik fristet in ihr das Schattendasein eines randständigen Fachgebiets.



Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte mit meiner Stiftung Auswege 2008, im zweiten „Aus­wege“-Camp in einer Burg nahe Bad Honnef, seinen hundertsten Geburtstag feiern können. Bestimmt hätte sich der bekennende Anti-Asketiker wohlgefühlt in unserem Kreis, und das nicht bloß, weil wir ihm jenes „gute Essen in vielfältigen Varia­tionen“ hätten bieten können, das er zeitlebens ohne Reue genoss (1), sondern weil er in unserem Therapeutenteam lauter Brüder und Schwestern im Geiste angetroffen hätte: Thure von Uexküll (1908-2004), der als Begründer der psychosomatischen Medizin gilt, zusammen mit Georg Groddeck, Viktor von Weizsäcker und anderen. Gemeinsam mit uns hätte er beklagt, wozu der Medizinbetrieb sein Geisteskind verkümmern ließ: zu einem randständigen Fachgebiet – und keiner Grundlagendisziplin, als die er sie verstand.


Psychosomatik, wie er sie lehrte (von griech. psyche: Atem, Hauch, Seele; soma: Körper, Leib), untersucht die seelischen Hintergründe körperlicher Erkrankungen, um sie in die Behandlung einzubeziehen – und findet sie nicht bloß bei einem kleinen Ausschnitt des Diagnose­spektrums, sondern in jedem Fall. „Rein somatisch ist gar nichts“, sagte Uexküll einmal. „Es gibt nur psychosomatische Krankheiten.“ Das gelte beispielsweise für Asth­ma, Magengeschwüre und Ekzeme, ja sogar für Kno­chen­brüche oder Sehnenrisse, denn auch da sei „das Psychische am Werk“, was sich daran zeige, dass manche Menschen merkwürdig anfällig für Unfälle seien.


Psychosomatik versteht die Kränkung hinter der Krankheit - nicht nur den Defekt hinter der Funktionsstörung.


Dies deckt sich weitgehend mit den Erfahrungen, die wir in „Auswege“-Camps inzwischen bei Hunderten von kleinen und großen Patienten gemacht haben: In ihrer Vorgeschichte, ihrem Umfeld, ihren Beziehungen, ihrer seelischen Verfassung, ihren Denk- und Verhaltens­mustern entdecken wir fast immer Faktoren, die ihre Erkrankung mitbedingt haben könnten – und die mitberücksichtigt und mitbehandelt werden müssen, um Genesungsprozesse in Gang zu setzen und nachhaltig zu heilen. Psyche und Physis sind eins. Deshalb muss ein guter Arzt immer beides im Blick haben, das Ganze sehen. Mit anderen Worten: Er muss holistisch denken und handeln. Das verpflichtet ihn zum Widerstand gegen den in der Medizin „vorherrschenden Gesund­heitsbegriff“, der „das gute Funktionieren einer Maschi­ne beschreibt – einer sehr komplizierten Maschine, die man aber zerlegen kann in Teilmaschin­chen“, wie von Ueküll beklagte. „Es fehlt der Medizin eine Definition des er­lebenden Körpers. Eine Definition der Seele hat sie auch nicht, wenn beides getrennt formuliert wird. Das Menschenbild der Medi­zin ist technokratisch. Der biotechnisch nicht fassbare Inhalt geht verloren, um den kümmern sich die meisten Mediziner nicht“, und mit dieser Betriebsblindheit verspielen sie Heilungschancen: „Schließlich machen die Krankheiten, die mit dem engen Konzept der Schulmedizin erfasst werden können, nur ungefähr fünf Prozent aus. Nur auf diese trifft das medizinische Modell zu, nur für diese ist es hilfreich.“



Wie Verunsicherung schwindlig macht


Wieviel selbst in hartnäckigsten, jahrzehntelang „behandlungsresistenten“ Fällen therapeutisch erreicht werden kann, wenn die unselige Spaltung der Medizin in „eine für Körper ohne Seelen und eine für Seelen ohne Körper“ (Uexküll) überwunden wird, ist in jedem unserer Camps deutlich geworden. Zum Beispiel bei Helga*, 52: Die frühberentete Kauffrau litt seit Mitte der achtziger Jahre an chronischen Schmerzen am ganzen Körper. Um das Jahr 2000 setzte obendrein ein ständiger Schwin­del ein, der sie beim Gehen erheblich beeinträchtigte.


Unter den Teilnehmern unseres 14. Camps im nordhessischen Schwarzenborn im Mai 2014 machte kaum jemand deutlichere Fortschritte als Helga: Schmerzen und Dauerschwindel ließen bis Campende nach, zeitweilig schienen sie wie weggeblasen. Im Mittelpunkt unserer Bemühungen standen die „depressiven Verstimmungen“, die Helga auf ihrem Anmeldebogen angegeben hatte. Hinter den manifesten Symptomen waren offenkundig psychische Faktoren am Werk: „Sie war eine verunsicherte, frustrierte Frau“, wie unser Camp­arzt feststellte, „vermutlich mit Schwierigkeiten im Beruf und privat. Die verschiedenen Diagnosen waren gute Ausreden für ihre Welt-Enttäuschung, ihre Hilflosigkeit und wohl auch ihre Wut. Aufklärende Gespräche über den Sinn ihrer Diagnosen und deren Bearbeitungsmöglichkeiten scheinen ihr Denken sehr rasch verändert und zu neuer Zuversicht, ja Lebens­freude geführt zu haben.“ Während der Heilwoche blüh­te sie regelrecht auf, wirkte gelöst und voller Ener­gie. Ausgiebig scherzte sie mit anderen Teilnehmern; beim Abschlussfest unterhielt sie, mit strahlendem Lächeln, die ganze Runde mit humorvollen Gedichten, neckisch rührte sie die Werbetrommel für unsere Stiftung. „Mein Körpergefühl ist besser geworden, ich bin fröhlicher“, notierte sie abschließend. In ihrem Camptagebuch steht 21 mal das Wort „Danke“. Einen Gruppentanz am Abschiedstag empfand sie als „Tanz in mein neues Leben“.


Schmerzen am ganzen Körper - aus den Tiefen einer gequälten Seele


Seit langem quälten Ludwig*, einen 55jährigen Ingeni­eur, schwere Ängste und Depressionen, begleitet von chronischen Schmerzen, deren Ursprung trotz etlicher ärztlicher Untersuchungen im Dunkeln geblieben war: in Gelenken „seit 5 bis 7 Jahren“, im Rücken „seit ein bis zwei Jahren“; auch die Brust tat ihm weh, ständig spürte er einen beklemmenden Druck darauf. Zudem klagte er über Herzrhythmusstörungen. Was hatte er sich so sehr zu Herzen genommen, was brach ihm das Herz? Im Gegensatz zu den Schulmedizinern, denen er sich vergeblich anvertraut hatte, ahnte er bereits, woher seine rätselhaften Beschwerden letztlich rühren konnten: „In meinem jetzigen Leben habe ich viel Tragisches erlebt. Meine physischen Probleme könnten eine Folge meiner Angstzustände und Depressionen sein.“


In über einem Dutzend Heilsitzungen während eines „Auswege“-Camps im Juli 2013 kam zum Vorschein: Als junger Mann hatte Ludwig mitansehen müssen, wie Vater und Mutter erschossen wurden. Kaum hatten wir dieses Trauma mit ihm aufzuarbeiten begonnen, da lebte er regelrecht auf. Verschiedene Formen von Geistigem Heilen, von Handauflegen bis Chakratherapie, in Verbindung mit Yoga, energetischer Massage und Ge­sprächstherapie, lösten bei ihm „intensive Empfindun­gen“ aus, wie er abschließend in einem Patienten-Fragebogen notierte. „Danach fühlte ich eine so tiefe Erlösung, dass ich minutenlang wie ein Kind geweint habe. Endlich war ich frei von dem Angstgefühl, das mich jahrelang gequält hatte. Was ich in diesem Moment empfand, kann ich mit Worten nicht beschreiben.“ Seine mysteriösen Schmerzen verschwanden, sein Herzschlag fand in den normalen Rhythmus zurück.


Was nimmt Dorothea die Luft?


In den Jahren 2013 und 2014 vertraute sich Dorothea*, 54, uns dreimal an, jedesmal begleitet von ihrem Ehe­mann: wegen einer chronisch-obstruktiven Lungen­erkrankung (engl. chronic obstructive pulmonary disease, Abkürzung: COPD), die mit Husten, vermehrtem Aus­wurf und Atemnot bei Belastung einhergeht. Ständig war sie auf ein Beatmungsgerät angewiesen – so glaubte sie jedenfalls. Die Angst, ersticken zu müssen, war ihr ständiger Begleiter.


Während jeder Campteilnahme ließen die Symptome erheblich nach: Sie sei „längere Zeit ohne Sauerstoff­zufuhr ausgekommen“ und habe „besser geschlafen. Panikattacken hatte ich wesentlich seltener“, so berichtete sie hinterher. Auch nach Einschätzung unseres Camparztes ließen die COPD-Symptome deutlich nach; zeitweilig kam Dorothea ganz ohne Beatmungsgerät aus, bezeichnenderweise vor allem, während sie abgelenkt war oder sich unbeobachtet wähnte.


Nach Hause zurückgekehrt, sei es ihr anfänglich jedesmal „wesentlich besser gegangen“. Dies habe „im Laufe der Zeit aber wieder nachgelassen. Warum geht es mir nicht besser, wo ich doch jeden Tag meditiere und an mir arbeite?“, so fragte Dorothea. „Dann kommt die Angst, und mit der Angst kommt die Atemnot.“


Therapiehindernisse vermutet unser Camparzt in ihrer Psyche: „Seelisch sieht sie sich auf einem aufsteigenden Weg“, fasste er nach Dorotheas drittem Aufenthalt bei uns zusammen, „aber sie traut sich nicht, diesem Weg zu folgen. Immer noch plagen sie zu viele Ängste, dass es ihr schlecht gehen könnte. In manchen Situationen habe ich den Eindruck, dass sie diese Krankheit braucht, um eine Leere in ihrer Seele zu überdecken: Wäre sie gesund, dann müsste sie wieder für sich selbst sorgen – und ihr Mann bräuchte sie nicht mehr zu verwöhnen. Aber das will sie nicht.“ Die beiden Schläuche in ihrer Nase, über die sie sich künstlich beatmen lässt, hält unser Camp­arzt für „bloße Placebos; sie wären überflüssig, wenn Dorothea lernen würde, normal zu atmen“ - was sie jedesmal tat, „sobald sie sich auf etwas anderes konzentrierte“. Ihr zwanghafter Eindruck, auf das Gerät angewiesen sind, könnte nach Einschätzung mehrerer Teammitglieder von subjektiven Krankheitsgewinnen herrühren: Sie hat Angst vor Verlusten, die ihre Genesung mit sich bringen könnte – womöglich sogar ihres pflichtbewussten Gatten, der es nicht übers Herz brächte, eine Schwer­kranke im Stich zu lassen -, und „Angst, eigenverantwortlich ins Leben zu treten“, wie unser leitender Camparzt abschließend konstatierte.


Migräne nach Missbrauchstrauma


Seit Jahrzehnten war Magda*, eine 62jährige Lehrerin, von schier unerträglichen Migräneanfällen gequält worden, die oft mehrere Tage andauerten. Vielerlei Schmerzmittel linderten sie nicht.


Hätten behandelnde Ärzte annähernd so gründlich nach­gefragt, wie es bei Magdas erstem von zwei Camp­aufenthalten im Juli 2013 geschah, wäre rasch zutage getreten, dass sie eine Fülle von psychischen Problemen belastete, die sich offenbar auch körperlich auswirkten. Als „auffälligste Symptome“ zählte sie auf: „sexuelle Empfindungsstörungen; Kontaktstörungen, Schwierig­kei­ten beim Aufbau tragfähiger Beziehungen; Tendenz zu Schwermut und Resignation, Unfähigkeit, mir ‚die Fülle des Lebens zu nehmen’; Ablehnung der weiblichen Rolle; Handlungsunfähigkeit und Erstarrung in Situa­tio­nen, die Handeln erfordern; latent vorhandene Todes­sehn­sucht; teilweise Gedächtnis­störungen, Erinnerungs­lücken“.


Was steckte dahinter? Ein Leben lang litt Magda unter dem Trauma, in früher Kindheit von ihrem Vater sexuell missbraucht worden zu sein. Diese innere Verletzung arbeitete sie bei uns in täglichen Heilsitzungen auf. Gerade­zu euphorisch fühlte sie sich nach wenigen Camp­­tagen „wie befreit, wie neugeboren. Ich habe schon so viele Psychotherapien hinter mir, die nix gebracht haben; was ihr hier mit mir gemacht habt, ist unglaublich. So intensiv! Mich hat dieses Camp auf den Weg gebracht. Ich bin mir – mit Hilfe eurer Therapien – selber auf die Spur gekommen! ‚Erkenne dich selbst’ hat gut funktioniert. Ich blicke mit größerem Vertrauen in die Zukunft. Mir wurden ‚Auswege’ aufgezeigt. Danke dafür!“ Der Camparzt bestätigte: „Sie ist ihrem Gefäng­nis entflohen. Die Erleichterung bei ihr war so offensichtlich, dass man die ‚Steine’ förmlich purzeln sah und hörte, die ihr vom Herzen fielen.“


Allein Deutschlands acht Millionen Migräne-Patienten verursachen Krankheitskosten von rund 4,3 Milliarden Euro pro Jahr. Davon entfallen rund 100 Millionen auf ambulante und stationäre Behandlung, ca. 520 Millionen auf verordnete oder freiverkäufliche Analgetika, eine Viertelmilliarde auf Folgen von Arzneimittelmiss­brauch. Hinzu kommen geschätzte 1,9 Milliarden durch Arbeits­unfähigkeit bzw. verringerte Produktivität. (2) Wäre es nicht ein beachtlicher Beitrag zur Eindämmung der Kosten­explosion im Gesundheitswesen, mit Betrof­fe­nen wie Magda so umzugehen, wie es in unseren Camps geschieht?


Anmerkungen

1 Nach Werner Bartens: „Der Menschenarzt“, Süddeutsche Zeitung, 15. März 2008.

2 Hans-Christoph Diener: Migräne. 2. überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart 2006 (Erstaufl. 2002), S. 7

* Pseudonyme


Dieser Betrag stammt aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015).

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