Corona-Zweifler widerlegt? Großbritanniens Todesstatistik gibt Rätsel auf: Wie konnte Covid-19 ausgerechnet dort so viele Todesopfer fordern – trotz drastischer Infektionsschutzmaßnahmen?
Ha! Jetzt muss doch endlich auch der letzte Zweifler kapieren, wie entsetzlich dieser Killerkeim wütet! So jedenfalls triumphierte frühzeitig das virologische Chef-Orakel der Nation, Christian Drosten. „Für alle, die noch immer nicht daran glauben“, postete er am 21. April 2020 auf Twitter: „Übersterblichkeit durch COVID19 in England“ und Wales – dazu präsentiert er eine Grafik des britischen „Office for National Statistics“ (ONS), aus der hervorgeht, dass die Zahl der Todesfälle in der Woche bis 10. April deutlich anstieg, auf 18.516 Fälle. Der Fünf-Jahres-Durchschnitt derselben Kalenderwoche liegt erheblich darunter, bei 10.000 bis 14.000 Verstorbenen.
Mit Verlaub, Herr Drosten: Derart plump argumentiert ein Dogmatiker, der es vorzieht, möglich rasch übers eigene Rechthaben zu frohlocken. So jemand grabscht nach jedem vermeintlich schlagenden Indiz, um seine Lieblingshypothese in Sicherheit zu bringen. Ein echter Wissenschaftler hingegen ist einer, der sich angesichts der jüngsten ONS-Zahlen eher zu wundern beginnt, neugierig und offen für andere mögliche Erklärungen.
Einem echten Wissenschaftler beschert die ONS-Kurve zunächst einmal: eine Anomalie. Zum britischen Königreich gehören auch Schottland und Nordirland. Und bei diesen Landesteilen handelt es sich bekanntlich nicht um ferne Kolonien in Asien oder Amerika. Wieso übersteigen die Mortalitätsraten dort weiterhin NICHT frühere Grippewellen? Warum sind in den Intensivstationen von Schottlands Krankenhäusern weiterhin mehr als die Hälfte aller Betten frei? Und wieso hebt sich Englands Todesfallstatistik so deutlich ab von anderen Staaten Europas, in denen „die Welle“ Arztpraxen, Krankenhäuser und Friedhöfe nicht im geringsten erreicht hat: vom Nachbarn Irland über Österreich, Norwegen, Dänemark, Finnland, Luxemburg und das Baltikum bis nach Griechenland und Portugal – und ganz besonders bis zur Bundesrepublik Deutschland?
Ein echter Wissenschaftler schließt aus dieser Sachlage zunächst vor allem eines: In England, wie auch in ähnlich gebeutelten Ländern wie Spanien, Frankreich, Belgien und Niederlande, müssen Sonderfaktoren am Werk sein – wie sie es auch in Italien waren. (Siehe unser Beitrag vom 13. April: „Bergamos Leichenberge und andere Merkwürdigkeiten“.) Diese gilt es schleunigst zu erforschen, statt flotte Twitter-Posts des Niveaus „Ätsch, hab´ ich´s nicht gleich gesagt?“ in die ohnehin panikgestörte Welt hinauszublasen.
Was für Faktoren könnten es sein, die ausgerechnet England so übel mitspielen? Wie die Londoner Times berichtet, werden bis zu 50% der aktuellen britischen Übersterblichkeit nicht durch Coronaviren verursacht, sondern durch die Effekte des Lockdowns, der allgemeinen Panik und des teilweisen gesellschaftlichen Zusammenbruchs. Dabei geht es immerhin um rund 3000 Menschen pro Woche.
Doch selbst wenn ein Großteil der Übersterblichkeit eher auf das Konto des Panikvirus geht, bleibt es dabei: Seit Anfang April 2020 sterben deutlich mehr Engländer als zur selben Zeit in früheren Jahren. Diese Tatsache müssen Corona-Skeptiker anerkennen, denn sie besteht unabhängig von unzuverlässigen Tests, willkürlichen Falldefinitionen und unsauberen Zählweisen.
Aber zum einen blendet die ONS mit dem gewählten im Fünf-Jahres-Vergleichszeitraum – wie clever – die Grippesaison 2014/15 aus. Nach Schätzungen von „Public Health England“, dem englischen Gesundheitsdienst, starben damals 28.330 Engländer an Grippe. Der britische Infoportal InProportion weist auf fünf Grippesaisons seit 1995/96 hin, in denen zwischen KW 49 und KW 15 des Folgejahres mehr Engländer und Waliser starben. In der Corona-Saison 2019/20 waren bis zum 21. April 226.423 Tote zu beklagen – 1995/96, 1996/97, 1998/99, 1999/2000 und 2017/18 aber bis zu 242.000. (Siehe Schaubild.) Hätte damals jeweils nicht erst recht nationaler Notstand ausgerufen werden müssen?
Ja, 18.516 Verstorbene innerhalb einer Woche, vom 3. bis 10. April 2020, sind überdurchschnittlich viel. Andererseits gab es in früheren Jahren drei Wochen, die noch schlimmer waren, mit bis zu 20.566 Toten. (Siehe Schaubild.)
Auf einen zweiten entscheidenden Aspekt weist der britische Statistik-Professor David Spiegelhalter hin. Wie überall auf der Welt, so ist das Sterberisiko bei Covid-19 ausschließlich für die über 70-Jährigen deutlich erhöht (s. Schaubild) – in allen übrigen Altersgruppen entspricht es der normalen Sterblichkeit. Und selbst unter den corona-positiv getesteten Senioren sterben die Wenigsten AN dem Virus, wenn sie es MIT ihm tun. Bei fast allen liegen mehrere schwere Vorerkrankungen vor, denen die meisten in Kürze ohnehin erlegen wären. Gegen Jahresende, wenn uns alle Daten vorliegen, könnte sich zeigen, dass die Wirkung des SARS-CoV2-Virus darin bestanden haben wird, Todesfälle, die sich sonst über das gesamte Jahr verteilt hätten, „im März/April in ein enges Fenster zu drängen, ohne die Gesamtzahl zu erhöhen“, so Professor Spiegelhalter.
Einen dritten wichtigen Aspekt betont Uta Stephan, eine Therapeutin aus Hameln, die 12 Jahre lang in Großbritannien lebte: „England hat ein völlig marodes Gesundheitssystem - einer der Gründe, warum ich wieder zurück nach Deutschland gezogen bin. Die Krankenhäuser dort bieten nicht Zweibett-Zimmer, sondern große Schlafsäle mit Vorhängen um die Betten. Eine gesetzliche Krankenversicherung gibt es nicht, sondern nur den staatlich finanzierten National Health Service, wo jeder kostenlos behandelt wird. Die Reichen gönnen sich Privatkliniken.“ Das bedeutet: Ein mehrfach vorerkrankter Senior, der wegen akuter Atemwegsbeschwerden stationär aufgenommen wird, trägt im Königreich Ihrer Majestät ein noch höheres Risiko als anderswo, sich bei anderen Patienten anzustecken oder mit antibiotikaresistenten Klinikkeimen zu infizieren. Bei positivem Corona-Test taucht er in der Todesstatistik dann prompt, ohne weitere Untersuchung, als „Covid-19-Opfer“ auf, obwohl die SARS-CoV-2-Infektion lediglich der allerletzte Tropfen in ein randvolles Fass war. Dass Krankenhäuser zu den lebensgefährlichsten Orten zählen, an die man geraten kann, gilt für das englische Gesundheitswesen noch weitaus mehr als für das deutsche. Wer die Sterberate alter Engländer rasch und drastisch erhöhen will, schafft sie alle am besten ins Krankenhaus, egal aus welchem Grund.
Und falls sich am Jahresende herausstellt, dass 2020 tatsächlich ein paar tausend hochbetagte Engländer mehr gestorben sind als üblich? Dann bliebe immer noch die Frage offen, ob wir diese Zahl höher gewichten sollten als all das, was wir ihretwegen in Kauf nehmen müssen: massive Eingriffe in elementarste Menschenrechte, das Lahmlegen des öffentlichen Lebens, den Absturz der Wirtschaft. Sollten Engländer dem „Abflachen der Kurve“ zuliebe eine Hygienediktatur hinnehmen, in der ihre Polizei Wohnungstüren eintritt, um unerlaubte „social gatherings“ aufzuspüren? Oder Passanten wie Schwerstverbrecher festnimmt und in einen Streifenwagen zerrt, weil sie es mit „Social Distancing“ nicht genau genug genommen haben? Oder einem Vater verbietet, mit seinen Kindern im eigenen Vorgarten zu spielen? Oder mit Drohnen Spaziergänger verfolgt, die mit ihrem Hund Gassi gehen, kilometerweit von anderen Menschen entfernt?
„So sieht ein Polizeistaat aus“, kommentiert ein früherer Richter am britischen Supreme Court, Jonathan Sumption, in einem BBC-Interview das britische Notstandsregime. „Das eigentliche Problem ist: Wenn menschliche Gesellschaften ihre Freiheit verlieren, dann in der Regel nicht, weil Tyrannen sie ihnen weggenommen haben. In der Regel liegt es daran, dass Menschen ihre Freiheit bereitwillig aufgeben, wenn sie im Gegenzug Schutz vor einer äußeren Bedrohung erhalten. Und die Bedrohung ist in der Regel real, aber übertrieben. Ich fürchte, das ist es, was wir jetzt sehen.“
Dass sich selbst intelligente, gewöhnlich durchaus kritische Menschen von der allgemeinen Panik anstecken lassen, obwohl medizinische Gründe dafür fehlen, beklagt der britische Journalist Peter Hitchens in einem Artikel, den er überschrieb mit „We love Big Brother“.
„In Wahrheit“, so erklärt der Direktor des Zentrums für Evidenzbasierte Medizin der Universität Oxford, Professor Carl Heneghan, „übersteigt die Schadenswirkung des Lockdown schon längst die Schadenswirkung des Coronavirus.“
Zählen Covid-19-Tote mehr als Verkehrstote? Die Regierungen Thompson und Merkel KÖNNTEN die Zahl derer, die alljährlich im Straßenverkehr umkommen, drastisch senken, wenn sie ein Tempo-30-Limit auf allen Autobahnen, Bundes- und Landstraßen durchsetzen, zwischen allen Fahrzeugen einen Sicherheitsabstand von mindestens 20 Metern vorschreiben und sie zum Anhalten zwingen würden, sobald in Sichtweite ein Fußgänger oder Radfahrer auftaucht. Sie KÖNNTEN die Zahl der Lungenkrebsopfer um 90 Prozent senken, wenn sie für ein striktes Verkaufsverbot von Tabakwaren sorgen würden. Warum geschieht nichts dergleichen? Weil der Staat in diesen Fällen offenbar Abwägungen vornimmt, die er im Corona-Fall unterlässt. Warum wohl?
Drostens Twitter-Post endet mit drei Sätzen, derentwegen man erst mal tief Luft holen muss, um nicht wegen akuter Atemnot auf der Stelle zum Covid-19-Verdachtsfall zu werden. „Uns wurde dies“ – die britische Tragödie – „vor allem durch frühe und breit eingesetzte Diagnostik erspart“, so macht Drosten weis. „Verspielen wir diesen Vorsprung nicht. Seien wir solidarisch mit unseren Nachbarn.“ Eine solche Auslassung ist, mit Verlaub, eines Wissenschaftlers unwürdig. Die „frühe und breit eingesetzte Diagnostik“ - die Drosten maßgeblich mitentwickelte und vorantrieb, angeblich „ohne einen einzigen Cent“ daran zu verdienen – hat in erster Linie dem RKI reichlich Stoff für seine tägliche Lothar-Horror-Picture-Show geliefert: explodierende Zahlen über festgestellte Infektionen, die anzeigen, wie fleißig getestet wird, aber klinisch irrelevant sind.
Oder meint Drosten Deutschlands „Vorsprung“, was die Reproduktionsrate, die Häufigkeit schwerer akuter Atemwegserkrankungen, die Zahl belegter Intensivbetten in Krankenhäusern, die Todesfälle unter Covid-19-Infizierten anbelangt? Da sollte Drosten doch endlich einmal die „Wochenberichte“ und „Epidemiologischen Bulletins“ des Robert-Koch-Instituts aus den vergangenen zwei Monaten auf sich wirken lassen. Diese belegen schwarz auf weiß: All diese Zahlen waren längst rückläufig, bevor staatlicher Infektionsschutz einsetzte. Wie peinlich.
Harald Wiesendanger
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