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Dr. Harald Wiesendanger

Vogel Dodo beim Wettlauf der Psychotechniker

Aktualisiert: 7. Jan.

Auf Forschungsergebnisse, die ihr Monopol gefährden, reagieren die Standesorganisationen der Psycho-Profis seit eh und je überaus gereizt und beleidigt. Sie sollten einem weisen Vogel aus dem Wunderland lauschen.



Wie kann man allen Ernstes behaupten, ein fünfjähriges Hochschulstudium (1), mit einem Arbeitsaufwand von mindestens 9000 Stunden - einschließlich “berufspraktischer Einsätze” von mindestens 570 Stunden (Bachelor) plus 750 Stunden (Master) - sorge bei wissenschaftlichen Psychologen für keinerlei Kompetenzvorsprung? Wie könnte eine anschließende therapeutische Ausbildung, die mehrere zehntausend Euro kostet - mit zusätzlichen Abertausenden Stunden weitere Theorie, Behandlung unter Supervision, Selbsterfahrung und praktische Tätigkeit - weitgehend für die Katz sein?


Noch hirnrissiger muten Zweifel an Sachverstand von psychospezialisierten Ärzten an. Um einer zu werden, muss man erst mal zwölf bis dreizehn Semester Medizin studiert haben. Erst dann kann man sich auf Psychiatrie und Psychotherapie konzentrieren, und dabei vergehen fünf bis sechs weitere Jahre. Die Ausbildung zum Arzt kostet den Staat rund 200.000 Euro pro Student - mehr als jeder andere Studiengang (2) -, die anschließende Weiterbildung zum Facharzt nochmals das Doppelte bis Vierfache. (3) Sollte dieser gewaltige Aufwand nicht zuverlässig Könner hervorbringen, die Laienhelfer locker in den Schatten stellen?


Ihren empörten Widerstand stützen Fachkreise vornehmlich auf den Standpunkt: Nur Experten konnten sich geeignete Techniken aneignen, um psychischen Erkrankungen beizukommen. Welcher Amateur beherrscht schon die filigranen Vorgehensweisen eines Freudschen Analytikers, eines Tiefenpsychologen nach C. G. Jung, eines kognitiven Verhaltenstherapeuten?


Standesdünkel auf tönernen Füßen


Doch bei näherer Betrachtung erweist sich überraschenderweise: Dieser Dünkel kommt auf tönernen Füßen daher. Denn in Wahrheit sind Techniken in der Psychotherapie weitgehend unerheblich.


Wer Lewis Carrolls Kinderbuch Alice im Wunderland kennt, wird sich an jenen kuriosen Wettlauf erinnern, bei dem niemand herausfindet, wie weit und wie lange die Teilnehmer gerannt sind. Als der putzige Vogel Dodo gefragt wird, wer denn nun der Sieger sei, sagt er: „Jeder hat gewonnen und alle müssen Preise bekommen.“ In solch wunderländischem Wettbewerb stehen all die psychotherapeutischen Verfahren, die Hilfesuchende vor die schweißtreibende Qual der Wahl stellen. Auf 300 bis 400 schätzten Fachleute ihre Anzahl schon Ende der achtziger Jahre (4). Eine Metaanalyse von fast 400 Therapie-Vergleichsstudien ergab (5): Keine bringt rein gar nichts, keine nützt immer, keine ist den übrigen deutlich überlegen. Sie alle sind annähernd gleich wirksam (6), und dieser Sachverhalt wird als „Dodo-Bird-Verdikt“ (7) bezeichnet, gelegentlich auch als „Äquivalenzparadox“.


In diesem Licht erweist sich die sogenannte „Differentielle Indikation“ – die Beurteilung, welche Form von Therapie bei welcher Störung angezeigt ist – als windige Luftnummer. Wenn im großen und ganzen keine Methode mehr ausrichtet als die andere, machen jene den Unterschied, die sie anwenden; Patienten brauchen den passenden Therapeuten.


Zwar sollen vereinzelte Studien ergeben haben, dass ein psychisch Angeschlagener eher von einer mäßig strukturierten, zwanglos begleitenden Vorgehensweise wie der Gesprächstherapie profitiert, wenn sein Bedürfnis nach Selbstbestimmung besonders ausgeprägt ist, oder wenn er sich stark „reaktant“ gibt, d.h. auf Abwehr schaltet, sobald er sich unter Druck gesetzt fühlt. Andererseits scheinen einem Hilfesuchenden, der zur Unterordnung neigt, eher anleitende, auffordernde, Ziele vorgebende Verfahren wie die Verhaltenstherapie gutzutun. (8) Doch letztlich ist es kein methodisches Abstraktum, das Menschen an die Hand nimmt oder ihnen Freiraum lässt, sondern die individuelle Persönlichkeit des jeweiligen Behandlers. Worauf er aus ist, kann er mit jeder beliebigen Technik erreichen - oder verfehlen.

 

Dieser Text ist ein Auszug aus Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 3: Seelentief: ein Fall für Profis?, Schönbrunn 2017, 2. erw. u. aktualisierte Aufl. 2024; 124 S., auch als PDF.


Das Titelbild stammt von Microsofts KI „Bing Image Creator“. So illustrierte sie meine Vorgabe “Dodo Bird in Psychotherapy”.


Die Folgen dieser Serie („Helfen Psycho-Profis wirklich besser?“)

10    Pragmatismus statt Lobbyismus - Für eine weise Psycho-Politik

 

Anmerkungen

1  “Gesetz über den Beruf der Psychotherapeutin und des Psychotherapeuten” vom 15.11.2019, https://www.gesetze-im-internet.de/psychthg_2020/BJNR160410019.html, § 9, Absatz (2)

2  Nach www.praktischarzt.de: „Medizin - der teuerste Studiengang“, abgerufen am 5.1.2017.

3  Nach Zimmer Eins - das Patientenmagazin 2/2016, S. 56: „Hauptsache gesund“.

4  Eckhard Giese/Dieter Kleiber (Hrsg.): Das Risiko Therapie, Weinheim 1989, S. 20.

5 Mary Lee Smith/Gene V. Glass: „Meta-Analysis of Psychotherapy Outcome Studies“, American Psychologist Sept. 1977, S. 752-760.

6  Den Forschungsstand hierzu fassen zusammen: B. E. Wampold: The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods, and Findings, Mahwah/ London 2001; R. Dawes: House of Cards. Psychology and Psychotherapy Built on Myth, New York 1996; L. J. Groß: Ressourcenaktivierung als Wirkfaktor in der stationären und teilstationären psychosomatischen Behandlung, Dissertation, Nürnberg 2013.

7   Lester Luborsky/Barton Singer/Lisa Luborsky: „Comparative studies of psychotherapies: Is it true that ‚everyone has won and all must have prizes’?“, Archives of General Psychiatry 32 (8) 1975, S. 995-1008; siehe auch J. Siev u.a.: “The Dodo Bird, Treatment Technique, and Disseminating Empirically Supported Treatments”, The Behavior Therapist 32 (4) 2009.

8 K. Grawe/F. Caspar/H. Ambühl: „Die Berner Therapievergleichsstudie: Wirkungsvergleich und differentielle Indikation“, Zeitschrift für Klinische Psychologie 19/1990, S. 338-361; K. Grawe: „Psychotherapieforschung zu Beginn der neunziger Jahre“, Psychologische Rundschau 43/1992, S. 132-162, dort ib. S. 148-150.

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