Ärzte interessiert der Befund, Patienten geht es nicht minder um ihr Befinden. Symptom- und organfixiert versäumt es die Schulmedizin, die subjektiven Aspekte von Krankheit wahr- und ernstzunehmen. Gesundwerden bedeutet mehr, als Symptome loszuwerden.
Schwere Krankheit hat zwei Seiten. Die eine spiegelt sich im objektiven medizinischen Befund: in Messkurven und Laborwerten, in Röntgenbildern und Tomogrammen. Die andere besteht aus den Beeinträchtigungen, Beschwerden und Verlusten, die der Betroffene selbst erlebt. Schwere Krankheit kann für ihn andauernden Schmerz und Schwäche bedeuten. Sie kann ihn zunehmend entstellen und behindern. Sie lässt ihn oft einsam werden. Sie kann ihn launisch, verbittert, hoffnungslos, sinnleer machen. Und voller Angst.
Welche Seite verdient stärkere Beachtung? Wenn Heiler sich eines Hilfesuchenden annehmen, fragen sie nicht danach. Sie betrachten und behandeln ihn als ganze Person: als eine untrennbare Einheit von Körper, Geist und Seele. Was sie ihm vermitteln, ist vielleicht eine rätselhafte, physikalisch noch unfassbare Energie, fast immer aber zwischenmenschliche Wärme, Verständnis, Aufmerksamkeit, Geborgenheit. Falls sie auf diese Weise, gegen alle ärztlichen Prognosen, im organischen Bereich eine Wende zum Besseren anstoßen oder auch nur einen für unabwendbar gehaltenen Verfall aufhalten können, ist das bemerkenswert. Sollte, was Heiler können, trotzdem vornehmlich an organischen Veränderungen gemessen werden, und jeder Fortschritt, der unterhalb der vollständigen Remission bleibt, als minderwertig dastehen?
Viele Patienten tun dies, weil sie in den üblichen Arztpraxen und Krankenhäusern gelernt haben, Heilerfolge vornehmlich nach diesem Maßstab zu beurteilen - ebenso wie ihre behandelnden Ärzte dies während ihres Studiums vom vorherrschenden klinischen Forschungsstil lernten. (1) Mit entsprechenden Erwartungen suchen Patienten einen Geistheiler auf, und mit denselben Erwartungen blättern viele vermutlich in diesem Buch. Mancher Krebspatient beispielsweise einer verspricht sich vielleicht Hinweise darauf, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich selbst ein metastasierter, inoperabler Tumor noch irgendwie auflöst, wenn die Hand eines Begnadeten lange genug darüberliegt. Was ihn interessiert, sind Schicksalsberichte über Leidensgefährten, deren Karzinome von purem "Geist" spurlos weggeschmolzen wurden, und Empfehlungen von Heilern, die als Spezialisten für eine solche "übersinnliche" Strahlentherapie gelten.
Aber sind die subjektiven Veränderungen, die Heiler zustandebringen, etwa weniger erstaunlich und bedeutsam als die objektiven? Wenn ein Krebskranker, den Ärzte aufgegeben haben, nach wenigen Sitzungen wieder Kraft, Mut und Lebensfreude spürt; wenn seine Schmerzen und Ängste nachlassen; wenn er so ausgeglichen, gelassen und zuversichtlich ist wie seit Jahren nicht mehr; wenn er aufhört, mit seinem Schicksal zu hadern, und neuen Sinn findet: dann ist dies bewundernswert, ein kleines Wunder. Wiegt es geringer, wenn das große "Wunder" ausbleibt: das Verschwinden der Symptome, die körperliche Genesung? Ganzheitliche Therapieformen wie Geistiges Heilen tun gut - auch wenn dies, selbst unter dem stärksten Elektronenmikroskop, keiner Zellprobe anzusehen sein mag.
Wer mehr verlangt, verwechselt Heilen mit Kurieren. Was bedeutet es überhaupt, einen Menschen zu heilen? Heilung ist die Wiederherstellung von Gesundheit. Aber was heißt es, gesund zu sein? Wir alle sind in einer medikalisierten Kultur aufgewachsen, in der wir gelernt haben, unsere Befindlichkeit durch die Brille einer ärztlichen Expertokratie wahrzunehmen und zu bewerten, die sich alleinzuständig für sie wähnt. Der Sinnspruch "Es gibt tausend Krankheiten, aber nur eine Gesundheit" stimmt nicht - es gibt mehrere. Für unser vorherrschendes Medizinsystem werden wir zum Fall, wenn wir Symptome entwickeln, für die es Begriffe, Mittel und Theorien entwickelt hat: messbare Defekte in der Maschinerie unseres Körpers. Entsprechende Definitionen beherrschen denn auch unsere Lexika: Das 25-bändige "Meyer"-Lexikon etwa (2) setzt Gesundheit gleich mit dem "Fehlen ärztlicher und labormedizinischer Befunde, die von der Norm abweichen"; gesund sei, wessen "Körperfunktionen ohne Einschränkung intakt sind". Folgerichtig erkundigt sich der Hausarzt in der Sprechstunde: "Was fehlt Ihnen denn?" - und wir reagieren wie selbstverständlich mit der Aufzählung von einzelnen, isolierten Abweichungen von der Norm, statt zu sagen, was uns wirklich fehlt: Liebe vielleicht, oder Sicherheit, Angstfreiheit, Geborgenheit, innere Ruhe und Ausgeglichenheit, Bindungen, eine Aufgabe, Sinn.
Gesundheit als Wohlergehen
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs – also lange bevor in der westlichen Welt der Boom der „Ganzheitsmedizin“ einsetzte -, schrieb die Weltgesundheitsorganisation (WHO) anlässlich ihrer Gründung 1946 in ihre „Verfassung“ eine geradezu revolutionäre Begriffsbestimmung: „Gesundheit“, so definierte sie, sei „ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Beschwerden oder Krankheit.“ (3) 1988 ergänzte die WHO: Gesundheit schließe die “Fähigkeit des Individuums“ ein, „die eigenen Gesundheitspotenziale auszuschöpfen und auf die Herausforderungen der Umwelt zu reagieren” In dieselbe Richtung zielt eine programmatische Erklärung der Bundesregierung von 1997: „Gesundheit wird als mehrdimensionales Phänomen verstanden und reicht über den ‚Zustand der Abwesenheit von Krankheit‘ hinaus.“ (4) In der Tat. In diesem Sinne können wir krank sein, ohne Symptome zu entwickeln; wir können gesund sein, obwohl unsere Funktionen von der medizinischen Norm abweichen. Denn Vitalität und Wohlbefinden, auch wenn sie in engem Zusammenhang mit körperlicher Intaktheit stehen, sind nicht notwendig daran gebunden. Deshalb muss eine Geistheilung keineswegs misslungen sein, nachdem sie an der Symptomatik nichts oder zuwenig geändert hat: genesen, in einem umfassenderen Sinn heil werden, kann ein Patient durch sie dennoch, und darin liegt vielleicht ihre größte Stärke.
Es gibt Krebskranke, die sich heiler fühlen als ihre tumorfreien Angehörigen. Es gibt Todgeweihte, die heiler hinübergehen, als ihre Hinterbliebenen je gelebt haben. Letztlich stirbt man nicht an einer bestimmten Krankheit - man stirbt an einem ganzen Leben.
Anmerkungen
1 Bezeichnend: 90’000 Arzneistudien fanden britische Epidemiologen im Cochrane Controlled Trials Register, einer Datenbank, in der ein Großteil aller klinischen Studien weltweit gespeichert ist; nur 2000 von ihnen bezogen auch den Faktor “Lebensqualität” ein. Diese Studie wurde von Stephen Frankel, Universität Bristol, Ende 1998 veröffentlicht. Siehe Wiebke Rögener, “Wunderdroge sucht passende Krankheit”, Süddeutsche Zeitung Nr. 271, 24.11.1998, S. V2/9.
2 Meyer, Bd. 10, S. 263f.
3 „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity”. Zweiter Abschnitt der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation, unterzeichnet in New York am 22. Juli 1946.
4 Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, 1997.
Dieser Betrag stammt aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015).
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