Do ut des, „ich gebe, damit du gibst“: Dem sozialen Grundprinzip der Gegenseitigkeit können sich auch Ärzte schwerlich entziehen. Nicht erst Zuwendungen im fünf- bis sechsstelligen Bereich, schon relativ kleine Gefälligkeiten machen Menschen geneigt, sich erkenntlich zu zeigen. Das macht sich Pharma-Marketing zunutze.
„Eine Hand wäscht die andere“: Wohltaten jeglicher Art machen Menschen geneigt, sich beim Geber zu revanchieren. Dafür anfällig zu sein, wenn Pharmafirmen sie großzügig in Versuchung zu bringen versuchen, weisen die meisten Ärzte von sich – zumindest was sie selbst anlangt. Für Kollegen möchten sie freilich nicht die Hand ins Feuer legen. Viele erliegen dem Glauben, sie selbst seien weniger leicht manipulierbar als der Rest ihrer Zunft, wie eine Befragung unter 208 niedergelassenen Fachärzten für Neurologie/Psychiatrie, Allgemeinmedizin und Kardiologie zum Einfluss von Pharmavertretern ergab. Nur sechs Prozent erklärten sich für „häufig“ oder gar „immer“ beeinflussbar. Zugleich vermutete aber mehr als jeder Fünfte, das treffe auf seine Standeskollegen sehr wohl zu. (1)
Die Fehleinschätzung, für Marketingeinflüsse immun zu sein, ist sogar „dosisabhängig“: Je mehr Zuwendungen Ärzte von Firmen erhalten, desto häufiger geben sie an, dass derartige Gaben ihr Verordnungsverhalten mitnichten beeinflussen. (2)
Mit solchen Zusammenhängen werden die Klinkenputzer der Arzneimittelindustrie während ihrer Ausbildung wohlvertraut gemacht. Pharmareferenten eignen sich werbepsychologisch ausgeklügelte Strategien an, wie besuchte Ärzte früher oder später rumzukriegen sind, zu höheren Verkaufszahlen der angepriesenen Produkte beizutragen. Dabei genießt kaum ein Wissenschaftler unter Marketingprofis höheres Ansehen als der US-amerikanische Psychologe Robert Cialdini. Während er an der Arizona State University einen Lehrstuhl für Psychologie und Marketing innehatte, leitete er zugleich eine Unternehmensberatung namens Influence at Work. (3) Sein bekanntestes Werk, Die Psychologie des Überzeugens (1997), verkaufte sich über drei Millionen Mal und wurde in dreißig Sprachen übersetzt. Sein Buch Pre-suasion: Wie Sie bereits vor der Verhandlung gewinnen erschien 2017 auf Deutsch. Cialdini wird gefeiert dafür, Marketingkonzepte an einer fundamentalen sozialwissenschaftlichen Erkenntnis auszurichten: der Reziprozitätsregel.
Gegenseitigkeit: eine grundlegende soziale Norm
In der einfachsten Form kennzeichnet Reziprozität eine soziale Interaktion, die sich in drei Schritten vollzieht: Jemand gibt etwas; der Andere muss die Gabe annehmen - und sich mit einer Gegengabe erkenntlich zeigen. Die Regel, dass wir uns für Gefälligkeiten, Geschenke, Einladungen und dergleichen zu revanchieren haben, weil jegliches Miteinander auf Gegenseitigkeit beruhen muss, ist tief in allen menschlichen Gesellschaften verwurzelt. Indem sie Beziehungen auf Geben und Nehmen gründet, schafft sie Vertrauen gegenüber Mitmenschen. Dadurch ermöglicht sie überhaupt erst Gruppenbildung, Arbeitsteilung und Systeme gegenseitigen Helfens.
Alle Kulturen sanktionieren Verstöße gegen diese grundlegende Norm: Wer bloß nimmt und nie gibt, oder wer auf Dauer mehr nimmt als gibt, der wird geächtet. Der Drang, Anderen zurückzugeben, was wir zuvor erhalten haben, scheint so tief in der menschlichen Psyche verankert, dass es bewusster Anstrengung bedarf, die Reziprozitätsregel nicht zu befolgen.
Wie Cialdini erkannte, gilt diese Regel weitgehend unabhängig davon, wie stattlich die Gabe ist. Ausnahmslos jedes Präsent, und sei es noch so klein, veranlasst zu Gegengaben; diese weisen manchmal sogar einen unverhältnismäßig höheren Wert auf. Demnach existiert keine Schwelle, unterhalb derer eine Beeinflussung ausgeschlossen ist. Umso fragwürdiger sind Regelungen zu Interessenkonflikten, die es erlauben, „angemessene“ Zuwendungen anzunehmen, wie die Berufsordnung für Deutschlands Ärzte vorsieht. (4)
Als besonders anfällig für Beeinflussung haben sich in sozialpsychologischen Experimenten Menschen erwiesen, die sich der Reziprozitätsregel zwar bewusst sind, sich selbst aber für resistent dagegen halten, auf diese Weise manipuliert zu werden. Sie erliegen einer „Illusion der Unverwundbarkeit“. (5)
Demnach waltet verkaufspsychologisches Kalkül, wenn der Rep den Doc mit Wohltaten überschüttet. Und die Rechnung pflegt aufzugehen. Das US-amerikanische Recherchezentrum ProPublica, das seit 2010 Zahlungen an US-Ärzte veröffentlicht, fand einen deutlichen Zusammenhang: zwischen den Beträgen, die ein Arzt von Pharmafirmen einstreicht, und der Anzahl an teuren Originalpräparaten, die er verordnet. Unter Augenärzten, denen kein Geld zufloss, verschrieben bloß 46 Prozent Originalia anstelle preiswerterer Generika; bei Kollegen, die über 5000 Dollar erhielten, stieg der Anteil auf 65 Prozent. (6)
„Mein Essen zahl´ ich selbst“
Selbst simple Einladungen zum Essen verfehlen ihre Marketingwirkung nicht. Dies stellten Mediziner der University of California in San Francisco fest, als sie Daten von 280.000 Ärzten auswerteten: Gesponserte Mahlzeiten erhöhten die Wahrscheinlichkeit, dass der Bewirtete ein Medikament des Sponsors verschrieb. Psychiater beispielsweise, die keine solche Einladung annahmen, verordneten das Antidepressivum Desvenlafaxin mit einer Häufigkeit von 0,5 Prozent unter Präparaten dieser Klasse. Bei Fachkollegen, die sich ein Essen im Wert von unter 20 Dollar bezahlen ließen, verdreifachte sich dieser Wert auf 1,5 Prozent. Bei Nebivolol, einem Betablocker zur Blutdrucksenkung, erhöhte sich die Verschreibungsrate nach einem Essen von drei auf acht Prozent, nach drei Essen sogar auf 14 Prozent. (7)
Um ihre Kollegen gegen solche Versuchungen zu immunisieren, haben unbestechliche Ärzte im Jahr 2007 MEZIS ins Leben gerufen. „MEZIS“ steht für „Mein Essen zahl´ ich selbst“. Rund 1000 Mitglieder hat die gemeinnützige Initiative inzwischen. Es sollten viel mehr sein.
Anmerkungen
Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln
1 Klaus Lieb/Simone Brandtönies: „Eine Befragung niedergelassener Fachärzte zum Umgang mit Pharmavertretern“, Deutsches Ärzteblatt 107/2010, S. 392-398; www.aerzteblatt.de/archiv/76324/Eine-Befragung-niedergelassener-Fachaerzte-zum-Umgang-mit- Pharmavertretern.
2 A. Wazana: „Physicians and the pharmaceutical industry: is a gift ever just a gift?“, Journal of the American Medical Association 283 (3) 2000, S. 373-380.
3 Siehe www.influenceatwork.com
4 Bundesärztekammer (Hrsg.): (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte, § 32, Stand 2018, www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO-AE.pdf, abgerufen am 30.5.2019.
5 B. J. Sagarin/R. B. Cialdini u.a.: „Dispelling the illusion of invulnerability: Themotivations and mechanisms of resistance to persuasion“, Journal of Personality and Social Psychology 83/2002, S. 526-54114; Dana J, Loewenstein: „A Social Science Perspective on Gifts to Physicians From Industry“, JAMA 290/2003, S. 252-255.
6 Nach Spiegel online, 26.7.2015: „Zahlungen an Ärzte - Keiner ist so nett wie der Pharmareferent“, www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/zahlungen-an-aerzte-der-nette-pharmareferent-a-1104739.html
7 Colette de Jong u.a.: „Pharmaceutical Industry-Sponsored Meals and Physician Prescribing Patterns for Medicare Beneficiaries“, JAMA Internal Medicine 2016 Aug 1;176 (8) 2016, S. 1114-1122, doi: 10.1001/jamainternmed.2016.2765.
Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen:
7) „Wie du mir, so ich dir“ – Ärzte einwickeln: Reziprozität als Erfolgsgeheimnis
Comments