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Dr. Harald Wiesendanger

Wie viel bringt Psychotherapie wirklich?

Aktualisiert: 7. Jan.

Dass professionelle Seelenhilfe nützt, steht für Fachkreise außer Frage. Zweifel daran werden als völlig absurd und wissenschaftlich widerlegt abgetan. Zu Unrecht.



„Die Psychotherapie zählt zu den wirksamsten Verfahren der Medizin”, so versichert uns ein Autorenteam um Professor Ulrich Schnyder, als Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsspitals Zürich und Ex-Vorsitzender dreier Branchenverbände in Fachkreisen eine große Nummer, in der Zeitschrift Der Nervenarzt. Eindrucksvolle Behandlungseffekte seien mittlerweile „für fast alle psychiatrischen Störungsbilder wissenschaftlich belegt“. (1)


„Psychotherapie ist wirksam“, verbreitet natürlich auch die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und fügt hinzu: „Je länger, desto besser.“ Sie verweist auf „viele kontrollierte Studien“, in denen „der Nachweis“ für die Wirksamkeit von Psychotherapie „bei nahezu allen psychischen Erkrankungen erbracht wurde“ (2)


Als Beweis führt sie ein aufwändiges „Qualitätsmonitoring“ aus dem Jahr 2011 an, mit 1708 Patienten und 400 Psychotherapeuten, in Auftrag gegeben von der Techniker Krankenkasse: Bei 65 Prozent sei „eine Abnahme der Problematik“ zu verzeichnen gewesen. (3) Wow. Eine solche Quote würde sogar bewährte medizinische Maßnahmen bei körperlichen Erkrankungen in den Schatten stellen, wie etwa eine Bypass-Operation bei verstopften Blutgefäßen oder Medikamente gegen Arthritis.


Alles in allem scheint glasklar: Psychotherapie wirkt. Zu diesem Ergebnis kam unter rund 250 große Überblicksarbeiten zum Forschungsstand bezüglich ihres Nutzens immerhin fast jede vierte. (4) Kein Lehrbuch versäumt, auf diese angeblich solide Datenlage hinzuweisen.


Die ganze Wahrheit verfehlen solche Eigenlobhudeleien, gelinde gesagt, nicht bloß haarscharf, sondern kilometerweit. Die vorgeblichen Beweise zerbröseln im Härtetest wie luftige Kekse unter kräftigem Daumendruck.


Dürftige Beweislage


Das erlebte beispielsweise Steven Hollon, ein namhafter Therapieforscher von der Vanderbilt-Universität in Nashville, Tennessee. (5) Gemeinsam mit zwei niederländischen Kollegen nahm er unter die Lupe, was an wissenschaftlichen Bestätigungen für die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) bei Depressionen vorliegt: ein Behandlungsansatz, der Patienten dazu bewegen soll, düstere bis rabenschwarze Gedanken über sich und die Welt durch realistischere zu ersetzen und am Leben aktiv teilzunehmen. In den siebziger Jahren aufgekommen, gilt KVT inzwischen als „Goldstandard für die Behandlung zahlreicher Störungen“. (6) Hollons Team nahm sich sämtliche 55 Studien zur kognitiven Verhaltenstherapie bei Depressionen vor, welche der National Health Service (NHS), die oberste Gesundheitsbehörde der USA, zwischen 1972 und 2008 gefördert hatte. Dabei kam reichlich “Underreporting” zum Vorschein: Die Ergebnisse fast jeder vierten Studie waren nie publiziert worden. Warum verschwieg man sie? Auf Nachfrage bei den jeweiligen Studienleitern kam heraus: In den unveröffentlichten Untersuchungen hatte die KVT erheblich schlechter abgeschnitten als in den bekanntgewordenen. Würden alle ausgewertet, so müsste man die glänzende Erfolgsbilanz deutlich nach unten berichtigen – sie fiele noch schlechter aus als die fürs Verabreichen von Antidepressiva.


Damit nicht genug: Die vermeintlich erfolgreichen Therapiestudien erschlichen sich ihre prächtige Statistik überwiegend durch methodische Schlampereien. Da wurden Versuchspersonen der Behandlungs- oder Vergleichsgruppe nicht streng randomisiert zugeteilt, durch einen unabhängigen Dritten, einen Zufallsgenerator oder versiegelte Umschläge. Daten wurden nicht „blind“ ausgewertet, also von jemandem, der über die Gruppenzuteilung nichts wusste. Man berücksichtigte nur diejenigen Patienten, die von Anfang bis Ende teilgenommen hatten, anstatt auch jene einzubeziehen, die vorzeitig ausgestiegen waren.


Nach demselben Maßstab erwiesen sich von 115 weiteren Depressionsstudien 104 als schlecht gemacht. Dafür glänzte ihr Zahlenwerk: Psychotherapie schien jedem zweiten Depressiven zu helfen. Eher das Gegenteil bewiesen die elf einwandfrei durchgeführten Untersuchungen: Nur einer von acht Patienten profitierte. (7)


Dieses Manko bleibt keineswegs auf die Behandlung von Depressionen beschränkt. „Die Fachliteratur zur Psychotherapie“, so räumt der Gesundheitspsychologe James Coyne von der niederländischen Universität Groningen ein, „ist derzeit von zu schlechter Qualität, als dass sie eine verlässliche Hilfe für Therapeuten, Patienten und Verantwortliche in den Entscheidungsgremien wäre.“ (8)


Vangelis Evangelou kann da nur zustimmen. Im Jahr 2017 knöpfte sich der griechische Statistiker von der Universität Ioannina mehr als 247 Meta-Analysen von 5157 scheinbar hochwertigen Forschungsarbeiten über Psychotherapieffekte vor: sogenannte “kontrollierte” Studien (RCTs). 196 dieser Überblicksarbeiten waren zu dem Ergebnis gekommen, Psychotherapie habe signifikante positive Wirkungen. Evangelou interessierte sich vor allem für den Studienaufbau und das Kleingedruckte. Dabei fander zahlreiche Hinweise für Verzerrungen: Vielekleinere Studien vermeldeten Erfolge, die sich in größeren nicht bestätigen ließen. Führte ein Vertreter einer bestimmten Psychotherapieform die Studie selbst durch, so erschien sie erheblich wirksamer, als wenn andere sie prüften. Nur weniger als zehn Prozent der analysierten Studien wiesen keine derartigen Verzerrungen auf. (9)


Aufgehübschte Erfolgsbilanz


Dem Aufhübschen der Statistik dient eine oft bevorzugte Methode zur Datenerhebung: Die eine Hälfte der Versuchspersonen wird sofort behandelt, die andere kommt zunächst auf eine Warteliste, sie dient als Vergleichsgruppe. Die erzwungene Warterei tut aber nicht gut: Sie frustriert und legt den Hingehaltenen nämlich nahe, vorerst sei keine Besserung zu erwarten, weil die Therapie ja erst noch folgt. Das erzeugt fatalerweise einen Nocebo-Effekt (lat. „es wird mir schaden“), die dunkle Kehrseite des Placebo-Effekts. Schon allein dadurch wächst die gemessene Wirkdifferenz zwischen Behandlungs- und Vergleichsgruppe.


Ein weiterer Dreh, um mit Statistik Eindruck zu schinden: Wer vorzeitig aussteigt, wird einfach nicht mitgezählt. Eingerechnet werden nur diejenigen, die bis zum Ende am Ball bleiben und anschließend bereit sind, Rückmeldung zu geben. Damit fällt immerhin jeder Fünfte unter den Tisch. (10) Therapieabbrüche können etliche Gründe haben: Geld wird knapp, man zieht um, zu einem anderen Profi ist der Weg kürzer, eine körperliche Erkrankung kommt dazwischen. Manchmal fühlt sich der Behandelte so viel besser, dass er weitere Sitzungen für überflüssig hält. Doch am häufigsten machen Hilfesuchende nicht weiter, weil die „Chemie“ zwischen ihnen und dem Therapeuten nicht stimmt, seine Bemühungen nichts bringen oder sich ihr Zustand gar verschlechtert.


Damit nicht genug: Verzögerte Misserfolge erfasst ein Großteil der Studien gar nicht erst - Verschlimmerungen, zu denen es jenseits des Beobachtungszeitraums kommt. Was ist ein dickes Patientenlob am Ende der allerletzten Sitzung wert, wenn es den Betreffenden schon bald danach wieder elend geht? (11) Nachuntersuchungen beheben das Manko nur teilweise: Wer hat schon mehrere Monate später noch Lust darauf, sich von Wissenschaftlern ausgiebig interviewen zu lassen? Die Stabilgebliebenen wohl eher als jene, die sich weiterhin mies fühlen, wenn nicht gar bedrückter denn je.


Bezeichnender Generationseffekt


Noch dünner wird das Eis, sobald man ältere Effektstudien zu einzelnen Psychotherapien mit jüngeren vergleicht. Diese Mühe machten sich die norwegischen Therapieforscher Tom Johnsen und Oddgeir Friborg von der Universität Oslo. Die beiden nahmen sich 70 Studien zu den vermeintlichen Segnungen der kognitiven Verhaltenstherapie vor, die seit Ende der siebziger Jahre erschienen waren. (12) In den ersten Untersuchungen glänzte das Verfahren – zumindest auf dem Papier. Doch von da an ging es zügig bergab, mittlerweile hilft es nur noch halb so gut.


Weshalb? Die frühesten Studien wurden weniger streng durchgeführt, unliebsame Ergebnisse eher unter den Teppich gekehrt. Die beteiligten Therapeuten zählten zur „ersten Generation“: Sie hatten die Therapie mitentwickelt oder noch von den geistigen Urhebern vermittelt bekommen. In ihrer Aufbruchstimmung, ihrer Euphorie, ihrem oft missionarischen Eifer behandelten sie durchweg engagierter, begeisterter, hingebungsvoller. Ihre Nachfolger hingegen waren eher darauf aus, sich geflissentlich an die methodischen Vorgaben zu halten, die ihnen die Gründergeneration eingeschärft hatte – auf Kosten von Intuition, Spontaneität, Kreativität, Flexibilität, Authentizität und Empathie.


Davon abgesehen wissen heutige Patienten, dank Dr. Google, erheblich mehr über Grenzen und Schwächen von Psychotherapien. Darunter leidet vielfach ihr Vertrauen, ihr Glaube an Wirksamkeit und Nutzen des Angebotenen. Es leidet zurecht.


So dürftig Psychotherapie tatsächlich abschneidet, sobald Wirkungsforschung sie auf den stellt – im Praxisalltag nehmen sich ihre behaupteten Erfolge noch kümmerlicher aus. Denn die allermeisten Untersuchungen finden an Universitätskliniken und Hochschulinstituten statt, wo Patienten sorgfältig vorausgewählt werden. Multimorbide – solche, die gleichzeitig an mehreren Störungen leiden – dürfen zumeist gar nicht erst mitmachen. Dabei sind gerade sie in der Praxis die Regel, therapeutisch stellen sie viel schwerer zu knackende Nüsse dar.


Ist unentbehrlich, was sparen hilft?


Wie kann man an wissenschaftlicher Psychotherapie zweifeln, wo sie doch prima sparen hilft? So argumentiert Jürgen Margraf, Professor an der Uni Basel, nachdem er 54 Studien mit insgesamt über 13.000 Patienten ausgewertet hatte, die in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts über Kosten und Nutzen ambulanter Psychotherapie erschienen waren. (13) “Dabei”, so fand er, “wurde in 95 % der einschlägigen Studien eine bedeutsame Kostenreduktion durch Psychotherapie festgestellt, in 86 % zeigte sich zudem eine Netto-Einsparung”, also ein “positives Kosten-Nutzen-Verhältnis nach Abzug der Psychotherapiekosten”. In 76 % der berücksichtigten Studien “war Psychotherapie gegenüber medikamentösen Strategien überlegen”. All dies ist erfreulich und lobenswert, lässt aber eine unverschämte Frage offen: Hätten 54 Studien über Kosten und Nutzen von Selbsthilfegruppen für psychisch Gestörte erheblich niedrigere Prozentzahlen ergeben?


Trügerische Umfragewerte


Alles in allem ist es mit der „wissenschaftlich erwiesenen“ Wirksamkeit von Psychotherapie also nicht weit her. Wie Metaanalysen der vorliegenden klinischen Studien übereinstimmend belegen, bessern sich bei 30 bis 50 Prozent der Patienten die Beschwerden überhaupt nicht, während sie eine Psychotherapie in Anspruch nehmen, und bei noch weniger, wenn diese schon ein paar Wochen zurückliegt. Bei fünf bis zehn Prozent verschlechtert sich ihr Zustand schon, während sie sich noch in Behandlung befinden. (14) Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten Hunderte neuer Therapieverfahren hinzukamen, hat sich an diesen belämmernden Verhältnissen nichts geändert.


Derart in der Zwickmühle, verweisen Fachkreise mit Vorliebe auf schmeichelhafte Umfragen unter Patienten. Denn letztlich komme es ja darauf an, was die Hilfesuchenden selbst von Psychotherapie halten, nachdem sie sich darauf eingelassen haben. Wenn ihr Leidensdruck nachlässt oder sich gar verflüchtigt: Ist es nicht das, was letztlich zählt - das Befinden, viel mehr als irgendein Befund?


Auf den ersten Blick schinden die vorgelegten Zahlen wahrlich Eindruck. So versicherten Anfang 2012 in einer Erhebung unter 2129 ehemaligen oder momentanen Psychotherapie-Patienten ab 14 Jahren mehr als zwei Drittel, durch die Behandlung kämen sie mit ihren Problemen besser zurecht. Weitere 13 Prozent erklärten, ihre Schwierigkeiten hätten sich sogar gänzlich verflüchtigt. (15) Unter all jenen, die sich einer Psychotherapie unterziehen, geht es nach eigenen Angaben 70 bis 80 Prozent besser als denen, die nichts unternehmen -  eine stattliche Quote, findet der klinische Psychologe Sven Barnow, Professor an der Universität Heidelberg. Immerhin übertreffe sie die Erfolgsraten von Chemotherapie bei Brustkrebs (11 Prozent) und Aspirin zur Vorbeugung von Herzinfarkten (7 Prozent). „Psychotherapie wirkt sehr gut“, schlussfolgert er. (16)


Unter 1212 Erwachsenen, die sich ambulant – also nicht tagesklinisch oder stationär - psychotherapieren ließen, äußerte sich in einer Umfrage der Universität Leipzig 2011 die deutliche Mehrheit rückblickend ebenfalls überaus zufrieden: 70 Prozent können seither besser mit Stress umgehen, 74 Prozent empfinden mehr Lebensfreude, 69 Prozent bewerten ihr Selbstwertgefühl als gestärkt, 67 Prozent fühlen sich auch körperlich wohler. Jeder Zweite gibt an, dank Psychotherapie sei er beruflichen Anforderungen wieder eher gewachsen. (17) Zwei Monate nach deren Abschluss liegt die Besserungsrate immer noch nahe 50 Prozent. (18) Womöglich noch höher? Sage und schreibe „80 Prozent der Patienten erfahren eine wesentliche Linderung ihrer Symptome“, verbreitet der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs). (19) Ganz schön beachtlich, oder nicht?


Wie überhaupt bei Umfrageergebnissen, so lohnt sich auch hier ein gründlicher Datencheck. Wie lautete die Fragestellung genau? Auf welche Weise wurde befragt? Wie wurde ausgewertet? Als Vorzeigestudie dient der Bundespsychotherapeutenkammer eine Erhebung der Stiftung Warentest von 2011 mit knapp 4000 Teilnehmern. (20) Demnach stufen 77 Prozent der psychisch Kranken, ehe sie eine Psychotherapie beginnen, ihren Leidensdruck als „sehr groß“ oder „groß“ ein; nach Abschluss der Behandlung sind es nur noch 13 Prozent. 61 Prozent versichern, seither könnten sie alltäglichen Stress leichter bewältigen. 53 Prozent geben an, am Arbeitsplatz seien sie leistungsfähiger geworden. Fast jeder Vierte ist mit seinem Psychotherapeuten „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“. (21) Wie fein. Was die Kammer wohlweislich verschweigt: Die Umfrage war alles andere als repräsentativ, sie fand online statt. An solchen Erhebungen beteiligt sich am ehesten, wer dazu besonders motiviert ist – und das sind Hochzufriedene, die sich von argem Leidensdruck befreit wähnen und ihren Erlösern überaus dankbar sind, bestimmt eher als jene, bei denen sich nichts Nennenswertes getan hat.


Alles in allem ergibt sich aus Befragungen im therapeutischen Alltag ein noch blamableres Bild von Psychotherapie, als klinische Studien nahelegen. Dieser ernüchternde Befund bestätigte sich, als ein Forscherteam der Berliner Humboldt-Universität um die Psychologin Jenny Wagner mehr als 4000 Schüler und Studenten vier Jahre lang begleitete. Fast 300 von ihnen hatten währenddessen eine Psychotherapie gemacht. Überrascht stellte Wagner fest: “Sie haben beschrieben, dass sie seither emotional instabiler sind, mehr Ängstlichkeit haben in ihrem Alltag, dass sie sich weniger gut einlassen können auf andere Menschen. Das sind also wirklich negative Effekte gewesen, die wir da gesehen haben. Wir haben auch einen Anstieg in Depressionen zum Beispiel gesehen und eine Abnahme in Lebenszufriedenheit.“


Weil ihm diese Ergebnisse unglaublich vorkamen, untersuchte Wagners Team zusätzlich, wie Psychotherapie bei einer anderen Gruppe wirkt, nämlich älteren Amerikanern. Aber “auch da haben wir diese negativen Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung gesehen.“ (22)


Viel Tamtam, kaum Substanz


Mächtig Tamtam veranstaltet die Psychobranche um „die größte jemals durchgeführte Psychotherapie-Studie“, 2015 durchgeführt. (23) Ein britisch-amerikanisches Forscherteam erfasste dabei nicht weniger als 26.430 Patienten zwischen 16 und 95 Jahren, die im Laufe von zwölf Jahren von 1400 britischen Psychotherapeuten behandelt worden waren. Am häufigsten litten sie unter Ängsten (56 %) und Depressionen (39 %), an Konflikten in ihren Beziehungen (39 %) und am Arbeitsplatz (23 %), an geringem Selbstwertgefühl (34 %), einem schwerwiegenden Verlust (23 %) oder einem Trauma, etwa nach sexuellem Missbrauch (15 %). Im Schnitt fanden acht Therapiesitzungen statt. Inwieweit halfen sie?


Um das herauszufinden, kam der „CORE-OM“ zum Einsatz (24): ein 34-teiliger Fragebogen zur Selbsteinschätzung, bezogen auf die Bereiche subjektives Befinden, psychische Symptome, Funktionstüchtigkeit (functioning) im allgemeinen und insbesondere in sozialen Beziehungen; zudem wurde eine Risikoabschätzung verlangt. (In welchem Maße stellt der Patient für sich selbst und Andere eine Gefahr dar?) Heraus kamen grandiose Zahlen: Nicht weniger als 60 Prozent der Befragten fühlten sich bei Therapieende „bedeutend besser“, weitere 23 Prozent zumindest ein bisschen. Bloß 19 Prozent ging es unverändert schlecht. Sogar nur bei 1,3 Prozent verschlimmerte sich die psychische Verfassung.


Derlei Zahlenwerk glänzt  – solange unhinterfragt bleibt, wie sich die Untersuchungsstichprobe zusammensetzte. Dazu hatte sich das Forscherteam aus einer 1993 aufgebauten Datenbank bedient, der CORE National Research Database. Aus ihr wählten sie in einem ersten Schritt rund 105.000 Patienten aus, deren Psychotherapeuten zwischen 1999 und 2011 ein Bewertungsformular (assessment form) eingereicht hatten. All diese Patienten sollten bei Beginn und unmittelbar nach Abschluss ihrer Therapie den CORE-OM-Fragebogen ausfüllen. Versäumten sie das, so kamen sie erst gar nicht in die Auswertung – immerhin fast jeder Zweite, knapp 50.000. Diese Vorauswahl verzerrt das Gesamtbild aber gewaltig: Wenn jemand bei Therapieende nicht wie gewünscht Daten abliefert, so deshalb, weil er es gar nicht erst abwartete. Wer aber vorzeitig reißaus nimmt, tut dies zumeist, weil ihm die Behandlung enttäuschend wenig bis gar nichts gebracht hat. Berücksichtigt man diese Aussteiger, so schrumpft die imposante 60-prozentige Besserungsquote schlagartig auf die eher kümmerliche Hälfte.


Immerhin: 30 bis 50 Prozent Zufriedene ergeben doch immer noch einen stattlichen Leistungsbeleg, oder nicht? Eher nein. Wenn es jedem dritten bis zweiten Psychotherapierten nach zwei Monaten besser geht, so geht es der anderen Hälfte, wenn nicht gar zwei Dritteln, weiterhin gleich schlecht oder noch schlechter als zu Beginn. Da sich unter allen mutmaßlich Behandlungsbedürftigen nur jeder Fünfte überhaupt auf professionelle Seelenhelfer einlässt, wirft das Schicksal der restlichen 80 Prozent drängende Fragen auf. Was wird aus ihnen, wo sie doch so dringend in fachkundige Obhut gehören? Versinken sie für den Rest ihres jämmerlichen Daseins in einem schwarzen Loch? Verlängert sich ihre Psychopein endlos, weil sie die Segnungen moderner Seelenheilkunde ahnungslos, starrköpfig und törichterweise verschmähen? Besserungsresistenzen kommen innerhalb wie außerhalb von Praxen und Kliniken vor, draußen wohl etwas öfter als drinnen, aber gewiss nicht in übermäßiger Zahl. Unbehandelte erwartet im allgemeinen eher einer von drei Krankheitsverläufen: Bei der ersten Gruppe löst sich die Bedrückung irgendwann von selber auf, nach bloßem Abwarten. Anderen kommt jene schon erwähnte Charaktereigenschaft zugute, die Psychologen Resilienz nennen: eine psychische Robustheit, mit der erlernte Fähigkeiten verbunden sind, Krisen trotz schwieriger Bedingungen zu meistern. Sie helfen, sich zusammenzureißen, sich nicht gehen zu lassen, die Zähne zusammenzubeißen, ein Befindlichkeitstief tapfer und zuversichtlich durchzustehen. Einer dritten Gruppe kommt die Unterstützung durch vertraute Laien in ihrem näheren sozialen Umfeld zugute, die mit großem Geschick und Einfühlungsvermögen therapieren, ohne es zu wissen und so zu nennen.


Eine derart „erfolgreiche“ Heilweise will ernstzunehmender Bestandteil des Medizinbetriebs sein? Was hielte ein Psychotherapeut etwa von seinem Orthopäden, falls dessen Leistungsbilanz bei Problemen im Stütz- und Bewegungsapparat folgendermaßen aussähe: Von hundert Patienten, die an seinem Praxisstandort betroffen sind, vertrauen sich ihm bloß zwanzig an. Helfen kann er bloß sieben bis zehn: den einen einigermaßen, den anderen ein kleines bisschen. Bei zehn bis dreizehn weiteren bleibt der Zustand teils unverändert, teils verschlechtert er sich: Wirbelsäulen werden noch krummer, rheumatische Gelenke noch deformierter, Knochenbrüche, Bänder- und Sehnenrisse noch gravierender. Die übrigen achtzig Patienten meiden ihn von vornherein, weil solche Probleme bei den allermeisten entweder von alleine oder durch Selbstbehandlung oder dank Hilfen aus Familie oder Freundeskreis verschwinden. Wie wertvoll, alternativlos und unverzichtbar käme dem Psychotherapeuten vor, was ein solcher Orthopäde leistet?


„Aber ich sehe doch, dass ich helfen kann!“, protestiert der berufsmäßige Seelenhelfer aufgebracht.


Da könnte er mit Betriebsblindheit geschlagen sein. Oft können sich Psychotherapeuten einfach nicht eingestehen, dass ihr Patient keinerlei Fortschritte macht; dass es ihm schlechter geht; dass er sich mit dem Gedanken trägt, die Behandlung abzubrechen. In nicht einmal drei Prozent aller Fälle wollen sie eine stattgefundene Verschlimmerung wahrhaben. (25) Die unter Profis weitverbreiteten Wahrnehmungsstörungen, was Wirksamkeit und Nutzen ihrer Bemühungen betrifft, dürften von dem allzu menschlichen Bedürfnis herrühren, vor sich selber möglichst gut dazustehen: Kein einziger befragter Psychotherapeut hält seine eigene Leistung für schlechter als durchschnittlich, über 96 Prozent hingegen für überdurchschnittlich. Was die Zunft tatsächlich drauf hat, überschätzt sie demnach maßlos. (26)

 

Dieser Text ist ein Auszug aus Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 3: Seelentief: ein Fall für Profis?, Schönbrunn 2017, 2. erw. u. aktualisierte Aufl. 2024; 124 S., auch als PDF.


Die Folgen dieser Serie („Helfen Psycho-Profis wirklich besser?“)

10    Pragmatismus statt Lobbyismus - Für eine weise Psycho-Politik

 

Anmerkungen

1 U. Schnyder/R. M. McShine/J. Kurmann/M. Rufer: „Psychotherapie für alle? Zur Indikation für psychotherapeutische Behandlungen“, Der Nervenarzt 85 (12) 2014, S.1529-1535.

3 W. W. Wittmann u.a.: Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie: Modellprojekt der Techniker Krankenkasse - Abschlussbericht, Hamburg 2011.

4  Siehe X E. Dragioti, V. Karathanos, B. Gerdle, E. Evangelou: “Does psychotherapy work? An umbrella review of meta-analyses of randomized controlled trials”, Acta Psychiatrica Scandinavica 136 (3) 2017, S. 236-246, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/acps.12713

5 Ellen Driessen/Steven D. Hollon u.a.: „Does Publication Bias Inflate the Apparent Efficacy of Psychological Treatment for Major Depressive Disorder? A Systematic Review and Meta-Analysis of US National Institutes of Health-Funded Trials“, PLOS One 2015.

6 Tom J. Johnsen/Oddgeir Friborg: „The Effects of Cognitive Behavioral Therapy as an Anti-Depressive Treatment is Falling: A Meta-Analysis“, Psychological Bulletin 141 (4) 2015, S. 747-768, www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25961373.

7 P. Cuijpers/D. Hollon u.a.: „The effects of psychotherapy for adult depression are overestimated: a meta-analysis of study quality and effect size“, Psychological Medicine 40/2010, S. 211-223.

8 James C. Coyne: „Salvaging psychotherapy research: a manifesto“, Journal of Evidence-Based Psychotherapies 14 (2) 2014, S. 105-124, http://s3.amazonaws.com/academia.edu.documents/38398481.

9  X E. Dragioti, V. Karathanos, B. Gerdle, E. Evangelou: “Does psychotherapy work? An umbrella review of meta-analyses of randomized controlled trials”, Acta Psychiatrica Scandinavica 136 (3) 2017, S. 236-246, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/acps.12713

10 Jacobi u.a.: „Wie häufig ...“, a.a.O., S. 251.

11 W. Hiller/A. Schindler: „Response und Remission in der Psychotherapieforschung“, Psychotherapie - Psychosomatik - Medizinische Psychologie 61/ 2011, S. 170-176.

12 Johnsen/Friborg: „The Effects of Cognitive Behavioral Therapy …“, a.a.O.

13 Jürgen Margraf: Kosten und Nutzen der Psychotherapie – Eine kritische Literaturauswertung, Heidelberg 2009.

14 N. B. Hansen/M. J. Lambert/E. V. Forman: „The psychotherapy dose-response effect and ist implications for treatment delivery services“, Clinical Psychology: Science & Practice 9/2002, S. 329-343.

15 Das Gesundheitsmagazin Apotheken Umschau, die diese Befragung bei der GfK Marktforschung Nürnberg in Auftrag gegeben hatte, veröffentlichte die Ergebnisse in ihrer Ausgabe vom 23. April 2012; s. Cornelia Albani/Gerd Blaser/Bernd-Detlev Rusch/Elmar Brähler: „Einstellungen zu Psychotherapie. Repräsentative Befragung in Deutschland“, Psychotherapeut 58/2013, S. 466-473.

16 Sven Barnow: Therapie wirkt! So erleben Patienten Psychotherapie, Heidelberg 2012.

17 Elmar Brähler/Michael Geyer/Cornelia Albani: „Ambulante Psychotherapie in Deutschland aus Sicht der PatientInnen“, Psychotherapeut 55/2010, S. 503–514.

18 Cheryl L. McNeilly/Kenneth I. Howard: „The Effects of Psychotherapy: A Reevaluation Based on Dosage“, Psychotherapy Research 1 (1) 1991, S. 74-78.

19 Jürgen Margraf, zit. nach Focus, 20.2.2013: „Wie Psychotherapien wirken - und welche Nebenwirkungen drohen“.

21 Stiftung Warentest: „Ergebnisse der Umfrage Psychotherapie: Therapie hat vielen geholfen“, 27.10.2011.

22  Zit. nach Deutschlandfunk, 27. April 2017: “Wie gut hilft Psychotherapie wirklich?”, https://www.deutschlandfunkkultur.de/zweifel-an-studien-wie-gut-hilft-psychotherapie-wirklich-100.html

23  Scott D. Miller: „Do Psychotherapists Improve with Time and Experience?“, 27.10.2015, www.scottdmiller. com/feedback-informed-treatment-fit/do-psychotherapists-improve-with-time-and-experience; William B. Stiles, Michael Barkham, Sue Wheeler: „Duration of psychological therapy: relation to recovery and improvement rates in UK routine practice“, British Journal of Psychiatry 207 (2) 2015, S. 115-122.

24 „CORE“ steht für „Clinical Outcomes in Routine Evaluation“, „OM“ für „Outcome Measure“.

25 Wolfgang Wöller: „Auf den Therapeuten kommt es an!“, Psychologie heute 7/2016, S. 62-63. Er verweist auf eine Studie, in der Psychotherapeuten aus 550 Fällen lediglich einen von vierzig Patienten identifizierten, deren Zustand sich im Therapieverlauf verschlechtert hatte.

26 Michael J. Lambert: „Outcome Research: Methods for Improving Outcome in Routine Care“, in Omar Gelo/Alfred Pritz/Bernd Rieken (Hrsg.): Psychotherapy Research: Foundations, Process, and Outcome, Wien/Heidelberg/New York 2015, S. 593-610, dort S. 596; ders. u.a.: „Enhancing Psychotherapy through on Client Progress: A Replication“, Clinical Psychology and Psychotherapy 9/2002, S. 91-103; ders.: „Enhancing Psychotherapy through Feedback to Clinicians“, National Register of Health Service Psychologists, www.e-psychologist.org/index.iml?mdl=exam/show_article.mdl&Material_ID=3.


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