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- Was hat die Kirche gegen Geistiges Heilen?
Wie einst Jesus, so nehmen sich Geistheiler heutzutage Kranker an: Sie legen ihre Hände auf, sprechen Fürbitten, exorzieren manchmal. Erfüllen sie damit nicht den Heilungsauftrag des Gottessohns? Sollte ihnen daher nicht die Unterstützung der Kirchen in ihrem Bemühen um gesellschaftliche Anerkennung, um Integration ins Gesundheitswesen sicher sein? Sollten sie nicht in Pfarrgemeinden und kirchlichen Einrichtungen mithelfen dürfen, Leid zu lindern? Aber gerade Vertreter der großen christlichen Kirchen begegnen Heilern mit kaum geringerem Argwohn als Schulmediziner. Je höhere Würdenträger in der Kirchenhierarchie sich dazu äußern, desto größeres Unbehagen wird spürbar. Woher rührt diese Abwehrhaltung? Ein Gedankenexperiment: Am beginnenden dritten Jahrtausend nach Christus macht am Bodensee ein bärtiger Langmähniger Anfang dreißig von sich reden, der ohne festen Wohnsitz barfuß von Ort zu Ort zieht, gemeinsam mit einem Dutzend devoter Anhänger, die ebenso verwahrlost daherkommen wie er. Ihnen folgt ein von Tag zu Tag anschwellender Tross emsig stenografierender, knipsender, filmender Journalisten. Wo immer der Landstreicher Rast macht, nimmt er sich Schwerkranker an, die von der Schulmedizin als "behandlungsresistent", als "austherapiert" beiseite geschoben worden sind - und heilt sie. Ohne Spritzen, ohne Tabletten, ohne irgendwelche sonstigen Mittel und Maßnahmen, die nach gegenwärtigem medizinischem Erkenntnisstand im beobachteten Ausmaß und Tempo wirksam sein könnten. In Radolfzell befreit er einen Verzweifelten, der vor ihm auf die Knie fällt, im Nu von einer hochinfektiösen Hautkrankheit - einfach indem er die Hand ausstreckt, den Patienten berührt und sagt: "Ich will es - werde rein!" In Konstanz sucht er eine Frau auf, die mit lebensbedrohlich hohem Fieber im Bett liegt, berührt bloß ihre Hand - und prompt sinkt ihre Körpertemperatur auf Normalniveau. Nach einem illegalen Grenzübertritt - einen Pass besitzt der Bärtige nicht - hilft er am anderen Seeufer, in Kreuzlingen, zwei psychisch Schwerstkranken, denen Schizophrenie diagnostiziert worden ist: In beiden will er Opfer einer Besessenheit erkannt haben, woraufhin er ihre angeblichen Dämonen in eine unweit grasende Schweineherde "austreibt" - mit der verblüffenden Folge, dass im selben Moment sämtliche psychiatrischen Symptome verschwinden, während sich die unglückseligen Schweine wie toll in den Bodensee stürzen und jämmerlich grunzend ersaufen. Zu einem Querschnittgelähmten, dem er auf der Hauptstraße von Rorschach begegnet, sagt er schlicht: "Steh auf, nimm deinen Rollstuhl und geh nach Hause!" Und tatsächlich: Der Mann steht auf und geht heim. Auf dem Bregenzer Hauptfriedhof reanimiert der Wundertäter den Leichnam eines kleinen Mädchens, das in der dortigen Kapelle aufgebahrt ist. Auf dem Weg dorthin tritt eine Frau, die schon seit zwölf Jahren an Blutungen leidet, von hinten an ihn heran, berührt den Saum seines Gewands - und ist von Stund an geheilt. In Lindau legt er sanft seine Finger auf die Augen zweier Blinden, die daraufhin ihre volle Sehkraft erlangen. An der Uferpromenade von Friedrichshafen gräbt der Langhaarige zwei Klumpen Erde aus, lässt Spucke darauftropfen und drückt sie einem weiteren Blinden auf die Augenlider; im nächsten Moment ertönt ein lauter Jubelschrei: "Mein Gott, ich kann endlich sehen!" In Meersburg gibt er einem von Geburt an Stummen die Stimme zurück. Würde ein solcher Mensch unter uns weilen: Er wäre einer von mittlerweile über zehntausend Geistheilern, die sich im deutschsprachigen Raum um Patienten kümmern, deren Ärzte mit ihrem Latein am Ende sind. Da er weder eine Approbation zum Arzt noch einen Heilpraktikerschein vorweisen könnte, geriete er rasch in Konflikt mit dem Rechtsstaat; obendrein würde ihm angelastet, dass er Heilkunde ohne festen Wohnsitz, im Umherziehen betreibt, mitunter nichtzugelassene Arzneimittel verwendet und eine Gewerbeanmeldung unterließ. Die mehreren tausend Euro, zu denen ihn ein Gericht wegen solcher fortgesetzter Ordnungswidrigkeiten verdonnern würde, könnte er nicht zahlen, denn er behandelt prinzipiell gratis. ("Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben", so könnte ihn die Deutsche Presse-Agentur zitieren.) Und so säße er, als besonders hartnäckiger Wiederholungstäter, vermutlich längst hinter Schloss und Riegel. (1) Ebenso erginge es seinen Anhängern, sobald sie sich, unter Berufung auf seinen Auftrag, paramedizinischer Therapie zu befleißigen begännen. Wie würden Vertreter der christlichen Kirchen zu diesem Fall Stellung nehmen? Wie reagierten sie insbesondere, wenn der Wanderprediger versichern würde, er sei der wiedergekehrte Sohn Gottes - und seine Jünger die rechtmäßigen Verkünder Seiner Botschaft? Sie hätten, gelinde gesagt, ein Problem. Heilte der historische Jesus nicht, auf geistigem Weg, Blinde und Lahme, Aussätzige und Besessene? (2), ja "alle Krankheiten und Leiden"? (Mt. 4,23) Mindestens vierzig Stellen in den Evangelien künden davon, und bis heute werden sie von 71 Prozent der Bundesbürger für glaubhaft erachtet; immerhin 33 Prozent trauen Jesus nach wie vor sogar zu, Tote auferweckt zu haben. (3) Manchmal soll dem Gottessohn dazu ein einziges Wort oder ein knapper Befehl genügt haben, wie bei Matthäus 9,6: "Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh!", oder bei Markus 7,13: "Er sprach zu dem Taubstummen: Effata, das heißt: Öffne dich!" Ein andermal "berührte er ihre Hand, und das Fieber wich" (Mt. 8, 13). Hin und wieder verband er eine heilende Geste mit beschwörenden Worten. ("Jesus streckte die Hand aus und sprach: Ich will, sei rein", Mt. 8, 3.) Oder er sprach ein Gebet. Oder er ließ Leidende sein Gewand berühren. Oder er gab ihnen eingespeichelte Erde (Joh. 9,1-12). Sogar Fernheilungen sind überliefert (Mk. 7,29 f.). Solche Krankenheilungen setzte Jesus zweifellos nicht bloß beiläufig als spektakuläre Zauberkunststücke ein, welche die tumben Massen auf ihn neugierig machen sollten (4) - sie waren essentieller Bestandteil seiner Botschaft. In seiner anscheinend grenzenlosen Macht zu heilen wollte er Zeugnis dafür ablegen, wessen Sohn er war und wer ihm beistand; er wollte sichtbare Zeichen setzen, die seine Verkündigung untermauerten: Das Gottesreich kommt nicht erst am fernen Ende aller Tage, es "ist nahe" (Mt. 10, 7). (»Wenn ich mit dem Finger Gottes die bösen Geister austreibe, dann ist das Reich Gottes zu euch gekommen«, zitiert ihn Lukas 11,20.) In der Möglichkeit, im Vertrauen auf Ihn selbst von vermeintlich ausweglosem Leid frei zu werden, sollte die Allmacht tiefer Religiosität offenbar werden: "Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt" (Mk. 9, 23). Die Heilungen Jesu waren Lektionen, wie sie überzeugender nicht ausfallen konnten. Entsprechend große Bedeutung maß Jesus dem Heilungsauftrag bei, als er seine Jünger aussandte - mit der Vollmacht, nicht nur das Wort Gottes zu verkünden, sondern therapeutisch aktiv zu werden, um "alle Krankheiten und Leiden zu heilen" (Mt. 10,1): "Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!" (Mt. 10, 5; ähnlich zitiert ihn das Lukas-Evangelium 10,9.) Die ersten christlichen Wanderprediger hielten sich konsequent daran5 - und darauf beruhte ein Großteil des Erfolgs ihrer Mission. Sich Kranker anzunehmen und ihr Leid durch Gebete, Salbungen und Handauflegen zu lindern, gehörte in den urchristlichen Gemeinden lange Zeit zum selbstverständlichen Alltag. Pflegedienst war Gottesdienst. Treffen Geistheiler insofern nicht ein zentrales christliches Anliegen? Sollte ihnen daher nicht die Unterstützung der Kirchen in ihrem Bemühen um gesellschaftliche Anerkennung, um Integration ins Gesundheitswesen sicher sein? Sollten sie in Pfarrgemeinden und kirchlichen Einrichtungen nicht mithelfen dürfen, Leid zu lindern? Kein Heiler ist so vermessen, sich als Sohn Gottes auszugeben. Doch die meisten fühlen sich immerhin als Seine Kinder; die Energien, die sie vermitteln, führen sie auf einen göttlichen Ursprung zurück. Viele sind praktizierende, tiefgläubige Christen, die sich wie einst Jesus als Werkzeug des Allerhöchsten sehen - als "Kanal" für eine übermenschliche Kraft, die durch sie wirkt. Auf dieselbe Kraft beruft sich seit den sechziger Jahren eine innerkirchliche Bewegung, die weltweit bereits über dreißig Millionen Christen erfasst haben soll: die "Charismatische Erneuerung". (6) Heilungswunder spielen in ihr eine Schlüsselrolle: keineswegs als magisch beizubringende Glaubensprodukte, wohl aber als freie Zuwendungen Gottes, mit denen er uns seine Macht erweist - weshalb christliche Evangelisation und Mission sie nicht ausklammern dürfen. Die bedeutendsten Wegbereiter dieser Bewegung, die Amerikaner Agnes Sanford, Francis MacNutt und John Wimber, ziehen mit bewegenden Heilungsevents oft mehrere tausend Gläubige in ihren Bann. Auch im deutschsprachigen Raum folgt ihrem Beispiel eine wachsende Zahl von Pfarrern, innerhalb der großen Glaubensgemeinschaften wie am freikirchlich-evangelistischen Rand; die Resonanz auf ihre "Heilungsgottesdienste" und "Gebetsnächte" übertrifft ihre kühnsten Erwartungen. (7) Sobald Heilung im Namen des Vaters angeboten wird, verwandeln sich gähnend leere, leblose Gotteshäuser, in denen jedes dezente Hüsteln peinlich widerhallt, ziemlich zuverlässig in rappelvolle Stätten inniger Begegnung, in einer unter die Haut gehenden Atmosphäre, die vor Bewegtheit und Ergriffenheit, vor Hingabe und Be-Geist-erung geradezu vibriert. (8) “Dein Hauptkennzeichen ist Erbarmungslosigkeit”, war Gott von dem Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser 1976 in einer seinerzeit heißdiskutierten Generalabrechnung vorgehalten worden (9) - doch in der Heilung, oder auch nur in der Linderung, begegnen Schwerkranke einem barmherzigen Gott, der solche Vorhaltungen Lügen straft. Aber gerade von Vertretern der großen christlichen Amtskirchen werden solche Strömungen mit kaum geringerem Argwohn verfolgt als von seiten weiter Kreise der Ärzteschaft. Allenfalls werden sie geduldet, selten sogar ermutigt - doch je höhere Würdenträger in der Kirchenhierarchie sich dazu äußern, desto größeres Unbehagen wird spürbar. In der protestantischen Kirche etwa spukt weithin noch immer der Ungeist jenes Verwaltungsakts, mit dem Pfarrer Blumhardt 1846 die Hände gebunden wurden, die er bis dahin Tausenden von Kranken segensreich aufgelegt hatte. Und wann hat in jüngerer Zeit ein Bischof seine Stimme erhoben, um auf das Vorbild Jesu Christi und seiner Apostel hinzuweisen, wenn mit einem Geistheiler vor einer weltlichen Strafkammer wieder einmal kurzer Prozess gemacht wurde? Wer widersprach dem Vatikan, als dieser dem Erzbischof von Sambia, Emmanuel Milingo, 1991 strikt untersagte, in Rom und anderen Städten öffentliche "Heilungsmessen" abzuhalten? (10) "Ich lege die Hände auf und bete", hatte Milingo seine unkonventionellen Messfeiern verteidigt. "Alles andere ist Gottes Verdienst." Damit fiel er beim Vatikan in Ungnade: "Der Glaube beruht nicht auf derartigen mehr oder weniger aufsehenerregenden und magischen Mirakelveranstaltungen", ereiferte sich Antonio Silvestrelli, Prälat für Glaubens- und Moralfragen im Vatikan, in einer geharnischten Presseerklärung. Aber standen "Mirakelveranstaltungen" einst nicht dutzendfach auch auf Jesu Tourneeplan, als er predigend durch Galiläa zog? Wäre der Nazarener heute unter uns - auch er könnte schwerlich mit kirchlichem Segen rechnen, falls er sich Kranker ebenso annähme wie einst. Der päpstliche Bannstrahl, der Emmanuel Milingo ereilte, träfe auch ihn. Über acht Hemmschwellen hinweg Was hat die Kirche gegen solche Mirakel? Die Gründe dafür sind vielschichtig, und binnen zweier Jahrtausende haben sie sich zu einem gordischen Knoten verwurstelt. 1 Im Laufe der Kirchengeschichte trat Verkündigung und Bekehrung immer mehr in den Vordergrund der christlichen Mission, das Wort wog mehr als das Werk, Seelenheil mehr als Leibeswohl. Die Jünger Jesu waren vornehmlich einfache Menschen, Zöllner und Fischer vom See Genezareth, und auch ihre ersten Anhänger kamen in der Mehrzahl aus dem Kreis der Armen und Bedrückten. (Lukas war allerdings Arzt.) Es überwogen Handwerker, Freigelassene und Sklaven - Leute, die nicht viel Worte machten, sondern die Taten grenzenloser Nächstenliebe und unbedingten Gottvertrauens für sich selber sprechen ließen. Unter ihren Nachfolgern hingegen dominieren wortgewandte, hochgebildete Kirchenfunktionäre, beraten und gestützt von grübelfaltigen Theologen, deren Gelehrsamkeit Mühe hat, zwischen zwei Buchdeckel zu passen - gedankenschwere Großhirnrindler, die mit Latein, Altgriechisch und Hebräisch erheblich weniger Mühe haben als mit der Sprache des Herzens. Unter ihrer Deutungshoheit erreichte religiöser Glaube seine reifste, vollendetste Form erst, wenn er sich als Conclusio aus einem mindestens quadratkilometergroßen Geflecht von Argumentationsfäden ergab; Glaube war somit nicht mehr in erster Linie eine mit gewissen Praktiken, Einstellungen, Emotionen und Erfahrungen verbundene Lebensform, sondern die kognitive Leistung eines akademisch geschärften Verstandes. Der Schwerpunkt christlichen Glaubens verlagerte sich aus Hand und Herz in den Kopf, und damit auch weg von der heilenden Hand. 2 Hinzu kommt ein ungebrochener Hang, die Heilige Schrift zu "entmythologisieren". In ihm wirkt bis heute ein Rechtfertigungszwang weiter, an dem die Kirche seit der Aufklärung schwer trägt: Konfrontiert mit den Erkenntnisansprüchen und -zuwächsen der modernen Naturwissenschaften, schien es einer immer größeren Zahl von Theologen eine arge Zumutung für die kritische Vernunft, die biblischen Wunderberichte weiterhin wörtlich zu nehmen. Ob auferweckte Tote oder Schwebeschritte über Seen, selbstbrennende Büsche oder Zeichen an der Wand: Alles scheinbar "Übernatürliche" wurde zu Gleichnissen umgedeutet, auf bloß "symbolische" Schilderungen zurückgeführt. Seither sollen mit Blinden Uneinsichtige gemeint sein, Aussätzige erscheinen mit den Flecken der Sünde behaftet, und Gichtbrüchige gelten als Menschen, die nicht mehr auf dem rechten Pfad der sittlichen Gebote zu wandeln vermögen. Soweit die biblischen Heilungsberichte Tatsachen widerspiegeln, schildern sie angeblich bloße "Placebo-Reaktionen". (11) Aber die Religion braucht das Wunder - “des Glaubens liebstes Kind”, wie Goethes Faust wusste -, und wo sie es zur bloßen Allegorie verkümmern lässt, vernichtet sie es gründlicher, als die Naturwissenschaft je zuwege brächte. 3 Haben die Kirchen, wie in Aesops Fabel vom Fuchs, Trauben für sauer erklärt, weil sie zu hoch hängen? Oder, psychoanalytisch tiefgeschürft: Ist hier ein Defizit rationalisiert, ein peinliches Manko bemäntelt worden? Hätte es, beispielsweise, in der evangelischen Kirche vor anderthalb Jahrhunderten nicht bloß einen handauflegenden Pfarrer Blumhardt (12) gegeben, sondern tausende - wäre es dann zu jenem kirchlichen Verwaltungsakt gekommen, mit dem 1846 spirituelles Heilen rigoros untersagt wurde? (13) Jesus war Verkünder und Heiler in Personalunion, seine zwölf Apostel waren es und mindestens 72 weitere (Lukas 10), die er aussandte, um "alle Krankheiten zu heilen"; welchen Sinn hätte es gemacht, seinen Jüngern einen Auftrag mitzugeben, den zu erfüllen sie überfordert hätte? Wer aus dem Neuen Testament nicht Schlüsselgeschehnisse wegradiert, die uns mehrere Evangelisten übereinstimmend überliefert haben, kommt schwerlich um die Einschätzung herum: Jede Person, jede Gruppe, jede Institution, die sich in die Nachfolge Christi stellt, kann sich das Bemühen um Heilung auch von körperlichen Leiden und Gebrechen nicht ersparen. Um es mit einem meiner Koautoren, dem evangelischen Theologen Prof. Manfred Josuttis zu sagen: "Kann man im Namen Jesu agieren, ohne an seiner Kraft zu partizipieren? Was für ein Reich wird realisiert, das nur in Worten beschworen, aber nicht mehr in Taten vergegenwärtigt wird?" Wird nicht "die Vergegenwärtigung des Reiches Gottes einseitig verfolgt, wenn man sie auf die verbale Ansage beschränkt"? Doch wann hat sich zuletzt ein Heiliger Vater als Heilender Vater hervorgetan - und wenn ausnahmsweise doch, zeugte das Ergebnis seiner Bemühungen dann zuverlässig von gottgegebener “charismatischer” Kraft? (14) Pius XII., Papst zwischen 1939 und 1958, soll sich wiederholt an Fern-Exorzismen versucht haben, um Adolf Hitler von seinen mutmaßlichen Dämonen zu befreien (15); ob andernfalls zwölf statt sechs Millionen Juden unter dem Naziregime ihr Leben hätten lassen müssen, bleibt eine ebenso müßige wie geschmacklose Spekulation. Pius IX., Papst von 1846 bis 1878, mühte sich, jenen Satan zu auszutreiben, der die italienischen Truppen 1870 gegen den Kirchenstaat führte. (16) (Als das misslang, gab der Heilige Vater den Schießbefehl, ehe er kapitulierte und sich in den Vatikan zurückzog.) Während Jesus seine Wunder innerhalb eines winzigen geographischen Dreiecks tat, das in vier bis fünf Stunden umwandert werden kann (17), ließ sich Papst Johannes Paul II. zuallerletzt nachsagen, dass er während seines 26jährigen Pontifikats auf einer Reisestrecke, die zuletzt der 3,23fachen Entfernung der Erde vom Mond entsprach (18), zuhauf mirakulöse “Zeichen” gesetzt habe. Und wievielen Bischöfen, wievielen Kardinälen konnten in neuerer Zeit Heilfähigkeiten attestiert werden? Wieviele Pfarrer sind dadurch aufgefallen? Vom 9. Jahrhundert an hatte die Weihe zum Exorzisten eine von vier Stufen gebildet, die jeder angehende Priester zu beschreiten hatte; später jedoch setzte die Kirche nur noch wenige Kandidaten offiziell als hauptamtliche Austreiber ein, und seit 1972, auf ein Dekret von Papst Paul VI. hin (19), werden katholische Priester nur noch bei besonderen, äußerst raren Anlässen in bischöflichem Auftrag bestellt, nach bürokratisch aufwendiger Untersuchung jedes Einzelfalls. (20) Uneingeschränkt segensreich, über jede Kritik erhaben scheint ihr Wirken keineswegs. (21) Vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 2004 sind in der katholischen Kirche 725 Menschen zu Heiligen, 2357 zu Seligen gekürt worden (22), wozu sie unter anderem “Wunderheilungen” zu vollbringen hatten; die imposante Statistik relativiert sich freilich, wenn sie ins Verhältnis zum gewaltigen Zeit- und Raumsegment gesetzt wird, auf das sich die mutmaßlichen Wundertaten verteilen. Ein Beweis, dass das Heilungscharisma kirchenintern eher vorkommt als außerhalb, ist auf diese Weise nicht zu erbringen. Der in beiden großen Kirchen verbreitete Standpunkt, bei der Gabe des Heilens handle es sich eben um ein "nicht verfügbares" Charisma, dessen Zuteilwerden unergründlicher göttlicher Gnade unterliege, wirft in diesem Zusammenhang mehr heikle Fragen auf, als er löst: Wieso stattet Gott nicht gerade jene bevorzugt damit aus, die ihn hier auf Erden vertreten? Wieso gewährt er sie dem esoterisch Umnebelten von nebenan allem Anschein nach eher als seinem frommen Bodenpersonal? Die vielbeschworene “Krise der Kirche” gäbe es nicht, wenn sich ihr historischer Anspruch, als “Gemeinschaft der Heiligen” eine “originale Setzung Gottes” zu sein (23), im Walten charismatischer Kräfte exklusiv einlösen würde. Dass davon keine Rede sein kann, lieferte von je her Munition für Ketzer, die eben diesen Anspruch radikal in Frage stellen - und Kirche zumindest in ihrer institutionalisierten, von bürokratischen Abläufen, Befehlshierarchien und Vollmachten kraft Amtes geprägten Organisationsform jegliche Legitimation absprechen, sich in die Nachfolge Jesu zu stellen. (24) “Jesus wollte das ‘Reich Gottes’, gekommen ist die Kirche”, wie der französische Freigeist Alfred Loisy (1857-1940) das Dilemma zuspitzte. Derart befeuerte Kirchenaversionen verfehlen aber insofern ihr Ziel, als dabei ein logischer Grundzug des Charisma-Begriffs verkannt wird. Wie alle Begabungen, so sind Charismen Dispositionen: Eigenschaften, die ihr Träger unabhängig davon aufweisen kann, wie oft er sie in Handlungen manifestiert. Ihr Besitz mag “nicht verfügbar” sein - aber ist es auch ihre Anwendung? Was "nicht verfügbar" ist, kann sich niemand aneignen, wie sehr er sich auch bemüht. Aber wenngleich einem Großteil heutiger Geistheiler ihre Fähigkeit anscheinend eher schicksalshaft zuteil wurde (25) - zumindest manche lernten offenbar, mit ihr therapeutisch effizient umzugehen, bewunderte Vorbilder nachahmend oder Kurse absolvierend; zu ihnen zählen auch drei Pfarrer, die im vorliegenden Buch über ihren Werdegang zum Heiler berichten. (26) Indes denkt keiner von ihnen im entferntesten daran zu behaupten, mit der Bezahlung von Kursgebühren habe er eine göttliche Gnadengabe käuflich erworben. Eine besondere Begabung zu heilen hat vermutlich jeder von ihnen schon mitgebracht; eine förmliche Ausbildung half ihnen jedoch, diese Disposition in sich zu entdecken, zu ihr zu stehen, sie zu entfalten, ähnlich wie oftmals erst eine Gesangsausbildung aus einer guten Stimme eine formt, die auch die verschnörkeltste Opernarie virtuos bewältigt. Wer sich nicht ins Wasser traut, wird niemals herausfinden, ob er schwimmen kann. Doch was man nicht zu können meint, überlässt man gerne Anderen - und so empfanden es die christlichen Kirchen historisch eher als Erleichterung denn als Zumutung, als die moderne Medizin sich anschickte, ein Behandlungsmonopol zu beanspruchen. Seither haben sich Geistlichkeit und Ärzteschaft in einer mehr oder minder reibungslosen Arbeitsteilung arrangiert, die vermeintlich beiden nützt und keinem weh tut, weil sie dem Anderen großzügig sein Revier belässt, sich dafür aber Einmischungen in innere Angelegenheiten verbittet: die einen sorgen für Heilung, die anderen für Heil. Doch eben diese Demarkationslinien verschwimmen neuerdings zunehmend, aufgrund der wachsenden Einsicht in Grenzen der Medizin, die vermutlich nicht bloß historisch zufällig sind - d.h. durch noch wirksamere Medikamente, noch präzisere Instrumente, noch ausgefeiltere Technik auf kurz oder lang überschritten werden -, sondern grundsätzlicher Art sein könnten, von einer einseitig mechanistisch-materialistischen Ausrichtung herrührend. Immer mehr Ärzte öffnen sich für eine Zusammenarbeit mit Heilern, lassen sie in Praxen und Kliniken mitarbeiten, werden sogar selber zu Heilern, aus der Erfahrung, dass sie vermeintlich "Austherapierten" auf diese Weise selbst dann noch helfen können, wenn sie mit ihrem schulmedizinischen Latein am Ende sind. (27) Warum sollten Pfarrer zu dieser tatkräftigen Form von Nächstenliebe weniger geeignet und berufen sein als Medicusse? Ein ermutigendes, zugleich aber irreführendes Beispiel dafür bietet das heilsame Wirken des Kapuzinermönchs Francesco Forgione (1887-1968), des ersten stigmatisierten Priesters in der Geschichte der katholischen Kirche. Als "Pater Pio" linderte und heilte der Bauernsohn, der seit 1918 die fünf Wundmale Christi auf seinem Körper trug, von den vierziger Jahren an bis zu seinem Tode das Leiden Abertausender von Pilgern, teils durch Handauflegen, teils durch bloßes Wort. Seine "Wunderheilungen" wurden in kirchlichem Auftrag von Ärzten überprüft und als "medizinisch unerklärlich" testiert. 1999 wurde er selig-, drei Jahre später heiliggesprochen. Der Fall Pio macht einerseits Mut, weil er zeigt, dass scheinbar medizinisch "unmögliche" Therapieerfolge auf Wegen, die schon Jesus beschritt, auch zwei Jahrtausende später leibhaftig manifest werden können, in einer Deutlichkeit, der auch der Argwöhnischste die Anerkennung kaum versagen kann. Irre führt der Fall Pio andererseits insofern, als er in seiner dramatischen Einmaligkeit den Eindruck verstärkt, die Gabe des Heilens stelle ein außerordentlich rares, von Gott nur ausnahmsweise verliehenes Charisma dar, sozusagen die Blaue Mauritius des irdischen Gesundheitswesens; und ehe man befugt sei, von seinem Vorliegen auszugehen, müsse eine vielköpfige Ärztekommission zuallererst jahrelang Aktenberge durchwühlen. (28) (Nach diesem Maßstab käme Jesus nicht einmal für eine Seligsprechung in Betracht, denn die biblischen Belege für seine Heilungen verfehlen samt und sonders Mindeststandards sauberer medizinischer Dokumentation.) Fürwahr, kein einziger unter Deutschlands Heilern trägt Stigmata, wohl keiner erreicht Pios Frömmigkeit und asketische Selbstkasteiung, Hingebung und Entrücktheit; und nicht einmal eine Handvoll stand bislang in eingehenden medizinischen Studien auf dem Prüfstand. Doch dass mehr als eine Handvoll unter ihnen den vermeintlich "Behandlungsresistenten", den Aussortierten des herkömmlichen Medizinbetriebs, entgegen ärztlichen Prognosen erfreulich oft zu helfen vermag, kann schwerlich bezweifeln, wer die Erfahrungsberichte von Patienten, aber auch den inzwischen erreichten Forschungsstand auf sich wirken lässt. (29) Beides deutet darauf hin, dass Träger des Heilungscharismas hierzulande zumindest in die Hunderte gehen - und dass eine Lebensführung, die Strenggläubige pikiert, durchaus kein Hindernis darstellen muss. Die erheblichen, mitunter bestürzenden Qualitätsunterschiede zwischen Heilern deuten außerdem darauf hin, dass "Heilkraft" kein Etwas ist, das jemand entweder hat oder nicht, gleich einem Präsent vom Weihnachtsmann - sondern eine Begabung, die wie jede andere in unterschiedlichstem Maße angelegt und ausgeprägt sein kann. Aber auch weit unterhalb der Vollendung bringen Geistheiler vielfach etwas zuwege, was kranken Kirchenmitgliedern zumindest Linderung verschaffen und dadurch ihr Gottvertrauen stärken kann. 4 Bei etlichen Kirchenvertretern herrscht ein fatalistisches Krankheitsverständnis vor, das den Urchristen noch weitgehend fremd war, aber spätestens in der Zeit der verheerenden Seuchen, die Europa im Mittelalter heimsuchten, die Oberhand gewann. Unter den Händen Jesu und seiner Apostel schien noch jedes Leid zu weichen; doch den Wellen von Cholera, Typhus und vor allem von Pest, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ganze Städte und Landstriche entvölkerten, fühlte sich das christliche Abendland trotz aller Glaubenskraft wehrlos ausgeliefert. Kein Geistlicher, ja nicht einmal der Papst vermochte sie zu bannen. Inbrünstige Gebete von Abermillionen blieben unerhört. Was blieb ihnen anderes übrig, als sich mit dem Unabwendbaren abzufinden? Trost schöpften sie aus dem Gedanken, dass Krankheit die Zuchtrute Gottes sei - die gerechte Strafe für offenbare oder heimliche Sünde. Vielleicht steckt auch eine “Prüfung” dahinter. So oder so scheint sich in gesundheitlichen Nöten der Wille eines göttlichen Gerichts auszudrücken. "Wunderheiler", die darauf aus sind, sie zu beenden, freveln somit, weil sie den Vollzug des Urteils zu vereiteln versuchen; derselbe Tadel trifft den Kranken, der glaubensschwach ihre theologisch suspekten Dienste sucht. Krankheit als Lektion: Statt nach "Wundern" Ausschau zu halten, sollten Betroffene eher lernen, sich in ihr Schicksal zu fügen - und seinen tieferen Sinn zu erkennen. In der Weigerung mancher christlich-fundamentalistischer Gruppierungen, medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen - so als wären nicht auch Ärzte Kinder Gottes -, steigert sich diese Einstellung zu einem oft lebensgefährlichen Exzess. Die Bibeltreue solcher Medicophobie darf bezweifelt werden. Konfrontiert mit Krankheit, Schmerz und Leid, erwies sich Jesus durchweg eher als Aktivist denn als Fatalist. Als ein Gelähmter zu ihm gebracht wurde (Mt. 9,1-8) - forderte ihn der Gottessohn dann auf, seine Reglosigkeit in eine wertvolle Prüfung umzudeuten? Als der Synagogenvorsteher ihn anflehte, seine Tochter wiederzubeleben (Mt. 9,18 ff.) - belehrte ihn Jesus daraufhin, mit dem Tod müsse man sich halt abfinden, was ein Leichtes sei, weil sich tröstlicherweise ja gleich anschließend die Pforten des Himmels öffnen? Als eine Frau an ihn herantrat, die seit zwölf Jahren an Blutungen litt (Mt. 9,20-22) - beschied er ihr, sie möge weiterbluten, auch damit setze ihr der Himmlische Vater gewiss ein bedeutungsschwangeres Zeichen? Als ein Aussätziger (Mt. 8, 1-4), ein Hydrops-Geplagter ("Wassersüchtiger", Lk. 14,1-6) und zwei Blinde sein Erbarmen erflehten (Mt. 9,27-31) - beließ es Jesus dann bei der Verheißung, das wahre Heil, auf das es letztlich ankomme, sei auch ihnen gewiss, weshalb sie ihre Malaise tapfer ertragen und begreifen lernen sollten, was Gott ihnen damit sagen will? Nie war irdische Not für den Nazarener etwas unabänderlich Hinzunehmendes - "alles ist möglich dem, der da glaubt" (Mk. 9,23). 5 Hinzu kommt, dass sich Geistiges Heilen nicht konfessionell vereinnahmen lässt. Zwar haben alle christlichen Heiligen und Seligen, ehe sie kirchenamtlich zu solchen befördert werden konnten, mindestens eine wohldokumentierte "Wunderheilung" bewerkstelligt; doch nicht minder glaubwürdige Mirakel brachten auch herausragende Gestalten anderer Religionen zuwege. Zwar herrscht zumindest in der westlichen Welt unter praktizierenden Heilern nach wie vor ein christliches Glaubensbekenntnis vor - doch arbeiten ihre Kollegen aus anderen Kulturkreisen allem Anschein nach keineswegs therapeutisch uneffektiver. Zwar berufen sich die meisten Heiler auf Ihn als Kraftquelle - doch dabei haben pantheistisch-animistische, um eine "universelle Energie" kreisende Gottesbilder, die dem Christentum fremd sind, dem personalen "Vater im Himmel" längst den Rang abgelaufen; es überwiegen synkretistische Weltbilder Marke Eigenbau, in denen Versatzstücke aus mehreren Glaubensrichtungen hemmungslos vermischt werden mit Deutungsangeboten esoterischer Traditionen sowie Anleihen bei parapsychologischer Forschung, die üblicherweise überstrapazieren, was die Datenlage hergibt. Zwar waren an den überzeugendsten wissenschaftlichen Studien, die für geistige Heileffekte sprechen (30), katholische und protestantische Gebetsheiler beteiligt - aber auch Baptisten und Moravianer, "Qi"- und "Prana"-Vermittler, Schamanen und buddhistische Mönche. Zwar profitieren gläubige Patienten von Geistigem Heilen eher - doch woran sie glauben, scheint mehreren psychologischen Studien zufolge zweitrangig. (31) Allem Anschein nach recherchiert der Herrgott nicht erst in Mitgliederverzeichnissen, ehe er Charismen verteilt. Ist das etwa ein Grund zur Enttäuschung? “Gott ist nicht das Privateigentum der Kirche, er ist überhaupt niemandes Privateigentum”, stellt Johann Baptist Merz klar, Fundamentaltheologe an der Universität Münster. “Er will nur ‘mein’ Gott sein, wenn er auch ‘dein’ Gott sein kann, nur ‘unser’ Gott, wenn er auch der Gott der Anderen sein kann, der Gott schließlich aller Menschen.” (32) Geistheilungen geschehen innerhalb wie außerhalb der Kirchen, und das verträgt sich nicht mit dem Sonderstatus, den jede von ihnen für sich beansprucht. Zudem stünde die besondere Kompetenz und Autorität der Kirchen, über Geistiges Heilen zu befinden, von vornherein in Zweifel: Mit Bedingungen und Wirkungen dieser Therapieform befassen sich seit Jahrzehnten Parapsychologen, Mediziner, Biologen, Biophysiker und Chemiker in Forschungsinstituten rund um den Globus - fernab von theologischen Fakultäten, Akademien und Bischofssitzen. Die Chancen, sie von dort wieder zurückzuholen, stehen schlecht: Denn auch wenn die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die den Erfolgen Geistigen Heilens zugrunde liegen, noch weitgehend im Dunkeln liegen - es besteht kein Grund zu der Annahme, dies sei für alle Zeiten unabänderlich, weil notwendigerweise so, wie manche Theologen mutmaßen. Zweifel sind angebracht, ob es sich beim "Wundercharisma (um) eine spontan auftretende Macht" handelt, die "sich nicht technisch ausnutzen (lässt), da sie nicht berechenbar auftritt. (...) Ihr liegen auch keine noch unerkannten Naturgesetze zugrunde, vielmehr scheint hier ein Spielraum der 'Natur' sich zu öffnen, der nicht durch Naturgesetze im üblichen Sinne determiniert wird." (So argumentierten unlängst Prof. Gerd Theißen und Annette Merz vom Theologischen Seminar der Universität Heidelberg.) (33) So ähnlich hätten griechische Gelehrte zu Zeiten Homers wohl auf die Prognose reagiert, Zeus´ Donnerkeile wären irgendwann auf elektrostatische Entladungen in der Atmosphäre zurückzuführen. (34) Aber muss Geistiges Heilen denn "übernatürlich" sein, ehe es Gottes Wirken zugeschrieben werden darf? Muss es zuerst a priori dem Zuständigkeitsbereich von Naturwissenschaftlern entrissen werden, bevor sich religiöser Glaube daran nähren kann? Wenn Er Schöpfer der Natur ist - zeugt die vermeintliche "Wunderheilung" nicht gerade, indem sie deren Gesetzen folgt und sich daraus ergibt, von seiner unfassbaren Größe? 6 Für weiteres Unbehagen sorgt die Befürchtung, mit Geistigem Heilen in Gotteshäusern handle man sich womöglich ein Trojanisches Pferd ein, dem ein Ungetüm namens Esoterik entsteigt: eine von vielen diffusen Ängsten, die etliche Kirchenvertreter chronisch umtreiben und in den polemischen Rundumschlägen manches übereifrigen kirchlichen "Sektenbeauftragten" gipfeln. (35) Ihre Pauschalität befremdet. Denn "die" Esoterik gibt es nicht; das unbedachte Etikett klebt auf einem wirren Sammelsurium von Denkrichtungen und Praktiken aus vielerlei Kulturen und Epochen, die vor allem eines verbindet: Jahrhundertelang war es gefährlich, sich öffentlich zu ihnen zu bekennen oder auch nur für Toleranz ihnen gegenüber einzutreten - weshalb ihre Anhänger gut daran taten, sie "esoterisch", im Wortsinn "insgeheim", zu betreiben. Wie der evangelische Theologe Prof. Manfred Josuttis zurecht hervorhebt, sammelten sich im "Okkulten", Verborgenen, unter anderem auch "spirituelle Methoden, die in der kirchlichen Vergangenheit durchaus praktiziert, aber im Zuge der permanenten Anpassung an die jeweiligen Modernismen verstoßen worden sind" (36) - beispielsweise das Geistige Heilen. Und auch "den" Heiler gibt es nicht (37), ebensowenig wie "den" Arzt oder "den" Pfarrer. Unter Heilern habe ich Gottesfürchtige und Atheisten kennengelernt, Asketen und Lebenskünstler, Schweiger und Schwätzer, Liebevolle und Technokraten, Altruisten und Egomanen - ein denkbar breites Spektrum von Persönlichkeitstypen, wie man sie in jeder größeren sozialen Gruppe antrifft. Es reicht von der wahrlich durchgeknallten Eso-Tussie, die ihre letzten 28 Inkarnationen in- und auswendig kennt, ihren Speisezettel akribisch auspendelt, ihre Tiefkühltruhe gegen eine Pyramide eintauscht, mit Außerirdischen Zwiesprache hält und nie versäumt, ihrem Blumenwasser Reiki zu geben, bis hin zur mustergültig frommen Gebetsheilerin, die zwar der Kirche, keineswegs aber dem Herrgott der Christenheit den Rücken gekehrt hat. Wer die Szene fair bewerten will, muss zuallererst unterscheiden lernen. Ein beträchtlicher Teil der Heiler hegt und lebt eine Gesinnung, die ihn für christliche Seelsorger durchaus zu akzeptablen Partnern macht. Aber wie steht es mit jenen Heilern, die sich vom einen oder anderen christlichen Glaubensgrundsatz verabschiedet haben? Gegenfrage: Kann es wirklich in Seinem Sinne sein, Leidenden Hilfe vorzuenthalten - und ihnen auszureden, Hilfe zu suchen -, sofern sie von Anders- und Ungläubigen kommt? Auch wenn die religiösen Überzeugungen vieler Heiler teilweise in krassem Widerspruch dazu stehen, was Christen glauben - tun es auch ihre Taten und der Geist der Humanität, in dem sie vollbracht werden? Entsetztes Befremden darüber, was in den mental osterweiterten Köpfen mancher Heiler vorgeht, verstellt zudem den Blick darauf, in wievielen Hinsichten sie gleichwohl mehrheitlich dem Christentum zumindest nahestehen: - Kaum einer von ihnen gibt vor, aus eigener Kraft heilen zu können. Die meisten sehen sich keineswegs als Magier, wie ihnen esoterikkritische Theologen gebetsmühlenhaft unterstellen, sondern als "Kanal" für eine höhere Quelle, aus der sie schöpfen. (38) - Weder ist der typische Heiler ein gottloser Geselle, noch entspricht seine Vorstellung von Gott jener Karikatur, die ihm von kirchlicher Seite oft angedichtet wird: so als handle es sich um eine kalte “Energie”, die seelenlos das All durchwabert und strukturiert. Ein typischer Vertreter dieser verbreiteten Form von übler Nachrede, der Dogmatik-Professor Medard Kehl von der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt, meint das “Spezifikum des christlichen Glaubens gegenüber New Age” ausgemacht zu haben: “Der Kosmos, das Universum gewinnt für uns erst dadurch ein ‘ansprechendes’ und bergendes Gesicht, wenn aus seiner Mitte uns eine Hand entgegenkommt, die uns einlädt und zu sich zieht, ein Du, dessen Zuneigung zu uns den ganzen Kosmos erst liebenswürdig macht.” (39) Wie jede halbwegs repräsentative Umfrage unter Heilern ergeben würde, setzt mindestens eine Dreiviertelmehrheit Gott vielmehr gleich mit allumfassender Liebe in ihrer reinsten, vollkommensten Form - ohne ihr allerdings zuzutrauen, dass sie uns hin und wieder eine Kopfvorderseite zukehrt und Gliedmaßen entgegenstreckt. Hallt in Kehls Beschwörung eines höchsten Wesens mit Gesicht und Hand nicht jene naive Anthropozentrik vom “Vater im Himmel” wieder, die mit der biblischen Mahnung “Du sollst dir kein Bildnis machen” unvereinbar ist? Wer aber vom Gott der Christenheit den Wust von Projektionen subtrahiert, in denen Menschen ihn sich anzugleichen, zu vermenscheln versuchten, der ist von jenem höchsten Wesen, von dem sich die meisten Heiler geführt wähnen, keineswegs mehr unüberbrückbar weit entfernt. Die "Lebenskraft", die sie aus ihm schöpfen und in den therapeutischen Prozess einbringen, "gehört für ein theologisches Weltbild zur guten Ausstattung der Schöpfung Gottes", wie zumindest mein Mitautor Manfred Josuttis anerkennt. - Kaum ein Heiler "will" bestimmte Therapieziele erreichen; die meisten überlassen es einer höheren Macht, ob und wie sie Heilung schenken will. ("Sein Wille geschehe"). - Kaum einer verspricht, wozu vermutlich nur Jesus jemals imstande war: jede Krankheit sofort zu heilen, und zwar vollständig. Omnipotenzgehabe ist den meisten Geistheilern fremd; in aller Regel kennen sie ihre Grenzen und benennen sie gegenüber Hilfesuchenden freimütig. - Keine Behandlungsmethode ist unter Geistheilern verbreiteter als Handauflegen und Fürbitte, zwei Heilweisen mit einer jahrtausendealten christlichen Tradition - auch wenn allein das Handauflegen mittlerweile in mehreren Dutzend Varianten praktiziert wird und sich Fürbitten nicht immer an Gottvater richten, sondern oftmals eher an eine unpersönliche, das Universum durchdringende Kraftquelle, der allerdings göttliche Attribute zugeschrieben werden. (40) - Viele Geistheiler sehen in bedingungsloser Liebe das entscheidende therapeutische Agens. (41) - Ein Geistheiler behandelt nicht Krankheiten, sondern Kranke. Ihnen hilft er, Sinn im Schicksal zu finden - Symptome als Signale, das Leid als Chance zu begreifen. - Krankheit wird von Heilern nicht als unglücklicher Zufall betrachtet, der vom Lebensweg abbringt, sondern als Teil dieses Wegs, mit der Chance, innerlich zu wachsen und zu reifen. Während Ärzte Ursachen diagnostizieren, sind viele Heiler darauf aus, Gründe aufzuzeigen. Statt eine Erkrankung nur zu erklären, wollen sie verstehen lassen, wozu sie auftrat, wieso gerade jetzt, weshalb ausgerechnet bei diesem Menschen; der Betroffene soll einen tieferen Sinn darin erkennen. - Unter wahrer Heilung verstehen die meisten Heiler weitaus mehr, als Symptome zu beseitigen und zugrundeliegende Defekte zu beheben: Sie erfasst den Patienten als ganze Person, die rundum heil werden soll; wiederhergestellt werden sollen dabei nicht in erster Linie normgerechte Vitaldaten, Laborwerte und digitale Indizes, sondern eine aus dem Gleichgewicht geratene Einheit von Körper, Geist und Seele. Dies kann gegebenenfalls einschließen, sich unkuriert mit einem unabänderlichen Schicksal auszusöhnen - mit Jesus den Weg erlösenden Leidens zu gehen (Mk. 8,34; 2. Kor. 4,7-11; Kor. 1,24; Hebr. 5,8), wie mancher christliche Theologe sagen würde -, statt voller Verbitterung damit zu hadern und daran zu verzweifeln. - Als Ziel wahrer Heilung, aber auch als Voraussetzung dafür, überhaupt heilen zu können, betonen viele Geistheiler Spiritualität: das Bewusstsein der Göttlichkeit der gesamten Schöpfung - und eine Lebensweise, die dieser Einsicht entspricht. (42) - In Geldangelegenheiten verfahren immer noch zahlreiche Geistheiler nach dem Gebot Jesu: "Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben" (Mt. 10,8). Diese Merkmale allein machen aus einem fernöstlich angehauchten Handaufleger zwar noch keinen Christen; doch erleichtern sie es Christen nicht, guten Gewissens auf Heiler zuzugehen, um sie in den Dienst an Leidenden einzubeziehen? Eine echte "Kultur des Miteinander trotz verschiedener Einstellungen und Ansichten", wie sie Dr. Wolfgang Habbel, aber auch allen übrigen Mitautoren meines Buchs Wie Jesus heilen am Herzen liegt, lässt kaum eine andere Wahl. "Es ist nicht einzusehen", betont Prof. Dr. Theo Sundermeier in seinem Beitrag, "warum (...) kulturgeprägte Heilungsmethoden nicht angewandt werden können, wenn sie sich bewährt haben und dem christlichen Glauben nicht widersprechen. (...) Christliche Engherzigkeit ist fehl am Platz, wenn es um die Heilung und das Leben von Menschen geht. (...) Weisheit und das Wissen um Krankheit und Heilung ist nicht auf Christen beschränkt. (...) Es ist dringend an der Zeit, dass die Gemeinden die Charismen ihrer Mitglieder entdecken und ihnen Raum geben." Wer Heilern einen innerkirchlichen Rahmen bietet, in dem sie segensreich wirken können, schafft dadurch nicht zwangsläufig eine Werbeplattform für Weltbilder, die den Kirchen ein Graus sind. "Auch medizinisch unerklärliche Heilungen", so wird im Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen (43) zurecht betont, "eignen sich nicht dazu, die Wahrheit einer Glaubenslehre oder Weltanschauung zu begründen". Dass Geistheilungen stattfinden, steht auf dem inzwischen erreichten Forschungsstand (44) außer Frage - doch warum sie geschehen, weiß vorerst niemand, und vorentschieden werden muss diese Frage ebensowenig, wie unsereins erst zu kapieren hat, wie ein Computer funktioniert, bevor er ihn nutzen kann. (45) Wie die christlichen Kirchen, statt ab- und auszugrenzen, mit außerkirchlicher Geistheilerei ebenso souverän wie bibelkonform umgehen könnten, ist im Markus-Evangelium nachzulesen (Mk. 9, 38-40); der Ratschlag stammt von Jesus persönlich.46 "Meister", so soll sich einst Johannes beschwert haben, "wir haben gesehen, wie jemand in deinem Namen Dämonen austrieb; und wir versuchten, ihn daran zu hindern, weil er uns nicht nachfolgt." Darauf erwiderte Jesus: "Hindert ihn nicht! Keiner, der in meinem Namen Wunder tut, kann so leicht schlecht von mir reden. Denn wer nicht gegen uns ist, der ist für uns", und erklärte Gegner Christi kommen unter Heilern nicht erheblich häufiger vor als Geldfälscher in der Europäischen Zentralbank. 7 Ein weiteres, immer noch mächtiges Motiv, auf Distanz zu Geistheilern zu gehen, steckt im Hang orthodoxer Kirchenkreise, alles Wundersame zu verteufeln. Kündigt die Heilige Schrift nicht für die befürchtete "Endzeit" "Zeichen und Wunder" an (2. Thess. 2,9), durch welche die Gläubigen verführt werden sollen, von Gott abzufallen (Mt. 24)? Der Teufel kann sich "verstellen in einen Engel des Lichts", warnt die Bibel. So könne es geschehen, dass eine Bewegung den Namen Gottes rühme und doch einen "fremden Geist", ein "fremdes Feuer" in sich trage (3. Mose 10).47 Also beweisen Wunder gar nichts, auch keine Heilwunder. Denn "der Geist aus dem Abgrund" wirkt ebenfalls Wunder (Offenbarung 13,13). Wen solche apokalyptischen Ängste plagen, der ist leicht versucht, in Geistheilern arglose oder gar vorsätzliche Vollzugsgehilfen teuflischer Verführungskünste zu sehen - sozusagen die therapeutische Vorhut der civitas diaboli, des Reichs Satans, der Leiber kuriert, um Seelen zu fangen. Dass derselbe Generalverdacht der Schulmedizin erspart bleibt, nimmt Wunder; die manchmal geradezu teuflischen Risiken und Nebenwirkungen, mit denen ihr Einsatz verbunden sein kann - bis hin zum schlimmstmöglichen Kollateralschaden des tödlichen Kunstfehlers -, stellen schließlich mühelos in den Schatten, was die geballte "kosmische Energie" von tausend Reiki-Meistern schlimmstenfalls anrichten könnte. "Wann folgt die Ursache der Wirkung? Wenn ein Arzt hinter dem Sarg seines Patienten hergeht" - ein solcher Witz lässt sich über Geistheiler schwerlich reißen. Unter ihnen gute und böse auseinanderzuhalten, sollten die Kirchen jedenfalls nicht wiederauferstandenen Hexenjägern überlassen, die hochtourig im Leerlauf die permanente Entscheidungsschlacht gegen den Antichrist inszenieren - und vor lauter Weihrauch und Schwefel vergessen haben, wie frische Luft riecht. Diese hätten vermutlich nicht einmal vor Jesus selbst, wenn er unter uns wäre, Halt gemacht - wie einst jene Pharisäer, von denen der Evangelist Matthäus berichtet (9, 32-34): Nachdem Jesus einen Stummen wieder zum Sprechen gebracht hatte, argwöhnten sie, er habe "die Dämonen mit Hilfe des Anführers der Dämonen ausgetrieben." Tatsächlich musste sich schon Jesus des Vorwurfs erwehren, er triebe die Dämonen durch Beelzebul aus, seine Heilungspraxis beruhe also auf einem Teufelspakt (Lk. 11, 18 f.) - insofern befinden sich heutige Geistheiler in bester Gesellschaft. Wer in der aufgelegten Heilerhand die Pranke Satans durchschimmern sieht, könnte ihn ebensogut mittels allem und jeglichem nach uns grabschen wähnen, was uns in dieser Welt gut, edel, rein und göttlich vorkommt, es vielleicht aber bloß zu sein scheint. Tragen nicht womöglich sogar die orthodoxen Schimpftiraden gegen "dämonische" Geistheilerei die Handschrift des Bösen - der es Schwerkranken nicht gönnen mag, in liebevoller Begegnung Hilfe zu finden; der höllischen Spaß daran hat, sie weiterleiden zu sehen; der chronisch übereifrige Apokalyptiker dafür einspannt, ihnen ihre vielleicht letzte Chance auszureden? Wie gottesnah kommt die Anmaßung des selbstherrlichen Universaldurchblickers daher, dessen Ego davon lebt, mehr zu wissen als der ahnungslose, paramedizinisch verblendete Rest der Menschheit - der wahrhaft Hellsichtige unter lauter Blinden, der Geheimnisträger inmitten von Ahnungslosen? Sofern der Schein stets trügt, zumal in "Endzeiten", so trügt er mit Sicherheit auch den, der ihn zuverlässig zu durchschauen meint. 8 Hinter dem Horror diaboli, ebenso wie hinter Esoterophobie, versteckt sich bei Kirchenvertretern nach meinen Eindrücken häufig ein weiteres, besonders schwer einzugestehendes Motiv: die Angst vor Nähe. Um Hand aufzulegen, muss der Heiler Distanz überwinden, dem Bedürftigen nahekommen, den Fremden wahrhaftig und nicht nur in Lippenbekenntnissen zum Nächsten machen - körperlich und emotional. Im übrigen wird, über das Behandlungsritual hinaus, in den meisten Heilerpraxen auch anderweitig reichlich Nähe hergestellt: Ein ums andere Mal werden Hände ergriffen, beruhigend gehalten, aufmunternd getätschelt, manchmal sogar sanft gestreichelt; ab und zu kommt es zu innigen Umarmungen; Blicke voller Vertrauen, die Helfer und Hilfesuchende füreinander öffnen, werden gewechselt - und ausgehalten. Solche Formen der Intimität können befremden. Generationen von Priesterseminaristen haben sie weitgehend verlernt - verkopft, entemotionalisiert von Professoren, die sie zu ihrer Berufung hin vorzugsweise den vermeintlichen Königsweg der reinen Vernunft beschreiten ließen. Dieser Ausbildungsweg prägt, begünstigt und ermutigt Charaktere, die eher zusammenzucken als lächeln, wenn sie angefasst werden, und jede Berührung als peinlichen Angriff auf ihre Intimsphäre empfinden. Und so kennzeichnet Abstand den Gottesdienst von heute: der Pfarrer fast immer meterweit weg von seiner Gemeinde, die Gemeindemitglieder kontaktfrei nebeneinander stehend, kniend, sitzend - und verlegen um Verzeihung bittend, wenn versehentlich eine Schulter die andere touchiert. Eine meiner Mitautorinnen, Pfarrerin Esther Suter, begegnete dieser Art der Beklemmung in kirchlichen Kreisen mehr als einmal, als sie auf ihrem Entwicklungsweg daranging, "die rein verbale Ebene des Predigens zu verlassen. Die Angst vor Berührung, auch als Segenshandlung, kam indirekt zum Ausdruck durch die Angst vor Magie. (...) Ist es letztlich eine Angst, Kontrolle abzugeben?" Das richtige Rezept dagegen bringt mein Mitautor Hendrik Herr auf den Punkt: "Wenn unsere Hand aber in Gottes Hand liegt, dann gibt es keinen Grund, vor der Berührung des Anderen zurückzuschrecken, egal, wie ansteckend, bedrohlich oder unansehnlich die Situation sein mag." Ist Nähe nicht eine natürliche Ausdrucksform jener Liebe, die in ihrer reinsten Form zu den Wesensmerkmalen Gottes gehört? Aus all diesen Gründen können immer mehr Christen über die reflexhaften Abwehrreaktionen gewisser kirchlicher Kreise nur fassungslos den Kopf schütteln. Sie denken nicht daran, sich bange machen zu lassen. Denn oftmals erleben sie Geistiges Heilen als praktisches Beispiel selbstloser Nächstenliebe und Güte, Mitleid und Barmherzigkeit - von Rachmones, wie sie der Wiener Theologe Adolf Holl in seinem Essay allen helfenden Berufen ans Herz legt -, vollbracht von Mitmenschen, deren tiefe Frömmigkeit und Demut manchem Priester alle Ehre machen würde. In Abgrenzung von den Ausgrenzern Eine wachsende Zahl von Christen - einfache Laien, aber auch Pfarrer und Theologen - weigert sich, sich für Abgrenzungsgefechte einspannen zu lassen. Immer mehr Gläubige lassen sich, wenn sie vermeintlich unheilbar erkranken, guten Gewissens auf Geistheiler ein - und erleben dort mitunter mehr liebevolle Zuwendung, als ihnen je in ihren Gemeinden zuteil wurde; indem sie das "Wunder" der Heilung am eigenen Leib erfahren, finden viele zu tiefem Glauben zurück. Immer mehr Religionswissenschaftler sperren sich dagegen, Geistiges Heilen in Bausch und Bogen zu dämonisieren, gewichten Jesu Heilungsauftrag neu, würdigen den Nazarener als begnadeten Therapeuten; gegenüber der Esoterikszene, in der sich die meisten Heiler bewegen, plädieren sie wie Manfred Josuttis dafür, sich einer "polemischen Pose" zu enthalten, "einseitige Verketzerungen und pauschale Verfemungen durch klärende Wahrnehmungen abzulösen". (48) Und immer mehr Pfarrer öffnen, mit oder ohne den formellen Segen höherer Instanzen der Klerikalbürokratie, undogmatisch ihre Gotteshäuser für Heiler und Heilzeremonien, beziehen Handauflegen in Gemeindearbeit, Krankenhausseelsorge und Altenpflege ein. "Kommt zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen!": Dieses Jesus-Wort stand als Motto auf Handzetteln, mit denen Hansruedi Felix auf jene aufsehenerregenden Veranstaltungen aufmerksam machte, die er seit September 1995 - damals noch Pfarrer in Basel - in der reformierten Offenen Kirche Elisabethen anbot. Angekündigt wurde "Segnung und Handauflegung zur seelischen und körperlichen Unterstützung und ganzheitlichen Genesung durch HeilerInnen, die sich als VermittlerInnen der göttlichen Kraft verstehen und notleidenden Menschen durch Handauflegung Hilfe anbieten. Keine Voranmeldung." Um wöchentlich 30 bis 60 Hilfesuchende kümmerten sich, an jedem Donnerstag von 14 bis 18 Uhr, jeweils vier von insgesamt neun Heilerinnen. Viele, die kamen, erfuhren Linderung - doch "Wunderheilungen" fanden nicht statt, wie Pfarrer Felix einräumt; wären sie geschehen, so hätte er über sie möglichst Stillschweigen bewahrt; denn traditionelle Wallfahrtsreklame ist ihm ein Greuel. Er wollte "zur Versöhnung zwischen Kirche und Heilungsbewegung beitragen", nichts weiter. In den Heilerinnen sieht der Geistliche Werkzeuge Gottes: "Auch ein Arzt kann nicht heilen. Er kann mit seinem wissenschaftlichen Instrumentarium lediglich dahingehend wirken, dass die Heilungskräfte im Patienten aktiv werden. Dasselbe tut die Heilerin auf ganz anderem Weg." Alle drei Monate gestaltete Pfarrer Felix, gemeinsam mit seinen handauflegenden Helferinnen, eine liturgische Heilungsfeier mit musikalischer Umrahmung, einem Bibeltext mit Ansprache, einer Segnung mit Öl und dem Angebot der Handauflegung. Seine Nachfolgerin im Pfarramt führt diese Tradition bis heute fort. Wie Hansruedi Felix, so schlug auch der Pastorin Renate Ebeling geharnischte interne Kritik entgegen, nachdem sie Anfang 1997 in der St. Nikolai-Kirche in Kiel erstmals zu einem zweistündigen "Heilungsgottesdienst" eingeladen hatte. Rund 300 Menschen waren gekommen, überwiegend Kranke. Lange Warteschlangen bildeten sich vor dem Altar, an dem die Genesungswünsche mit Handauflegen, Bittgebeten und einer Salbung bestärkt wurden. "Die Heilige Schrift trägt uns solches Tun auf", beharrte die Geistliche, die auch im Klinikum der Christian-Albrechts-Universität von Kiel tätig ist. "Vorwürfe, das sei okkult oder esoterisch, erweisen sich im Blick auf die biblischen Belege als haltlos." Als exponierte Einzelgänger lassen sich Geistliche wie Hansruedi Felix und Renate Ebeling nicht länger abtun. Denn für ihre mutigen Vorstöße ernten sie inzwischen schon weit über ihre Gemeinden hinaus wachsende Sympathien, Ermutigung und Zuspruch; im selben Maße wird das Murren über die dogmatische Unbeweglichkeit von Kirchenoberen vernehmlicher. In Abwandlung eines Lichtenberg-Aphorismus: In der Kirche gärt es. Ob es Wein oder Essig werden wird, ist indes ungewiss. (49) Gegen vielerlei Vorbehalte, die diesen Gärungsprozess beeinträchtigen, geht das vorliegende Buch an - mit Beiträgen von mehreren Heilern, die ihren Dienst an Kranken als praktiziertes Christentum verstehen: medizinische Laien wie Beatrice Anderegg, Gertrud Emde, Thomas Köb, Margarete Rauer und Pamela Sommer-Dickson; staatlich zugelassene Heilpraktiker wie Ute Sautter; Ärzte wie Wolf-S. Schriewersmann. Bestärkt fühlen sie sich von querdenkenden Religionswissenschaftlern wie Adolf Holl, Walter Hollenweger, Manfred Josuttis und Theo Sundermeier, die ihre Bibel wohl kaum schlechter kennen als mancher mitunter unchristlich polemische Kritiker unter ihren Fakultätskollegen; von aufgeschlossenen Priestern wie Hansruedi Felix, Otto K. Fischer, Wolfgang Habbel, Gerhard Maier und Fritz Christian Schneider, die es nicht verdient haben, als unbedachte Türöffner für heidnische Subversion beargwöhnt zu werden. Ebenfalls in dieser Anthologie vertreten sind geistheilende Pfarrer wie Roman Grüter, Daniel Hari und Esther R. Suter, die in Wort und Tat schwerlich den Eindruck machen, als hätten sie sich insgeheim mit Satan verbündet. Einen engagierten Fürsprecher haben sie in Pfr. Jürgen Fliege, Moderator der erfolgreichen werktäglichen ARD-Talkshow, die seinen Namen trägt. Neben Katholiken und Protestanten verdienen aber auch rand- und außenständige Glaubensgemeinschaften wie Christian Science Gehör, die hier von Klaus-Hendrik Herr, dem Leiter ihres Deutschland-Komitees für Veröffentlichungen, vertreten wird. Warum, so fragen meine Mitautoren, tun sich große Teile der Kirchen nach wie vor schwer mit dem Phänomen "Geistiges Heilen" - je weiter oben in der Ämterhierarchie, desto ausgeprägter? Was muss geschehen, damit es im Christentum wieder eine bedeutendere Rolle spielt? Welche Gründe erschweren eine Annäherung? Wie stichhaltig sind die Argumente dagegen? Denkanstöße zu mehr Offenheit sollen von dieser Anthologie ausgehen - auf dass wir dem geistheilenden Wanderprediger vom Bodensee, falls er denn eines Tages käme, nicht womöglich bitter Unrecht tun. Am Ende eines Monopols Nicht nur theologische, auch strategische Erwägungen sprechen dafür, sich für Geistiges Heilen zu öffnen. Zwar gibt es in Deutschland immer noch 26,5 Millionen Katholiken und 26,2 Millionen Protestanten: eine absolute Bevölkerungsmehrheit, zu der noch 1,5 Millionen Christlich-Orthodoxe, 382'000 Neuapostoliker, 164'000 Zeugen Jehovas und mehrere zehntausend Mitglieder christlicher Splittergruppen kommen. (50) Doch sprechen diese Zahlen nicht eher für die Zählebigkeit von Traditionen als für die Christlichkeit der hiesigen Bevölkerung? Nur noch jeder vierte Deutsche betet täglich, 27 Prozent tun es nie. Vor vierzig Jahren besuchten noch 73 Prozent regelmäßig den Gottesdienst - heute tun es nur noch zehn Prozent der Katholiken und vier Prozent der Protestanten. (51) In der nachlassenden Bedeutung von Gebet und Kirchgang spiegelt sich der Niedergang praktizierten Christentums allgemein. Zwar gehören nach wie vor vier von fünf Westdeutschen einer der beiden großen christlichen Kirchen an. Aber diese Mitgliedschaft verkommt zunehmend zur Formsache; immer seltener, immer schwächer prägt sie den Alltag. Nur noch 56 Prozent erklären, an den biblischen Gott zu glauben. Andere grundlegende christliche Bekenntnisse - etwa der Glaube an Jesus als den von Gott gesandten Erlöser, an Himmel und Hölle, die Auferstehung der Toten und das Jüngste Gericht - finden schon keine Mehrheiten mehr. Zwei Drittel erklären die Religion für "ziemlich" oder "völlig unwichtig" in ihrem Leben. (52) Sich öffentlich zu seinem Christsein zu bekennen, gilt inzwischen weithin als eher peinlich; schon warnen Leitfäden guten Benehmens davor, den Glauben überhaupt noch zum Gesprächsthema zu machen. Die größte Pilgerfahrt der Christenheit, die am erlösenden Ende von Karol Wojtilas qualvollem Leiden und Sterben Anfang April 2005 in Gang kam, widerlegt nicht den ernüchternden Befund, sondern passt zu ihm. Die verkümmerte Form von Frömmigkeit, die sieben Millionen gen Rom ziehen und Milliarden Trauer-TV marathongucken ließ, lebt weniger aus täglich gelebtem Glauben, sondern entzündet sich zunehmend an der unerhörten Begebenheit, an außeralltäglichem Spektakel. Von Medien eine kurze Weile entfacht, reißt sie ebenso kurzzeitig mit, wenn Terroristen vollbesetzte Passagierflugzeuge in Wolkenkratzer rasen lassen oder eine Monsterwelle 300’000 Menschen in den Tod reißt. Je stärker sich der Alltag säkularisiert, desto wichtiger werden religiöse Riten, wenn er ins Wanken gerät, wenn das Unerhörte nach Formen der Bewältigung sucht. Mit Rechristianisierung hat das herzlich wenig zu tun. Mehr noch als der christliche Glaube befinden sich die Institutionen, die ihn tragen, in der Krise. Als unlängst die Unternehmensberatung McKinsey in ihrer großangelegten Online-Erhebung Perspektive Deutschland nach der Glaubwürdigkeit deutscher Institutionen fragte, landeten die Kirchen weit abgeschlagen hinter dem ADAC, Greenpeace oder der Bundeswehr; magere 17 Prozent gaben an, der evangelischen Kirche uneingeschränkt zu vertrauen, bei der katholischen Kirche waren es gar nur noch elf Prozent (53) - niederschmetternd für eine Einrichtung, die buchstäblich von ihrer Glaubwürdigkeit lebt. Gotteshäuser, in denen zwischen ein paar wenigen hohen Feiertagen gähnende Leere herrscht, werden reihenweise geschlossen, müssen vermietet werden, stehen zum Verkauf. Aus Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden werden Kreuze verbannt, der Religionsunterricht zunehmend zur inter- und überkonfessionellen Werteerziehung; ein dramatisch sinkendes Kirchensteueraufkommen zwingt zu Einschnitten und Einschränkungen, die vor kurzem noch undenkbar waren. 130’000 Menschen treten pro Jahr aus der Kirche aus, die meisten mit einem Seufzer der Erleichterung, der Umarmung durch einen schwerfälligen, dogmenstarren Koloss entkommen zu sein, der nahe daran ist, wie einst die Dinosaurier unter dem eigenen Gewicht zusammenzubrechen. Große Teile unserer Gesellschaft sind offenkundig dabei, Abschied von Gott und seinem Bodenpersonal zu nehmen, nicht im Groll, sondern eher mit Gleichmut. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend leben wir in einem heidnischen Land mit christlichen Restbeständen, wie der katholische Theologe Karl Rahner schon 1984 illusionslos befand. (54) "Die Nachchristlichkeit unserer Weltlage", urteilte der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk zwei Jahrzehnte später, "ist eine historische Gegebenheit". (55) In ihrem Angesicht wirken viele Kirchenrepräsentanten schreckensstarr und verzagt - so als hülfe, inmitten der Ruinen einstiger Macht, nur noch Psalm 69: “Rette mich, Gott, die Wasser reichen mir bis an die Kehle. Eingesunken bin ich in tiefem Schlamm, es findet mein Fuß keinen Grund. Ich kam in die Tiefen der Wasser, die Fluten strömen über mich.” Unter den zahlreichen Diagnosen für diesen kläglichen Niedergang, die auf kirchlichen Tagungen ratlos übereinandergetürmt werden, scheint mir zumindest eine ins Schwarze zu treffen: Noch immer wollen Kirchenobere nicht wahrhaben - geschweige denn sich darauf einstellen -, dass sie ihr Sinngebungsmonopol unwiderbringlich eingebüßt haben, zumindest in der Ersten Welt. Mit ihrem Dienstleistungsangebot in Sachen seelischer Erbauung, Gemeinschaftserfahrung und Ritualversorgung, der Vermittlung von Werten und Vorbildern bewegt sich die Kirche, ob sie will oder nicht, inzwischen auf einem heiß umkämpften Markt, auf dem sie als ein Anbieter unter anderen wahrgenommen - und einem nüchternen Leistungsvergleich unterzogen wird. Den Mühseligen und Beladenen, unter ihnen mehr als zwanzig Millionen chronisch Kranke allein in Deutschland (56), bietet sie in erster Linie erbauliche Worte, während Geistheiler mit warmherzigen Taten aufwarten. Unerträglich findet diesen Notstand Pfarrer Jürgen Fliege: “Was ist eine Religion wert, die sich um den Leib und seine Qual herumdrückt und auf ein ewiges Später verweist? Ich antworte: Nichts!” Empathie und Ausstrahlung vieler Kirchenmänner, vom Pfarramt bis zum Kardinalssitz, werden zudem häufig als unterentwickelt empfunden - die Heilerszene hingegen kann mit einer ganzen Reihe von charismatischen Persönlichkeiten aufwarten, deren Wärme, Weisheit und Heilbegabung Menschen in ihren Bann ziehen. Immer mehr gesundheitlich Angeschlagene wollen ihr Leid nicht bloß religiös gedeutet, sondern tatkräftig gelindert wissen. Weitaus verbreiteter als das Bedürfnis nach tiefschürfenden Gedanken ist der Hunger nach ergreifenden Empfindungen und Emotionen - Geistiges Heilen bietet sie. "Erst kribbelte es intensiv, dann wurde mir plötzlich ganz heiß", "Es war so, als stünde ich unter Strom", "Es durchzuckte mich wie ein Blitz", "Es fühlte sich so an, als wogten unsichtbare Wellen durch mich hindurch", "Ich vibrierte am ganzen Körper": In solche Worte fassen viele Patienten, was ihnen bei Geistheilern bisweilen widerfährt, während sie behandelt werden. Sie schildern außergewöhnliche, nie zuvor erlebte Empfindungen von Wärme oder Kälte, von Schwere, von einem Kribbeln oder Pulsieren, von einem Durchströmtwerden oder dem sanften Druck einer unsichtbaren Kraft, wie mehrere Umfragen seit den sechziger Jahren ergaben. (57) Um mit dem großen Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung zu sprechen: "Des Intellektualismus überdrüssig, will man von Wahrheit hören, die nicht enger macht, sondern weiter, die nicht verdunkelt, sondern erleuchtet, die nicht an einem abläuft wie Wasser, sondern ergreifend bis ins Mark der Knochen dringt." (58) All das kann Geistiges Heilen bieten. Es in den Gemeindealltag einzubeziehen, wäre deshalb klug. Ungute Gefühle, sich damit dem Zeitgeist anzubiedern, werden von mehreren Autoren dieser Anthologie besänftigt: Die Reform, für die sie plädieren, führt die Kirche keineswegs von ihren Wurzeln fort, sondern schnurstracks zu ihnen zurück (59) - im Gegensatz zu mancherlei sonstigen, eher peinlichen Verrenkungen, um die Leute “dort abzuholen”, wo sie in Kirchenkreisen bevorzugt vermutet werden. Kuriositäten wie Motorrad-Gottesdienste für Biker (“Mogo”), “Berg-Gottesdienste” (“Dem Himmel so nah”), die Aktion “Vaterunser per SMS”, Raver-, Inlineskater-und Fußball-Messen, “Lappen-Gottesdienste” für Führerscheinneulinge, ein bißchen Gitarrenzupf und geschlagzeugtes Dschingderassabäng neben dem Altar stehen nicht für Maßschneiderei, sondern für Beliebigkeit von der Stange, der Kurt Tucholsky schon 1930 die richtige Diagnose stellte: “Was an der Haltung beider Landeskirchen auffällt, ist ihre heraushängende Zunge. Atemlos jappend laufen sie hinter der Zeit her, auf dass ihnen niemand entwische.” Statt in derlei PR-beraterinspirierte Hektik zu verfallen, könnten sich die Kirchen konsequent auf den Heilungsauftrag Jesu zurückzubesinnen - und ein Gutteil ihrer Daseinsängste würden sich verflüchtigen. Eine Annäherung käme freilich nicht allein den christlichen Kirchen zugute, sondern durchaus auch der Heilerbewegung. Kein Religionsstifter hat die bedingungslose Liebe für den Nächsten jemals so nachdrücklich in den Mittelpunkt seiner Botschaft gestellt wie Jesus. Und gerade sie gerät allzuvielen Geistheilern von heute zunehmend aus dem Blick. Je größere Bedeutung esoterischen Techniken zum "Kanalisieren" mysteriöser "Energien", zum Glätten von Auren, zum Manipulieren von Chakras und anderen Sonderausstattungen "feinstofflicher" Körper beigemessen wird, desto mehr scheint sich die Kunst des Geistheilens darin zu erschöpfen, eine Energietechnik besonderer Art perfekt zu beherrschen und lehrbuchkonform zur Anwendung zu bringen. In den Hintergrund rücken dabei liebevolle, selbstlose Zuwendung, herzliche Anteilnahme, einfühlsames Verstehen, geduldiges Begleiten. Und auch andere unsympathische Begleiterscheinungen des Heilerbooms - die Kommerzialisierung der Szene, ihr Starkult, Eitelkeit und Machtgier, Scheinheiligkeit und Egozentrismus, die sanfte Diktatur selbsternannter “Erleuchteter”, der klägliche Niedergang von Demut und Bescheidenheit - sind unvereinbar mit jenem Geist, in dem Jesus den Dienst am leidenden Nächsten beispielhaft vorlebte; mit seiner Hilfe wären sie durchaus exorzierbar. Die Chancen dafür standen allerdings noch nie schlechter als heute. Denn in den zurückliegenden vierzig Jahren hat sich das Heilerwesen, unter dem Einfluss der "Esoterikwelle", dramatisch gewandelt. Zuvor waren in Deutschland vermutlich nur wenige hundert Geistheiler tätig, neben Besprechern und ein paar Exorzisten vor allem christliche Handaufleger und Gebetsheiler. (60) Wenn sie fernbehandelten, dann zumeist, indem sie für Kranke eine Fürbitte an Gott richteten. (61) Es überwogen schlichte, bodenständige Gemüter mit geringer Bildung aus mittleren und unteren sozialen Schichten, die meist zurückgezogen in ländlicher Gegend wirkten und vornehmlich aus innerer Berufung halfen. Vollprofis fanden sich kaum darunter: Die meisten übten Geistiges Heilen nebenbei aus, an Feierabenden und Wochenenden - nicht in regelrechten "Praxen", sondern in Wohnzimmern und Küchen; ihren Lebensunterhalt sicherten sie anderweitig. Kommerziell insofern nicht von Heilerhonoraren abhängig, arbeiteten sie vorwiegend unentgeltlich, allenfalls Spenden wurden angenommen. Da Geistheilung selten ein Geschäft war, wurde kaum je Werbung dafür getrieben; ihren Heiler fanden Hilfesuchende überwiegend durch Mundpropaganda, auf Empfehlung von Verwandten und Kollegen, Freunden und Bekannten. Unter solchen Umständen hielten sich Heiler nur, wenn sie in bemerkenswert vielen Fällen tatsächlich etwas therapeutisch Außergewöhnliches, aus ärztlicher Sicht Unerwartetes zustande brachten; andernfalls blieben ihre Stuben leer. (Kein Markt selektiert härter als einer, der auf mündlich kolportierten "Geheimtipps" beruht, in denen Konsumenten ihre persönlichen Erfahrungen mit gewissen Produkten weitergeben.) Daher überwogen Heiler mit jahre-, oft jahrzehntelanger Erfahrung. Ihre Heilbegabung hatte sich fast immer schon in der Kindheit oder Jugend gezeigt. Keiner hatte zuvor eine regelrechte "Schule" durchlaufen, denn es gab keine. Die typische Heilerkarriere begann vielmehr in einer privaten, mehr oder minder intensiven Zweierbeziehung mit einem erfahrenen, bewunderten Vorbild - etwa der Mutter, dem Großvater, dem Nachbarn, dem Bekannten -, das begabte Nacheiferer meist über einen längeren Zeitraum beaufsichtigte und anleitete; oder Heilerfähigkeiten stellten sich unvermittelt ein: etwa nach Eingebungen in Träumen, unter dem Eindruck einer Vision, von einer inneren Stimme angesprochen, auf dem Höhepunkt einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder nach einem schweren Unfall; oder sie kamen bei zufälligem Ausprobieren zum Vorschein. Der traditionelle Heiler ging weitgehend intuitiv vor: Wie von selbst fanden seine Hände jene Stellen, auf die sie aufgelegt werden mussten. Er diagnostizierte nicht eigentlich; er "spürte" irgendwie, wo "etwas nicht in Ordnung" war. Um das, was er tat, machte er wenig Worte. Dazu fehlte ihm das Vokabular. Wenn er erklären sollte, wie und warum er heilen kann, trug er keine ausgefeilte Theorie vor. Seine Kraft und Zuversicht schöpfte er aus Gott - traditionelle Heiler aus unserem Kulturkreis waren durchweg tiefgläubige, praktizierende Christen -, dessen unergründlicher Ratschluss ausgerechnet ihn berufen hatte. Doch dieser Heilertypus ist im Aussterben begriffen. (62) Seit den sechziger Jahren, als die "Esoterikwelle" über die alternative Gesundheitskultur des Westens hereinzubrechen begann, ist die Zahl der haupt- oder nebenberuflichen Geistheiler in Deutschland zwar auf weit über 10'000 angeschwollen - diejenigen eingerechnet, die zumindest eine Heilerausbildung wie z.B. einen der zwei ersten Reiki-Grade absolviert haben, sogar auf mehrere Hunderttausend. Doch deutlich über neunzig Prozent dieser Heiler verkörpern inzwischen, auf einem zunehmend kommerzialisierten Markt, einen radikal anderen Therapeutentyp. Überdurchschnittlich viele relativ junge Leute sind darunter, aus der Altersklasse zwischen zwanzig und vierzig, entlassen oder ausgestiegen aus bisherigen Berufen und kaputten Beziehungen - Unausgefüllte, Vereinsamte und Frustrierte, von Selbstzweifeln und Sinnkrisen Geschüttelte, neuen Halt, Orientierung und Einkommen Suchende. Ihre Berufung entdeckten sie in Begegnungen mit Astrologen, "Hellsichtigen", Medien, "spirituellen Weisheitslehrern", Bhagwans oder anderen respektierten Autoritäten der Esoterikszene, in Kursen und Workshops, an Messeständen, in Literaturstudien, auf ausgedehnten Selbstfindungstrips zu den süßlich durchräucherten Szenetempeln im Großstadtdschungel oder zu Ashrams und anderen exotischen Retreats in der Dritten Welt. Traditionellen Heilern wurde ihre Fähigkeit zuteil - esoterische erlernen sie, ähnlich wie die Kunst des Deutens von Horoskopen, Handlinien oder Tarotkarten. Um ihre Ausbildung kümmern sich hierzulande inzwischen mehrere hundert private Schulen, zumeist Ein-Mann/Frau-"Institute"; weil angeblich "in uns allen ein Heiler steckt", befördern sie jedermann, der die verlangten Gebühren bezahlt, im Schnelldurchlauf zu "Heilern" - manchmal schon an einem einzigen Wochenende, zumeist nach höchstens einem Dutzend Kurstagen. (Unrühmlich hervorgetan haben sich dabei auch Heiltraditionen, in denen sich einzelne Mitautoren dieser Anthologie zuhause fühlen, insbesondere Reiki (63), aber auch "Meister" Dangs Human Universal Energy (64) und die "Bioenergetische Meditation" (65).) Das befremdet Christen, die in der Fähigkeit zu heilen ein Charisma sehen, das "nicht verfügbar", sondern der Gnade Gottes überlassen ist. (Diesen Aspekt betont Dr. Wolfgang Habbel am Ende seines Beitrags.) "Der Film", meinte Alfred Hitchcock einmal, "ist vielleicht die einzige Branche, in der sich mancher als Meister fühlt, bevor seine Lehrzeit überhaupt begonnen hat." Mit der westlichen Heilerszene war er offensichtlich nicht vertraut. (66) Derart "ausgebildet", bemühen sich immer mehr Absolventen gleich anschließend darum, auf der Geistheilerei eine neue berufliche Existenz aufbauen; das erfordert feste Honorarsätze - deren mitterweile branchenübliche, durch Verbands”richtlinien” abgesegnete Höhe schon manchen niedergelassenen Arzt oder Psychotherapeuten vor Neid erblassen lässt - und eine Eigenvermarktung, die hinlänglich viele Kunden lockt. Und so schaltet der neue Heilertypus vielversprechende Inserate, lässt imposante Visitenkarten, Flyer und Imagebroschüren drucken, präsentiert sich auf Esoterikmessen und im Internet, biedert sich Journalisten an. Und er legt Wert auf Vermittlungsdienste, werbeträchtige Titel und Diplome. Die sind mittlerweile leicht zu ergattern, zumindest für Zahlungswillige: Die meisten Heilerschulen bieten ihren Absolventen solchen Service, ebenso wie die Info-Dienste und Prüfungskommissionen etlicher Heilervereine (67) ihren zahlenden Mitgliedern - eine Hand wäscht die andere. In Ermangelung wissenschaftlich abgesicherter Testmethoden, ob einer wirklich heilen kann (68), erwächst daraus die Gefahr eines monströsen, flächendeckenden Etikettenschwindels, den ein paar Insider durchschauen mögen, aber wohl kaum der typische Hilfesuchende, und auch nicht jeder kooperationswillige Pfarrer. Das Risiko, an unerfahrene, mäßig begabte, sich selbst überschätzende Möchtegerns zu geraten, war für Menschen, die sich auf Geistiges Heilen einlassen möchten, noch nie größer als heute - die Chance, Könner anzutreffen, entsprechend gering. Inzwischen überwiegen aufrichtig bemühte Dilettanten, die ein warmherzig pulsierendes Beinahenichts mit spiritualistischen Girlanden umkränzen. Ausgesprochen tragisch ist diese Fehlentwicklung nicht nur für den Kranken, der Hilfe sucht, sondern letztlich auch für das Geistige Heilen als Therapieform: Einerseits fanden Anwender noch nie eine liberalere Rechtslage vor69; noch nie zeigten sich mehr Ärzte bereit, Heiler in ihre Praxen und Kliniken einzubeziehen, und sich ihre Vorgehensweisen zu eigen zu machen (70); noch nie richteten mehr Wissenschaftler Forschungsprojekte darauf (71); noch nie waren Massenmedien eher bereit, dafür Druckseiten und Sendeplätze freizuräumen. Dass ausgerechnet jetzt das unzweifelhafte Potential Geistigen Heilens von einer unheiligen Allianz aus esoterischen Nebelwerfern und geschäftstüchtigen Cleverles, Wichtigtuern und Wirrköpfen, Anfängern und Beihelfern verschüttet wird, ist traurig - und für Hilfesuchende fatal. Einer Geistheilung bedarf seit längerem zuallererst die Heilerszene selbst. Was also tun? Auch in noch so schwerer Krankheit dürfen Patienten nicht aufhören, mündige Bürger zu sein. Informationen, die nirgendwo bequem vorsortiert abzuholen sind, müssen sie wohl oder übel selbst zusammentragen und bewerten, im Vertrauen auf die eigene Kritikfähigkeit und Menschenkenntnis. Gleiches gilt für Kirchenvertreter auf der Suche nach Heilern, deren Befähigung und Gesinnung, Motivation und Charakter über Zweifel erhaben sind. (In dieselbe Klemme geraten aufgeschlossene Ärzte, wenn sie in der Heilerszene nach vertrauenswürdigen Mitarbeitern Ausschau halten.) (72) Im Laufe von rund fünfzehn Jahren, in denen ich beobachtend und forschend die sogenannte "spirituelle" Gesundheitsszene des deutschsprachigen Raums durchstreift habe, lernte ich weit über tausend Heiler kennen. Wieviele könnte ich guten Gewissens an kirchliche Einrichtungen weiterempfehlen? Nicht einmal jeden Hundertsten. Dieser Text entspricht der Einführung zu Harald Wiesendanger: Wie Jesus heilen. Geistiges Heilen: ein Akt christlicher Nächstenliebe (2004, 4. überarb. u. aktual. Aufl. 2008): „Geistiges Heilen und Kirche: Plädoyer für eine Annäherung, die beiden nützt“, S. 9-30. Anmerkungen 1 Siehe in meinem Buch Geistiges Heilen für eine neue Zeit - Vom "Wunderheilen" zur ganzheitlichen Medizin, Kösel: München 1999, den Beitrag "Jesus hinter Gitter? Wenn der Gottessohn zwei Jahrtausende später gelebt hätte - Protokoll einer fiktiven Gerichtsverhandlung", S. 340-347. 2 Jesus´ bevorzugte geistige Heilweisen - Handauflegen, Gebetsheilen und Exorzismus - stelle ich vor in Das Große Buch vom Geistigen Heilen - Möglichkeiten, Grenzen, Gefahren, Lea Verlag: 4. Aufl. 2003, S. 23 ff., 84 ff., 147 ff. 3 Nach einer Repräsentativumfrage des EMNID-Instituts im Frühjahr 1999 unter 2000 Erwachsenen; siehe Der Spiegel 21/1999, S. 222. 4 Als wohlbedachte Tricksereien sind die Heilwunder Jesu und seiner Jünger z.B. von Karl Friedrich Bahrdt (1741-1792) zurechtgedeutet worden, dem enfant terrible der deutschen Aufklärungstheologie: »Um etwas auszurichten, müssen sie (Jesus und seine Jünger) sich dem Aberglauben des Volkes akkommodieren und ihre Weisheit unter dem Mantel der Torheit an die Leute bringen, ob die Menge, durch den Schein getäuscht, sich der Vernunftoffenbarung öffnen möchte und nach einiger Zeit imstande wäre, sich vom Aberglauben zu emanzipieren. Jesus sieht sich also genötigt, in der Rolle des erwarteten Volksmessias aufzutreten und sich zu entschließen, mit Wundern und Täuschungen zu operieren." Zit. nach Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1906), 6. Aufl. Tübingen 1951, S. 40 f. 5 Paulus etwa spricht in Röm. 15,19 und 2. Kor. 12,12 unmissverständlich von den "Zeichen und Wundern", die er wirkte, und nennt sie recht grundsätzlich "Zeichen des Apostels" (2. Kor. 12, 12) 6 "Charisma", im modernen Sprachgebrauch schlicht "außergewöhnliche Ausstrahlung", bedeutet im theologischen Sinn "Gnadengabe" und meint eine gottgegebene Fähigkeit. Derartige Begabungen, zu denen auch das Heilen von Kranken zählt, werden im Neuen Testament an mehreren Stellen aufgelistet (1. Kor. 12; 8-10, 28-30; Röm. 12, 7-8; 1. Kor. 13, 1-3; 1. Petr. 4, 10-11. 7 Siehe Süddeutsche Zeitung, 5. April 1989; Mittelbayrische Zeitung, 8. April 1989. 8 Zur "Charismatischen Erneuerung" siehe Das Große Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O., S. 72, 86, 348 9 Tilmann Moser: Gottesvergiftung, Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1976 10 Einen Eindruck davon vermitteln in diesem Buch die Beiträge von Pfr. Daniel Hari, Pfr. Hansruedi Felix, Pfr. Fritz Christian Schneider und Pfr. Esther R. Suter. 11 In "Placebo-Reaktoren" werden Geheilte umgedeutet z.B. von Carl Ludwig Paul Trüb: Heilige und Krankheit, Stuttgart 1978, S. 183. 12 Johann Christoph Blumhardt (1805-1880) sah sich als Pfarrer in Möttlingen bei Calw 1842/43 in furchtbare Kämpfe mit dämonischen Mächten verwickelt, über die er 1844 auf Verlangen seiner kirchlichen Behörde in der »Krankheitsgeschichte der Gottliebin Dittus« ausführlich berichtete. Im Anschluss an die Heilung dieses jungen Mädchens erlebte Blumhardt in seiner Gemeinde eine gewaltige Buß- und Erweckungsbewegung: Weitere wundersame Heilungen folgten, auch sonstige Gebete wurden erhört. Bei staatlichen, aber auch bei kirchlichen Behörden stieß Blumhardt damit auf Unverständnis. Das Ministerium verbot ihm im Januar 1844, »Heilungen in das Gebiet des Seelsorgers hinüberzuziehen, statt auf den Arzt zu weisen«. Das Oberkonsistorium verlangte von ihm, seine Tätigkeit auf Trost und Erbauung zu beschränken und sich jedes Einflusses auf leibliche Genesung zu enthalten. Um sich den Kranken und Angefochtenen ganz und unbehindert widmen zu können, entschloss sich Blumhardt daraufhin, sein Pfarramt aufzugeben. Ab 1852 wirkte er im Schwefelbad Boll als Seelsorger und Hausvater einer großen Gemeinde von Kranken und Leidenden aus aller Welt, die bei ihm Hilfe und Heilung an Leib und Seele suchten.) 13 Zu Blumhardt siehe R. Kaufmann: Das Übersinnliche als Ärgernis, Düsseldorf/ Köln 1970; E. Michaelis, "Der Heilungs- und Dämonenkampf J. Chr. Blumhardts", in W. Bitter (Hrsg.): Magie und Wunder in der Heilkunde, Stuttgart 1959, S. 57-75. 14 Ziemlich singulär in der jüngeren Kirchengeschichte steht eine medizinisch ungeklärte Genesung da, die Papst Johannes XXIII. (1881-1963) zugeschrieben wird: Er soll einmal eine italienische Ordensschwester von einem Magendurchbruch geheilt haben. Mit der Anerkennung dieses “Wunders” Anfang 2000 war die letzte Hürde für die Seligsprechung von Johannes XXIII. genommen. (Nach Süddeutsche Zeitung, 28.1.2000; Nr. 22: “Vatikan erkennt Wunder von Johannes XXIII. an”) Papst Johannes Paul II. soll 1982 eine Frau von Besessenheit kuriert haben, indem er einen Tag lang für sie betete und eine Messe für sie las. (Nach SZ Magazin Nr. 13, 1.4.1999, S. 17. 15 Siehe Der Spiegel vom 4. Juni 2001 (“Der Exorzist. Wie Papst Pius Hitler den Teufel austreiben wollte”), einen Bericht in der Turiner Tageszeitung La Stampa aufgreifend; vgl. Rheinische Post vom 4.6.2001, Hamburger Abendblatt vom 16.9.2004 16 Siehe Hamburger Abendblatt vom 16. September 2004. 17 Unter Jesusforschern herrscht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass Jesus durch eine vergleichsweise winzige Teilregion Galiläas zog, ein geographisches Dreieck am See Genezareth, markiert durch die Orte Kapernaum, Bethsaida und Chorazim. Siehe Cay Rademacher, “Wer war Jesus?”, Geo 1/2004, S. 134-162, ib. 151 18 Vorgerechnet von einem Redakteur der Süddeutschen Zeitung, Nr. 241, 16.10.2004, S. 1 19 Apostolisches Schreiben Ministeria quaedam, 15. August 1972 20 Dagegen wird angehenden Priestern in den Traditionalistengemeinschaften, z.B. der Bruderschaft St. Pius X. des 1991 verstorbenen Erzbischofs Marcel Lefebvre, nach wie vor mit den Niederen Weihen auch jene zum Exorzisten gespendet. Die Ostkirche lässt auch “charismatisch begabte” Laien exorzieren; siehe Adolf Rodewijk: Dämonische Besessenheit. Tatsachen und Deutungen, Augsburg 1988, S. 12. 21 Den Exorzismus als Variante Geistigen Heilens diskutiere ich in Das Große Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O., S. 147-163. Auf heftige Kritik stieß in Deutschland insbesondere der Fall der Anneliese Michel, einer Studentin aus der hessischen Kleinstadt Klingenberg: Vom September 1968 an, damals sechzehnjährig, entwickelte sie dramatische Symptome einer “Besessenheit”, an denen sie 1976 starb; zwei katholische Priester, die Annelieses vermeintlichen Dämonen in bischöflichem Auftrag beizukommen versucht hatten, wurden 1978 zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt - wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung. Siehe Das Große Buch vom Geistigen Heilen. a.a.O., S. 147, Abschnitt “Der Leidensweg der Anneliese Michel”) 22 siehe die Statistiken bei http://mitglied.lycos.de/spyraMD/aktuellkanon.html (Stand: 18.10.2004) und die dort zitierten Quellen. Allein ins Pontifikat von Johannes Paul II. fielen 478 Heilig- und 1346 Seligsprechungen: einsamer Rekord in der Kirchenhistorie. 23 Stichwort “Kirche” in Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 13, Mannheim/ Wien/Zürich 1975, korr. Nachdruck 1980, S. 697 24 “Woher bezieht die Kirche ihre Autorität, wenn Jesus sie nicht gründen wollte, ja, ihm allein der Gedanke an eine Kirche fremd sein musste?”, so fragte der streitbare Verleger Rudolf Augstein in seinem Pamphlet Jesus Menschensohn von 1972 (erweiterte und überarbeitete Neuausgabe Hamburg 1999); siehe R. Augstein, “Ein Mensch namens Jesus”, Der Spiegel 21/1999, S. 216-231, dort S. 229. Auch habe Jesus “weder selbst Sünden vergeben, noch hat er eine Vollmacht erteilt, dies zu tun. Paulus jedenfalls weiß von dieser mächtigsten Waffe der jungen christlichen Kirche noch nichts. Und Jesus hat seinen Jüngern auch nicht das Kommen und den Beistand des Heiligen Geistes versprochen. Er wusste von ihm nichts und auch nicht, dass er selbst und dieser Geist zu Bestandteilen einer Dreiergottheit erklärt würden”, ebda. S. 227. 25 Die Vielfalt der Wege, Geistheiler zu werden, zeichne ich nach in Geistheiler - Der Ratgeber. Was Hilfesuchende wissen sollten: Ehrliche Antworten auf 51 spannende Fragen, Lea Verlag: Schönbrunn, 3. Aufl. 2004, Kap. 34: "Wem die Götter Flügel schenken - Inwieweit ist Geistiges Heilen erlernbar?" sowie in Fernheilen, Band 3: Was Patienten bewegt: Antworten, Tipps und Warnungen, Lea Verlag: Schönbrunn 2004, Kap. "In den Fußstapfen der Könner - Ist Fernheilen erlernbar?", S. 125 ff. 26 Siehe die Beiträge von Pfr. Roman Grüter, Pfr. Daniel Hari, Pfr. Esther Suter. 27 Siebzehn solcher Ärzte outen sich in meiner Anthologie Geistiges Heilen in der ärztlichen Praxis, Lea Verlag: Schönbrunn, 4. erw. Aufl. 2004 28 Die Anerkennungskriterien, die der Vatikan z.B. an "Heil"wunder in Wallfahrtsorten wie Lourdes anlegt, kritisiere ich in Geistheiler - Der Ratgeber, a.a.O., Kap. 1 ("Die Statistik des Wunders"). 29 Siehe Geistheiler - Der Ratgeber, a.a.O., Kap. 1 30 Siehe H. Wiesendanger: Fernheilen, Band 2: Fallbeispiele, Forschungen, Einwände, Erklärungen, Lea Verlag: Schönbrunn 2004 31 Siehe Geistheiler - Der Ratgeber, Kap 7: "Die Bedingungen - Wovon Erfolge abhängen" sowie Kap. 13: "Inwieweit Glaube wichtig ist". 32 Johann Baptist Merz, “Kein Leid, das uns nicht angeht”, Süddeutsche Zeitung Nr. 225, 28.9.2004, S. 17 33 G. Theißen/A, Merz: Der historische Jesus - Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, S. 282. 34 Wenn eine kürzlich erschienene Sammlung theologischer Aufsätze an die "Energetische Medizin" bereits im Buchtitel die Frage stellt: "Gibt es heute nur physikalische Wirkprinzipien?" (P. Heusser (Hg.): ‚Energetische Medizin': gibt es heute nur physikalische Wirkprinzipien?, Bern 1998), so lautet die nüchterne, naheliegende Antwort: Ja, nicht erst heute, immer schon; es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir sie vollumfänglich begreifen - wozu wir vielleicht erst den Begriff des "Physikalischen" von seiner materialistisch-mechanistischen Erblast befreien, aber auch herkömmliche "Energie"-Konzepte hinter uns lassen müssen. "Wunder", so schwante schon Kirchenvater Augustinus, "geschehen nicht in Widerspruch zur Natur, sondern nur im Widerspruch zu dem, was wir von der Natur wissen". Das ist kein Szientismus, sondern die Konsequenz aus dem gescheiterten philosophischen Projekt, dem Begriff des "Nichtphysischen" Sinn zu geben. Siehe H. Wiesendanger: Mit Leib und Seele - Ursprung, Entwicklung und Auflösung eines philosophischen Problems, Bern/Frankfurt 1987. 35 Die "Angst vor der Esoterik" zählt David Jordahl zu den "zehn Ängsten der Kirche", siehe sein Buch Die zehn Ängste der Kirche, Stuttgart 1978, S. 107 ff. 36 Siehe Manfred Josuttis ´Beitrag "Esoterik in pastoraltheologischer Sicht" in dieser Anthologie. 37 Siehe Das Große Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O., S. 21 f., und H. Wiesendanger: Geistiges Heilen bei Krebs - Ein unkonventioneller Ausweg, Lea Verlag: Schönbrunn 2004, S. 132; http://www.psi-infos.de, Rubrik "Geistiges Heilen"/Die häufigsten Fragen. 38 Siehe Fernheilen, Band 1: Die Vielfalt der Methoden, Kapitel "Die Selbststrahler", a.a.O. 39 Medard Kehl: New Age oder neuer Bund? Christen im Gespräch mit Wendezeit, Esoterik und Okkultismus, Mainz 1988, S. 13 40 Siehe Das Große Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O., Kap. 1, sowie Fernheilen, a.a.O., Band 1 und 2. 41 Siehe dazu die Beiträge von Gertrud Emde, Dr. med. Wolf-S. Schriewersmann und Pamela Sommer-Dickson sowie Fernheilen, Band 1, Kap. "Die Liebenden". 42 Mit dem Wort "Spiritualität" ist das französische spiritualité eingedeutscht worden; dieses wiederum lässt sich auf das lateinische spiritualitas zurückführen, das erstmals im fünften Jahrhundert nach Christus auftaucht. ("Bemühe dich", so mahnte damals der englische Mönch und Kirchenschriftsteller Pelagius, "dass du in der Spiritualität (spiritualitas) voranschreitest.") Mit spiritualitas wurde "pneumatikós" (geistig) übersetzt, das in der griechischen Fassung des Neuen Testaments auftaucht. Während der Begriff der Spiritualität zunächst konfessionell vereinnahmt wurde, um ein christliches "Leben aus dem Geist" (Karl Rahner) zu kennzeichnen, und vielfach schlicht mit tiefer "Frömmigkeit" gleichgesetzt wurde, steht er neuerdings eher für eine Grundhaltung, in der sich jede Religion auf eigene Weise ausprägen kann. Was Heiler meinen, wenn sie heute von "Spiritualität" sprechen, hat die Herausgeberin des Phoenix Magazins (3/2001), Mar-Isis Ghida Ferreira, recht zutreffend zusammengefasst: "Spiritualität ist nicht mit Esoterik im landläufigen Sinn zu verwechseln und besteht nicht aus bestimmten Handlungen, wie etwa Meditieren oder Kartenlegen. Spiritualität ist eine geistige Haltung, ist das Bewusstsein der Göttlichkeit aller Lebewesen; sie schöpft aus dem Respekt gegenüber dem Platz, der jedem Lebewesen innerhalb des Ganzen zusteht; sie sucht daher eine friedliche Koexistenz aller Wesen, welche dem Einzelnen - ob schwarz oder weiß, ob Mensch, Tier, oder Pflanze - ermöglicht, in Würde und Selbstachtung sein persönliches Potential im Dienst des Ganzen auszudrücken und auszuleben. Schon gar nicht ist Spiritualität alltagsfern oder gar weltfremd. Im Gegenteil: Echte Spiritualität äußert sich in einer konkret gelebten, verwirklichten geistigen Haltung der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Geschöpfe (...)" 43 Hans Gasper u.a. (Hrsg.): Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen. Fakten, Hintergründe, Klärungen, Freiburg/Basel/Wien, 2. Aufl. 1990, S. 1127 44 Siehe Fernheilen, Bd. 2: Fallbeispiele, Forschungen, Erklärungen, Einwände, sowie Das Große Buch vom Geistigen Heilen, ib. Kap. IV. 45 s. Fernheilen, Bd. 2, Kap. 12, S. 282 ff. 46 Mit dieser Form fundamentalistischen Eiferertums konfrontiert werde ich in unerbittlicher Regelmäßigkeit alle zwei Jahre, anlässlich der “Weltkongresse für Geistiges Heilen” im Rahmen der “Basler Psi-Tage”, die ich gemeinsam mit Schweizer Kollegen organisiere (siehe www.psi-tage.ch und www.psi-infos.de, Rubrik “Event”). Wann immer dort der Themenkreis “Geistiges Heilen/Kirche/religiöser Glaube” auf dem Programm steht, fahren gewisse Kirchenkreise reaktionsschnell schwerstes Geschütz auf. Einen Eindruck davon vermittelte z.B. der Kirchenbote, in acht Schweizer Kantonen das ofizielle Organ der Evangelisch-reformierten Kirche, im November 2003 auf seiner Leserbriefseite; mehrere Verfasser verstiegen sich dort unter der redaktionellen, gleichwohl mit der Grammatik auf Kriegsfuß stehenden Überschrift “Psi und Christentum ist unvereinbar” zu dem Vorwurf: Bei unserem Kongress werde aus “dubiosen Quellen heidnischer Götter geschöpft” und Praktiken eine Bühne verschafft, die zweifelsohne eine “von Satan autorisierte Quacksalberei” darstellen. Mehrere Pfarrer und Theologen, die bei unserer Veranstaltung referierten, mussten sich vorhalten lassen, sich “jedem Zeitgeist gleichförmig anzupassen”, womit sie ihren Glauben “zu einer verschmutzten und kraftlosen Quelle” machen. 47 Den Hinweis auf diese Bibelstelle verdanke ich Prof. Walter J. Hollenweger, siehe sein Beitrag in dieser Anthologie. 48 So äußert sich Prof. Manfred Josuttis in seinem Essay über "Esoterik in pastoraltheologischer Sicht". 49 Der österreichische Schriftsteller und Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) schrieb dies einst über das Frankreich der Revolution von 1789. 50 Nach Focus 16/2004, S. 131 51 Nach einer vom Nachrichtenmagazin Focus in Auftrag gegebenen Repräsentativumfrage unter 1002 Bundesbürgern Anfang 2004, zit. in Focus 16/2004. 52 Nach einer Emnid-Umfrage im Sommer 1992, veröffentlicht in Der Spiegel 25/ 1992, S. 36-57 53 Nach Die Zeit Nr. 1/22.12.2003, S. 34 54 Zit. nach Der Spiegel 25/1992, S. 44 55 Zit. nach Focus 16/2004, S. 131 56 s. H. Wiesendanger: Fernheilen, Band 1, Kap. "Das Ausmaß des Elends" 57 Siehe H. Wiesendanger: Geistheiler - Der Ratgeber, a.a.O., Kap. 9: "Wie sich Geist anfühlt", S. 77-82 58 Zit. in H. Wiesendanger (Hg.): Wiedergeburt - Herausforderung für das westliche Denken, Frankfurt/Main 1991, S. 11 59 Rührt der beträchtliche Zulauf, den die "Charismatische Erneuerung" erlebt, nicht vor allem von dem unguten Gefühl eines "schmerzlichen Abstands unserer gegenwärtigen Kirche von der des Neuen Testaments" her, wie es einer ihrer Sprecher, der Geistliche Wolfram Kopfermann, auf den Punkt brachte? (In seinem Aufsatz "Charisma und Kirche", Erneuerung in Kirche und Gesellschaft 9/1981.) "Erwartung und Erfahrung von Krankenheilung durch Gebet", so beklagte er, "sind bei uns günstigenfalls Ausnahme, kaum Bestandteil normalen kirchlichen Lebens. Dabei wird doch das Klima von Gruppen und Gemeinden positiv verändert, wenn Offenheit für Gebetsheilung besteht! (...) Eine vom Neuen Testament ausgehende ‚Theologie der Heilung' entdeckt neue Perspektiven auch für Zweierbeziehungen, Familien, gesellschaftliche Zusammenhänge. Wo wir die urchristliche Geisterfahrung neu unter uns geschehen lassen, entdecken wir auch den ‚heilenden Christus' für unsere Gegenwart." 60 Dem Handauflegen, Gebetsheilen und Besprechen widme ich jeweils ein Kapitel im Großen Buch vom Geistigen Heilen - Möglichkeiten, Grenzen, Gefahren, Lea Verlag: Schönbrunn, 4. Aufl. 2003, siehe S. 23 ff., 84 ff., 189 ff. 61 Siehe Fernheilen, Band 1: Die Vielfalt der Methoden, Kapitel über das Fernheilen durch Gebet. 62 Am Beispiel des "geistigen" Fernbehandelns belege ich den bestürzenden Qualitätsverlust in Fernheilen - Neue Hoffnung für chronisch Kranke, Lea Verlag: Schönbrunn 2004, Band 1: Die Vielfalt der Methoden. 63 Siehe Fernheilen, Band 1, S. 117-139, Kapitel "Die Graduierten - Fern-Reiki nach Mikao Usui", sowie Das Große Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O., S.43-49, Abschnitt "Reiki". 64 Siehe Fernheilen, Band 1, S. 157-163, Kapitel "Die Einminütigen - ‚Spiritual Human Yoga' nach Meister Dang". 65 Siehe Fernheilen, Band 1, S. 217-222, Kapitel "Die Philippi-nos - Bioenergetische Meditation nach Viktor Philippi". 66 Auswüchse und Hintergründe des Ausbildungs- und Diplomierungsbooms in der westlichen Heilerszene beleuchte ich in Geistheiler - Der Ratgeber, a.a.O., Kap. 31 ("Lieber zum ‚geprüften' Heiler?") und Kap. 34 ("Wem die Götter Flügel schenken - Inwieweit ist Geistiges Heilen erlernbar?") 67 Mit dem unrühmlichen Beitrag, den etliche Heilerverbände zum schleichenden Qualitätsverfall Geistigen Heilens und der Irreführung seiner Klientel leisten, ihren Beweggründen und Folgen setze ich mich auseinander in Geistheiler - Der Ratgeber, a.a.O., Kap. 32: "Vereinsmeier auf dem Vormarsch - Sind Verbandsmitglieder die besseren Heiler?", S. 261-268; siehe auch zwei Essays zu diesem Thema auf meinen Internetseiten www.psi-infos.de, Rubrik "Geistiges Heilen", Teil "Tipps und Warnungen". Dass ich dieser Fehlentwicklung selber, in bester Absicht, mit der Gründung einer Dachorganisation für Heilerverbände Vorschub geleistet habe, berührt mich im nachhinein aufs Peinlichste. (Siehe H. Wiesendanger (Hrsg.): Geistiges Heilen für eine neue Zeit - Vom "Wunderheilen" zur ganzheitlichen Medizin, München 1999, S. 381 ff.) 68 Siehe Geistheiler - Der Ratgeber, a.a.O., S. 249 ff. 69 In einem bahnbrechenden Urteil vom 2. März 2004 befreite das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, zum Entsetzen der Interessenvertretungen etablierter Heilberufe, geistig Heilende in Deutschland von dem Zwang, eine Heilpraktikerprüfung beim zuständigen Gesundheitsamt abzulegen. Seither bleiben Geistheiler unbehelligt, wenn sie ihr Tun als religiöses Ritual zur Anregung der Selbstheilungskräfte verstehen, keine Diagnosen stellen und ihre Klienten darauf hinweisen, dass Geistiges Heilen ärztliche Maßnahmen nicht ersetzen kann. (Siehe im Internet www.psi-infos.de, Rubrik "News 1/2004".) Zweifel daran, ob die juristische Knebelung von Heilern mittels des "Heilpraktikergesetzes" (HPG) jemals mit verfassungsmäßig garantierten Grundrechten vereinbar war, hatte ich schon 1994 im Großen Buch vom Geistigen Heilen angemeldet (a.a.O., S. 305-319), ebenso wie 1999 in Geistiges Heilen für eine neue Zeit - Vom "Wunderheilen" zur ganzheitlichen Medizin, a.a.O., S. 309-347. 70 Siehe Geistiges Heilen in der ärztlichen Praxis - Damit die Humanmedizin humaner wird, Schönbrunn: Lea Verlag 2003, 4. erweiterte Aufl. 2004 71 Zum Forschungsstand s. Fernheilen, Band 2: Fallbeispiele, Forschungen, Erklärungen, Einwände, a.a.O., Band 2 sowie Das Große Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O., Kap. “Im (Zerr-)Spiegel der Wissenschaft” 72 Siehe Geistiges Heilen in der ärztlichen Praxis, a.a.O., S. 37-41 (Vorwort)
- Nur eine Frage der Zeit - Geistiges Heilen in der ärztlichen Praxis
Humanmedizin muss humaner werden, energetisch und ganzheitlich, um effektiver zu sein. Geistiges Heilen kann dazu beitragen. Denkanstöße dazu sollen von meiner Anthologie Geistiges Heilen in der ärztlichen Praxis ausgehen. Darin berichten Ärzte verschiedener Fachrichtungen über ihre persönlichen Erfahrungen mit Geistigem Heilen – zur Ermutigung von Standeskollegen, von Krankenkassen, von Gesundheitspolitikern, von Patienten. Wem unklar ist, wozu Geistiges Heilen ins Gesundheitswesen integriert werden muss, der sollte einmal mit Jost Kundert sprechen - denn sprechen kann er inzwischen wieder. Im Jahr 2000 hingegen, als er ins Kantonsspital Glarus eingeliefert wurde, hatte der Bauer aus dem Glarner Land seine Stimme verloren, und laufen konnte er auch nicht mehr. Ein Vierteljahr lang fand kein Arzt die Ursache dafür, keiner wusste dem Mann zu helfen. Doch in der Klinik traf Kundert auf eine Geistheilerin, die dort seit Jahren mithelfen darf. Sie "sah" ihn von einer weißen Wolke umgeben - und er erinnerte sich an einen geplatzten Sack Düngemittel. Zwei Stunden später, nach einer einzigen Sitzung, war der Landwirt vollständig geheilt. Dutzende Fälle dieser Art haben Professor Dr. Kaspar Rhyner, damals Chefarzt der Inneren Abteilung des Kantonsspitals Glarus, nach Jahren distanzierten Beobachtens mittlerweile veranlasst, auf die Zusammenarbeit mit der Heilerin Alena Jöstl zu schwören - auch vor laufender Kamera. Dass sein mutiges öffentliches Bekenntnis zwar schon wiederholt ein gefundenes Fressen für das journalistische Boulevard und TV-Infotainment hergab, bisher aber in keiner ärztlichen Fachzeitschrift nachklang, geschweige denn Gesundheitspolitiker hellhörig werden ließ, ist ebenso bedauerlich wie merkwürdig. Was Geistheiler bisweilen zustande bringen: muss es denn nicht jeden Mediziner faszinieren, dem das Wohlergehen von Patienten wichtiger ist als die Lebensdauer von vorherrschenden universitären Lehrmeinungen? Insofern führt an der Annäherung beider Seiten nichts vorbei. Um sie einzuleiten, brauchen wir Ärzte, die aufgeschlossen zur Kenntnis nehmen, was an wissenschaftlichen Untersuchungen über die Effekte Geistigen Heilens mittlerweile vorliegt (1), auch wenn sie noch in keinem akademischen Lehrbuch stehen, und im Lichte dieser Befunde eigene Vorurteile überdenken. Wir brauchen Ärzte, deren Neugier durch solche Resultate beflügelt wird und sie zu eigenen Nachforschungen anregt. In diesem Geist entstand in Berlin schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg eine "Ärztliche Gesellschaft für parapsychologische Forschung", die Heilmagnetismus, hellsichtige Diagnostik und viele andere medizinisch bedeutsame Psi-Phänomene experimentell zu ergründen versuchte. (Dreieinhalb Jahre widmete sie allein der Untersuchung eines Mediums, das imstande schien, Krankheitszustände auf außersinnlichem Wege zu erkennen. (2) Wo gibt es bei uns heute vergleichbare Initiativen? Ein Lob des Pragmatismus Wo solche Untersuchungen an Grenzen stoßen, dürfen Ärzte allerdings nicht stehenbleiben. Denn Medizin muss keineswegs zwangsläufig dort enden, wo der Boden "harter" Wissenschaft verlassen wird. Dass ärztliche Heilkunst sich auf Tätigkeiten zu beschränken hat, die durch experimentelle Studien nach physikalischem Vorbild abgedeckt sind, und nur dann ihr höchstes Niveau erreicht, wenn sie sich strikt innerhalb eines von Naturwissenschaftlern vorgegebenen Rahmens bewegt, ist ein fatales Vorurteil. Es entsteht, wenn Mittel und Zweck verwechselt werden. Lautet das oberste Ziel der Medizin denn nicht, Leiden vorzubeugen, zu lindern und zu beseitigen? Dazu kann Wissenschaft nur als Instrument dienen. Sobald die Befriedigung ihrer Ansprüche zum wichtigsten Maßstab für ärztliches Tun gerät, wird der individuelle Patient in seiner Notlage sekundär - und zum Mittel für abstrakte Forschungsziele degradiert. Alles zu versuchen und nichts zu versäumen, was einem Kranken helfen könnte: Diese Pflicht allein obliegt Ärzten. Insofern muss ihr Berufsethos pragmatisch sein, in erster Linie an voraussichtlichem Nutzen ausgerichtet. Um diesen Nutzen abzuschätzen, ist wissenschaftliche Forschung ein unentbehrliches Instrument, aber beileibe nicht das einzige. Erfahrung ist ein weiteres, deshalb verdient auch sie Respekt. Schmackhaft und gesund gekocht wird auf der Erde nicht erst, seit es die moderne Ernährungswissenschaft gibt. Nachdem Johannes Kepler um 1620 die günstigsten Maße für Weinfässer berechnet hatte, mußte er feststellen, daß solche Behältnisse längst von Winzern verwendet wurden. Als Sadi Carnot 1824 seine Theorie der Dampfmaschine entwickelte, waren seine Vorschläge zur Konstruktionsverbesserung längst Maschinenbaupraxis. Dass eine pyramidenförmige Anordnung die dichteste Packung von Sphären im dreidimensionalen Raum ist, konnte erst im Herbst 1998 mathematisch bewiesen werden - eine platzsparende Einsicht, die den Orangenstapeln an Obstständen, der Lagerung von Kanonenkugeln in Wehrtürmen freilich immer schon anzusehen war. Haben Mediziner aus solchen Beispielen nicht abzuleiten, dass Intuition und Erfahrungswissen, handwerkliches und künstlerisches Vermögen dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand mitunter weit vorauseilen? Dass eine vermeintlich "unwissenschaftliche" Behandlungsmethode, wie sie Geistheiler einsetzen, segensreich wirken kann, lehrt das in allen Kulturkreisen der Erde seit Jahrtausenden angesammelte heilkundliche Wissen; die oft jahrzehntelangen Erfahrungen der fähigsten Geistheiler; die glaubwürdigen Berichte Abertausender von Patienten; und nicht zuletzt die Beobachtungen vieler Ärzte, die getreu einem Leitspruch des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein verfahren: "Denk nicht, sondern schau!" Erfahrung geringzuschätzen, scheint berechtigt, solange eine Person auf ihren Körper und der Körper auf eine biochemische Maschine reduziert wird. Als solche lässt sie sich erforschen und manipulieren wie jeder andere Mechanismus auch. Doch immer mehr Ärzten schwant, welch verhängnisvollen Irrweg die Wegbereiter der neuzeitlichen Medizin einschlugen, als sie begannen, sich einseitig an ein mechanistisches Menschenbild zu klammern, das eine Transformation von Heilkunde in Humanphysik nahelegte. Medizin war und ist primär keine Naturwissenschaft, ebensowenig wie sich ärztliche Heilkunst in Medizintechnik erschöpft; denn ihr Gegenstand, der Mensch, ist mehr als ein Mechanismus. Er entzieht sich Modellen, Untersuchungen und Eingriffen, wie sie bei Robotern angemessen wären. Wenn bei einem Roboter ein Defekt auftritt, dann deshalb, weil gewisse Teile versagen - und diese können repariert oder ausgewechselt werden. Aber um zu verstehen, warum ein Mensch erkrankt, genügt es nicht herauszufinden, welche Funktionen beeinträchtigt, welche Organe geschädigt sind. Er muss als Ganzes betrachtet und verstanden werden, als einmalige Einheit von Physis und Psyche, in besonderen Lebensumständen, mit einer einmaligen Geschichte. Und nur als Ganzheit ist er auch zu heilen. Ein solcher Ansatz verbindet die meisten natur- und erfahrungsheilkundlichen Therapierichtungen. Und je mehr Ärzte sich für sie öffnen, desto mehr verbreitet sich unter ihnen eine Denkweise, die sie Geistigem Heilen näherbringt. Der Trend in dieser Richtung ist unübersehbar: Strenge "Schulmediziner" befinden sich in Wahrheit innerhalb der deutschen Ärzteschaft bereits in der Minderheit. (3) 95 Prozent aller niedergelassenen Allgemeinärzte wenden bereits sogenannte "alternative" Verfahren an: im Durchschnitt vier. Das Spektrum reicht von Homöopathie über Neuraltherapie und Akupunktur bis zu anthroposophischen Heilmethoden. Drei von vier Ärzten arbeiten mit solchen Verfahren bereits seit mindestens zwei Jahren, knapp die Hälfte sogar schon seit über fünf Jahren. Nur 41 Prozent bezeichnen sich selbst noch als reine "Schulmediziner". 48 Prozent sehen sich eher als "Schulmediziner mit alternativer Tendenz", acht Prozent sogar als ausgesprochene "alternative Mediziner". Mehr als die Hälfte erachtet Kritik an der Schulmedizin für notwendig, weitere 43 Prozent halten sie zumindest im Einzelfall für angebracht. Drei von vier Ärzten bemängeln, ihre Ausbildung sei einseitig naturwissenschaftlich ausgerichtet gewesen. 83 Prozent meinen, bei der Fortbildung durch die Ärztekammern kämen alternative Behandlungsmethoden zu kurz. (4) Mehr Humanität in der Humanmedizin Die Motive für diese bemerkenswerte Entwicklung liegen einerseits in einem pragmatischen Abschied von szientistischen Dogmen, im Interesse der Patienten, andererseits in einer wachsenden Unzufriedenheit der Ärzte mit ihrer eigenen Berufsrolle. Diese Unzufriedenheit hat vor allem zwei Ursachen: die Übergewichtung des Medikaments - und die zunehmende Industrialisierung ärztlicher Tätigkeit. Beides ist Geistigem Heilen fremd, wie überhaupt allen Ansätzen ganzheitlicher Medizin. Die pharmazeutische Revolution ist dabei, aus Heilkundigen zunehmend Aussteller von Arzneimittelgutscheinen zu machen. Mit ihren dreieinhalb Millionen Rezepten pro Werktag bewegen Deutschlands 300’000 praktizierende Ärzte einen jährlichen Medikamentenberg in private Hausapotheken, dessen Wert dem Jahresumsatz der Deutschen Bundesbahn entspricht. Über 21 Milliarden Euro werden pro Jahr für Tabletten, Pillen, Zäpfchen, Tinkturen und Salben in der Bundesrepublik allein zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgegeben. (5) Damit die Verschreibungswut nicht erlahmt, hat die Pillenbranche ein klebriges Netz von Vergünstigungen für Wohlverhalten und Markentreue ausgeworfen - und ein flächendeckendes Heer von über 15.000 Pharmareferenten rekrutiert, deren Tüchtigste Ministergehälter dafür einstreichen, vor den Sprechzimmern beharrlich Schlange zu stehen. (6) Zwar zog nicht nur die Industrie, sondern auch die Ärzteschaft daraus immensen Profit; denn "nicht zuletzt das Medikament hat es ermöglicht", wie der Medizinsoziologe Professor Christian von Ferber feststellt, "in die Arbeitsstunde eines Arztes eine früher unvorstellbare Anzahl von Patienten einzubringen." (7) Doch auf der Strecke blieb dabei, was den Arzt vom Pharmatechniker unterscheidet und für Patienten unentbehrlich macht: die zeitaufwendige, liebevolle Wegbegleitung eines Notleidenden, aus der das notwendige Vertrauen erwächst - die Humanität in der Humanmedizin. Nicht minder frustriert immer mehr Ärzte, dass sich die moderne Medizin in diesem Jahrhundert zunehmend von der Heilkunst zur Industrie entwickelt hat, die mit immer höherem Technikeinsatz und Materialverbrauch das Produkt "Symptomfreiheit" zu erzeugen versucht - und dabei immer häufiger an ihre Grenzen stößt. Ein modernes Krankenhaus ähnelt heute eher einer Fabrikanlage, die sich von Großbetrieben der Gebrauchsgüterindustrie nur noch im Erzeugnis, nicht aber grundsätzlich in der Arbeitsorganisation unterscheidet. In dieser Produktionsmaschine wird der Arzt zum kleinen, fremdgetriebenen Rädchen mit begrenzter Funktion; häufiger ist er mit der Kontrolle technischer Abläufe befasst als mit den Menschen, an denen sie sich vollziehen. Flieht er davor in eine eigene Kassenpraxis, so muss er nicht mehr nur seine Sprechstundenhilfen, sondern vor allem seine Maschinen ernähren. Der Zwang, immer teurere Geräte zu amortisieren, um nicht zuviel Kundschaft an den niedergelassenen Kollegen von nebenan zu verlieren, wird zum nervenaufreibenden Kostenjoch - und handlungsleitend für Diagnostik und Therapie. Solche Verhältnisse begünstigen einen Typ von Arzt, der die Befindlichkeit seiner Patienten aus der Quersumme von Vitaldaten, Laborwerten und digitalen Indizes abliest - und alles durch das Raster fallen lässt, was sich nicht als messbare, in Zahlen darstellbare Abweichung von der Datennorm festzumachen ist. Nichts verstört einen solchen Arzttypus mehr als der Aspekt eines Leidens, den er nur im Gesicht seines Patienten erkennt, nicht aber auf dem Computermonitor wiederfindet. Auf der Strecke bleibt dabei ausgerechnet jene Tätigkeit, die sich als einzige nicht industrialisieren und an Automaten delegieren lässt: das geduldige, einfühlsame, anteilnehmende Gespräch mit dem Kranken. Mit der Stoppuhr stellte der Hamburger Mediziner Dr. Stephan Ahrens in drei Praxen von Kollegen fest, dass die "vom chronisch kranken Patienten dominierte Gesprächsphase durchschnittlich 0,11 Minuten" betrug - sieben Sekunden. (8) Nur 28 Prozent der Ärzte gehen auf die Anliegen, die ihre Patienten zu schildern versuchen, überhaupt ein - und unterbrechen nach durchschnittlich 23 Sekunden. (9) Doch nicht alles, was zählt, lässt sich zählen. Immer mehr Ärzte sträuben sich gegen diese Selbstentfremdung, organisieren ihre Praxen neu, nehmen dafür auch Einkommenseinbußen in Kauf - und rücken den Kranken wieder in den Mittelpunkt des Geschehens. Wer den Mut dazu aufbringt, riskiert zwar, an erheblich weniger Patienten zu verdienen; dafür wächst aber seine Berufszufriedenheit, und seine Klientel erweist sich im allgemeinen als weitaus praxistreuer, kooperativer und leichter behandelbar. Dieser Trend macht Hoffnung. Sobald ein Arzt seine Berufsauffassung - und entsprechend auch sein Praxisangebot - zu ganzheitlichen Ansätzen hin erweitert, findet er eine Fülle von Berührungspunkten mit der Arbeitsweise Geistiger Heiler; er entdeckt verwandte Ziele und komplementäre Vorgehensweisen; und er anerkennt, in welchen Hinsichten sich viele Geistheiler vorbildlich verhalten: in der Geduld, der Einfühlsamkeit, der liebevollen Anteilnahme, auch der Weisheit, in der ein Großteil von ihnen auf Hilfesuchende eingeht, auf ihr Schicksal, ihre Sorgen, ihre Lebensumstände. Viele Patienten fühlen sich von ihren Heilern als Einheit von Körper, Geist und Seele behandelt. Mit einem Wort: mitmenschlich. Mag sein, dass darauf ein erheblicher Prozentsatz der Erfolge beruht, die Geistiges Heilen erzielt. Aber selbst wenn es ausschließlich auf diesem psychologischen Wege helfen würde - könnte es damit die ärztliche Praxis nicht bereichern? Liebe als ärztliche Grundhaltung predigt nicht nur, sondern praktiziert der amerikanische Arzt Dr. Norman Shealy, ein früherer Neurochirurg, in seinem Zentrum zur Schmerzrehabilitation in La Crosse, Wisconsin, schon seit den siebziger Jahren - in Zusammenarbeit mit Geistheilern. Sein Durchschnittspatient, so weist eine Vierjahresstatistik aus, hat vier Operationen hinter sich, ist seit über sechs Jahren Invalide, hat für seine medizinische Betreuung bisher zwischen 50’000 und 70’000 Dollar aufgewendet, nimmt bis zu vierzehn verschiedene Medikamente gleichzeitig ein. Shealy setzt autogene Visualisierungen, gelenkte Imaginationen, Biofeedback-Techniken und Meditationsübungen ein - doch hinter all seinen Hilfsangeboten steht "etwas, das ich als 'Liebesenergie' bezeichne. Dabei beschäftigen wir uns auch mit dem Ehepartner, den Kindern und allen anderen Personen der häuslichen Umgebung, um den Lebensentwurf zu ersetzen, der die Krankheit in erster Linie ausgelöst hat." Achtzig Prozent seiner Patienten verlassen die Klinik nach durchschnittlich zwölf Tagen erheblich gebessert. (10) "Liebesenergie", so verstanden, kann ein Arzt sicherlich auch ohne den Beistand eines Geistheilers in seine Praxis einfließen lassen, sofern er sich Zeit dafür nimmt. Aber der Einsatz von "Energie" ist vielleicht mehr als bloß eine Metapher - sie könnte eine noch unerforschte physikalische Realität bezeichnen. Geistheilern gelingt es möglicherweise, zu ihr vorzudringen - und eine heilsame Kraft zu entfesseln, die dort ihre Quelle hat. Die Offenheit gegenüber Geistigem Heilen wächst Freilich ist es vom natur- und erfahrungsheilkundlich arbeitenden, von holistischen Idealen beseelten Arzt bis zum überzeugten Befürworter von Handauflegen und Gesundbeten, Besprechen oder Fernbehandeln immer noch ein großer Schritt. Doch immerhin beginnt die Einheitsfront von Kritikern, die Geistiges Heilen als okkulten Humbug abtun, innerhalb der Ärzteschaft mehr und mehr zu bröckeln. Auch Vorurteile haben sprichwörtlich kurze Beine. Dass Ärzte nichts vom Geistheilen halten, ist eines, das schon beinahe auf den Hinterbacken daherkommt - allen Dementis von Ärztekammern zum Trotz. Welch erstaunliche Aufgeschlossenheit vor allem unter niedergelassenen Ärzten um sich greift, belegt die Studie einer Arbeitsgruppe der Abteilung für Theoretische Medizin der Universität Osnabrück. (11) Nicht nur befürworten demnach 73 Prozent aller hausärztlich tätigen Mediziner (Allgemeinmediziner, praktische Ärzte und Ärzte für Innere Medizin) alternative Heilmethoden - immerhin jeder Vierte von ihnen steht Geistigem Heilen "positiv" gegenüber (25,8 Prozent); unter den weiblichen Ärzten sind es sogar 59 Prozent. Fast jeder Zweite (49,2 Prozent) könnte sich "Geistiges Heilen als sinnvolle Therapie bei chronischen Erkrankungen" vorstellen; speziell bei psychischen Erkrankungen halten sogar 77 Prozent der Ärzte Geistiges Heilen für empfehlenswert. Drei von fünf Ärzten hätten sich gewünscht, während ihrer Ausbildung mehr darüber zu erfahren. (12) Gewiss bilden jene Ärzte, die Geistiges Heilen ablehnen, nach wie vor eine deutliche Mehrheit - doch lässt die Osnabrücker Studie ahnen, wie leicht diese Abwehrfront bröckeln kann. Denn die Gründe der Nichtakzeptanz sind dürftig: Jeder dritte befragte Arzt räumt freimütig ein "Informationsdefizit" ein - dem lässt sich abhelfen. Ein weiteres Drittel der negativ eingestellten Ärzte argumentiert mit "Unwissenschaftlichkeit" und dem "Placebo-Effekt" - beidem entziehen neuere Forschungen den Boden. (13) 31 Prozent wittern "Scharlatanerie"; dabei sorgen sie sich um eine Randerscheinung, die statistisch kaum ins Gewicht fällt - und sich in ihren eigenen Berufsreihen nicht minder stellt. (14) Und dass Geistiges Heilen "gefährlich" sei, wie 26 Prozent argwöhnen, bleibt ein Gerücht ohne wissenschaftliche Grundlage. (15) Im anhaltenden Boom, den Geistiges Heilen und seine Anwender erleben, sehen immer mehr Ärzte eher eine Mahnung als eine Bedrohung - unter ihnen der österreichische Medizinhistoriker Professor Dr. Hans Bankl, Leiter eines Pathologischen Instituts in einem Großkrankenhaus: "Die Ärzte werden wachgerüttelt, ihre Bemühungen um den Patienten als lebendes Individuum zu verstärken." Die zunehmende Zahl von Geistheilern deutet er als "ein Zeichen für eine schlechter werdende medizinische Versorgung. Die Ärzte müssen versuchen, es besser zu machen. Das ist schwer, denn worauf es ankommt, ist: anhören, mitfühlen, miteinander reden, persönlich etwas tun, nachfragen, stets bereit sein ... und all die anderen zeitraubenden, aber schließlich ärztlichen Aufgaben." Dazu müssen Schulmediziner durchaus nicht zu esoterisierenden Nebelwerfern konvertieren: “Ich bin durch und durch Schulmediziner”, stellt der Osnabrücker Internist Professor Dr. med. Winfried Hardinghaus klar, Ärztlicher Leiter des Krankenhausverbundes St. Georgsstift. “Aber für manche Heilungen haben wir einfach keine Erklärung. (...) Die oft plötzliche Genesung anscheinend unheilbar kranker Menschen ist noch viel zu wenig erforscht.” Der Schulmedizin würde beileibe “kein Zacken aus der Krone brechen, wenn sie angesichts vieler unerklärlicher Genesungen anerkennen würde, wie wichtig der ganzheitliche Blick auf die Patienten für die Therapie ist”. Aus vermeintlichen Heil“wundern” sei immerhin zu lernen, dass Arzt und Patient auch auf spiritueller Ebene zusammenkommen - “auf der Suche nach dem letzten Geborgensein, nach dem großen Ganzen, nach dem Schöpfer.” (16) Aus diesem Blickwinkel machen sich Ärzte immer häufiger für Geistiges Heilen stark, nachdem sie oft jahrelang kritisch mitverfolgten, wie gut es Patienten tut (17) - so auch die 17 Mitautoren dieses Buchs, die beileibe nicht alleine stehen. "Ich habe eine Reihe erstaunlicher Heilungen erlebt, die schulmedizinisch nicht erklärbar waren", räumt etwa der Allgemeinmediziner Dr. Klaus Döhner aus Midlum, Kreis Cuxhaven, ein. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg dort seine Praxis eröffnete, musste er es schnell als "völlig zwecklos" erkennen, Patienten, die an Handaufleger, Gesundbeter und Fernheiler glaubten, davon abzubringen. "Im Gegenteil. Ich habe mir über deren Behandlungsmethoden berichten lassen, um mir ein eigenes Urteil bilden zu können." Dabei habe er feststellen müssen, dass manche Geistheiler "zum Beispiel Hauterkrankungen, Wund- und Gürtelrosen, selbst von Bakterien und Pilzen verursachten Leiden" in Einzelfällen verblüffend rasch beikamen, nachdem schulmedizinische Maßnahmen versagt hatten. "Nach langjährigen und sehr kritischen Beobachtungen muss ich das zugeben." (18) Ein Jahr lang verfolgte der Schweizer Mediziner Dr. M. B. - er will anonym bleiben - neugierig, was die Geistheilerin Emma Zoller aus Zürich zustande brachte: eine gelernte Krankenschwester, aus einer Familie stammend, die bereits in der siebten Generation geachtete Heiler hervorgebracht hat. "Ihre Behandlung", so fasste der Arzt am Ende des Beobachtungszeitraums zusammen, "waren oft weitaus erfolgreicher als ärztlicherseits. Selbst in Fällen, bei denen die Schulmedizin keine Lösungen wusste, behandelte sie noch mit Erfolg. Ich kann sie meinen Berufskollegen nur wärmstens empfehlen." Einen Antrag Emma Zollers auf Kassenzulassung unterstützte er vorbehaltlos mit einem Gutachten, in dem er "ihrer Arbeit hohe Qualität und Seriosität" zusprach. (19) Als wertvolle Ergänzung beispielsweise in der Krebsnachsorge wird Geistiges Heilen von dem niedergelassenen Allgemeinmediziner Reinald Specker hochgeschätzt. In Steinfurt, Nordrhein-Westfalen, betreibt er eine onkologische Schwerpunktpraxis, in der ständig 30 bis 50 Krebskranke betreut werden. "Von einer ganzen Reihe meiner Patienten", so berichtet der Arzt im Fachblatt Medical Tribune (20), "ist mir bekannt, dass sie sich zusätzlich von einem Geistheiler behandeln lassen. Ich unterstütze sie dabei! Natürlich hinterfrage ich, wieviel Geld verlangt wird, ob es Hinweise auf sektenmäßiges Verhalten gibt und ob ihnen die Behandlung Besserung bringt. Wenn dies alles gegeben ist, habe ich keine Bedenken, sie darin zu unterstützen." Denn Geistiges Heilen passe gut zu einer "aktiven Nachbehandlung", bei der auch andere erfahrungsheilkundliche Verfahren eine größere Rolle spielen müssten, "auch wenn deren Wirksamkeit (noch) nicht nachgewiesen werden konnte. Und selbst wenn - wie mir viele eingefleischte Schulmediziner mit Sicherheit vorwerfen werden - alles nur Placebo-Effekt und Suggestion sein sollte, so freue ich mich mit meinen Patienten, dass diese ‚Placebos' so gut wirken und ich so suggestibel bin. Schade, dass es viele der Kollegen, die dies mir vorwerfen, nicht sind. Aber vielleicht lässt sich ja daran arbeiten." Anmerkungen 1 Daniel Benor, “Geistiges Heilen erforschen - ein Überblick”, in Geistiges Heilen für eine neue Zeit - Vom “Wunderheilen zur ganzheitlichen Medizin, Harald Wiesendanger (Hrsg.), Kösel: München 1999, S. 89-127; ders.: Healing Research, Vol. I-II, Helix: München 1991 ff.; Harald Wiesendanger: Das Große Buch vom Geistigen Heilen - Möglichkeiten, Grenzen, Gefahren, Lea Verlag: 4. Aufl. Schönbrunn 2003, Kap. IV.; ders.: Geistheiler - Der Ratgeber, Lea Verlag: 2. Aufl. Schönbrunn 2000, Kap. 1: “Die Statistik des ‘Wunders’”; ders.: Fernheilen, Band 1. 2 Siehe Fanny Moser: Der Okkultismus, Bd. 2, München 1935, S. 585-606 ("Die ärztlichen Medien"), ib. S. 586 ff. 3 Jüngste Studien hierüber faßt zusammen: Walter Andritzky, "Unkonventionelle Heilweisen in der ärztlichen Praxis", Zeitschrift für Allgemeinmedizin 74/1998, S. 608-614. 4 Gunter Haag u.a., "Unkonventionelle medizinische Verfahren. Verbreitung bei niedergelassenen Ärzten - Ergebnis einer Fragebogenumfrage", Zeitschrift für Allgemeinmedizin 68/1992, S. 1184-1187. Eine neuere Studie des Sozialmediziners Dr. Horst Haltenhof von der Universität Marburg stelle ich vor in H. Wiesendanger, "Jeder zweite Arzt heilt ‚alternativ'", Der Heiler 1/1996, S. 35. In den benachbarten Niederlanden überweisen neun von zehn Allgemeinärzten ihre Patienten an Alternativtherapeuten (G. J. Visser / L. Peters, "Alternative medicine and general practitioners in the Netherlands: towards acceptance and integration", Family Practitioners 7/1990, S. 227-233); ebenso verfahren immerhin schon 59 Prozent ihrer britischen Kollegen (E. Anderson / P. Anderson, "General practitioners and alternative medicine", Journal of the Royal College of General Practitioners 37/1987, S. 52-55.) 5 HP-Heilkunde 11/2002, S. 4: “Pharma-Produzenten: Klagen auf hohem Niveau”, S. 4. 6 Harald Wiesendanger, "Eine Frage der Moral", Der Heiler 3/1997, S. 5. 7 Zit. nach Hans Halter: Vorsicht, Arzt! Krise der modernen Medizin, Reinbek 1981, S. 219. 8 a.a.O., S. 219 (s. Anm. 3) 9 Gesundheit 5/2000, zit. nach Pulsar 5/2000, S. 28: “Ärzte sind schlechte Zuhörer”. 10 Zit. nach George W. Meek: Heiler und der Heil-Prozess, München 1980, S. 264 f. 11 H. Wiesendanger, "Erstaunlich aufgeschlossen: Was Ärzte von geistigem Heilen halten", Der Heiler 3/1997, S. 33. 12 Noch erheblich aufgeschlossener gegenüber Geistigem Heilen äußern sich Ärzte in Großbritannien, wie eine Umfrage unter 594 Allgemeinpraktikern belegt: D. E. King / J. Sobal / J. Haggerty u. a., "Experiences and attitudes about faith healing among family practitioners", Journal of Family Practitioners 35/1994, S. 158-162. 13 Zum Vorwurf der "Unwissenschaftlichkeit" vgl. Harald Wiesendanger: Das Große Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O., S: 259-303 ("Geistheilung im Zerrspiegel der Wissenschaft"). Zur Dürftigkeit des Placebo-Arguments siehe Harald Wiesendanger, "Geistheilung: bloß ein Placebo?", Erfahrungsheilkunde 1/1998, S. 9-12, sowie in ders.: Geistiges Heilen für eine neue Zeit - Vom “Wunderheilen zur ganzheitlichen Medizin, a.a.O.: “Nur ein Placebo? Auseinandersetzung mit einem dürftigen Argument, S. 203-214. 14 Zum Vorwurf der "Scharlatanerie" siehe Harald Wiesendanger, "Von Mücken und Elefanten", Der Heiler 1/1998, S. 5; ders.: Geistheiler - Der Ratgeber, a.a.O., Kap. 41; ders.: Das Große Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O., S. 306-307. 15 H. Wiesendanger: Das Große Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O., S. 384-387. 16 Dr. med. Hans Bankl: Der Pathologe weiß alles ... aber zu spät. Heitere und ernsthafte Geschichten aus der Medizin, Wien 1997, ib. S. 105-107. W. Hardinghaus zit. nach Ärztliche Praxis - das Online-Magazin für Arzt und Patient, 18.12.2002 (“Ärzte, nehmt endlich die Wunder ernst!”) 17 Siehe z.B. die Beiträge von Dr. med. Pierre Bovet, Dr. med. György Irmey und Dr. med. Barbara Schliecker in Geistiges Heilen für eine neue Zeit - Vom “Wunderheilen” zur ganzheitlichen Medizin, hrsg. v. Harald Wiesendanger, Kösel: München 1999. 18 In einem Interview mit der in Bremerhaven erscheinenden Nordsee-Zeitung, 23.1.1992: "Heiler - sind sie Helfer oder Scharlatane?" 19 H. Wiesendanger, "Dickes Lob für Zürcher Heilerin von mehreren Ärzten", Der Heiler 1/1998, S. 9. 20 Medical Tribune Nr. 25 / 20.6.1997; Der Heiler 3/1997: "Krebsmediziner verteidigt Geistheilung". Mit diesem Text beginnt das Vorwort von Harald Wiesendangers Anthologie Geistiges Heilen in der ärztlichen Praxis – Damit die Humanmedizin humaner wird (2003, 5. Aufl. 2005).
- Der „Wiedergeborene“ der ARD: gefallen, begraben und zurückgekehrt?
Hatte die ARD 1992 tatsächlich einen reinkarnierten Panzerkommandanten ausfindig gemacht, der im Zweiten Weltkrieg an der italienischen Front umgekommen war? Nachdem ich die Fernsehredaktion als wissenschaftlicher Berater zu diesem Fall hingeführt hatte, forschte ich ihm weiter nach. Ich befragte den vermeintlich Wiedergeborenen ausgiebig, stellte ihn auf die Probe, besuchte Zeitzeugen seines angeblichen früheren Lebens. Mit jeder weiteren Recherchewoche wuchsen meine Zweifel. Untoter Panzerkommandant? In den Jahren 1991/92 bereitete das Bayerische Fernsehen eine Sendereihe über Psi-Phänomene vor; als wissenschaftlicher Berater versorgte ich es damals mit Themenvorschlägen, Kontakten und Hintergrundinformationen. Für eine Folge über “Wiedergeburt” empfahl ich der Redaktion unter anderem, Deutschlands erstes Hypnose-Fachkrankenhaus aufzusuchen: die Felsenlandklinik im pfälzischen Dahn. Vom damaligen ärztlichen Leiter, Claus H. Bick, wusste ich, dass er Patienten hypnotisch auch zu “früheren Leben“ zurückführte. Daraufhin stattete ein BR-Kamerateam am 9. Februar 1992 der Klinik einen Besuch ab - und filmte ein “Regressionsexperiment” Bicks mit dem damals 29-jährigen Patienten Roland Gerster*. Kurz darauf rief mich der Produktionsleiter Peter Kropf an: In Dahn sei “tatsächlich etwas Sensationelles herauskommen”, so berichtete er mir. Ich staunte. In den Monaten davor hatte ich ihn als eher cool-distanziert gegenüber Psi-Phänomenen erlebt. Was daran “sensationell” schien, konnte ein Jahr später die deutsche Fernsehnation bestaunen: In der ARD-Reihe “PSI”, moderiert von Thomas Hegemann und Gertrud Wirschinger - alias “Penny McLean”, einem untergegangenen Schlagersternchen der siebziger Jahre -, wurde am 2. März 1993 ein mehrminütiger Ausschnitt aus Roland Gersters Rückführung gezeigt. In Hypnose schien sich der Patient an eine Reinkarnation als deutscher Panzerkommandant erinnern, der im Zweiten Weltkrieg umkam. Wie hieß er damals? “M-e-i-s-s-n-e-r”, buchstabiert er langsam. Vorname? “Richard.” Geboren? 1920. Wo? In Hessen. Den dramatischen Höhepunkt der Rückführung gebe ich nun im Wortlaut wieder, ohne Bicks Zwischenfragen und Kommentare: “Vormarsch. Bin im Turm. Kommandant (im Panzer). 24 (Jahre). Fahren, Schnee, durch den Schnee. Wald. Ausgebrannt. Feindpanzer, den soll er abschießen, der Schütze. Er kann´s nicht. Feindpanzer schießt. Explosion. Fall ´raus, ja. Auf den Panzer fall´ ich, auf den Boden. Schmerzen, brennt” (deutet auf den linken Oberschenkel und auf den Bauch). “Splitter, das Bein ist ab. Der GI, groß, korpulent, bullig, Pistole, läuft an mir vorbei und schießt, Genick.” In der “PSI”-Sendung folgte nun ein kurzes Studiointerview mit dem stellvertretenden Leiter der “Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht” (WASt) in Berlin, Herrn Gerhard. Allem Anschein nach bestätigte er Roland Gersters Angaben. Zwar sei er zunächst “einigermaßen verdutzt und überrascht” gewesen und “meinte, man wolle mich auf den Arm nehmen.” Trotzdem notierte er sich die Personalien, die Peter Kropf ihm angab. “Daraufhin habe ich Unterlagen heraussuchen lassen - und zu diesen Angaben einige Akten gefunden.” Der Moderator hakt nach: “Das heißt, es gibt bei Ihnen wirklich einen Herrn Meissner...?” Gerhard bestätigt: “Herr Kropf hatte mir dazu ja noch einige nähere Angaben gegeben, nämlich Geburtsdatum und Geburtsort, und diese stimmen überein.” Moderator: “Also in der Tat, die gibt es bei Ihnen?” Gerhard: “Ja.” Moderator: “Gab es noch weitere Übereinstimmungen?” Erneut stimmt Gerhard zu: “Es gab weitere Übereinstimmungen. Ich habe Herrn Kropf dann noch einmal gesprochen und ihn gefragt, ob er mir bestätigen könnte, dass dieser Herr Meissner irgendwelche Verwundungen aufweisen würde, ohne ihm vorher zu sagen, welche ich in den Akten gefunden habe. Und da bestätigte er mir, er hätte Splitter- bzw. Schußverletzungen an beiden Beinen.” Moderator: “Und das stimmte mit Ihren Akten überein?” Gerhard: “Es stimmte überein. Dieser Richard Meissner, der bei uns verzeichnet ist, war 1941 verwundet worden durch Bombensplitter am linken Oberschenkel und rechten Unterschenkel.” Zehn Tage nach der mitgefilmten Rückführung bestätigte Peter Kropf dem Rückführer Bick schriftlich, das Berliner Zentralarchiv habe ihm “folgende Daten übermittelt: Es gab tatsächlich einen Richard Meissner, der 1921 in Obereisenhausen, Kreis Biedenkopf, in Hessen geboren wurde. Er diente in einer Panzeraufklärungsabteilung der Wehrmacht und wurde ab 29.1.1944 vermisst. Sein letzter Einsatz war bei Belmonte in Italien. Er wurde vermutlich von Amerikanern getötet. Der Soldat wurde bereits 1941 durch Bombensplitter verletzt (linker Ober-, rechter Unterschenkel). Der Vater hieß Heinrich Meissner und lebte damals in Obereisenhausen.” (1) Reinkarnationsbeweis geglückt? Moderator Hegemann fand die anscheinende Bestätigung “verblüffend”. Und TV-Kollegin Penny MacLean beharrte in einer späteren Fernsehdiskussion (2) darauf, es lägen “haargenaue” Übereinstimmungen zwischen “Reinkarniertem” und dem historischen Richard Meissner vor. Genauso sah dies Gersters Rückführer: Als Gast der ARD-Sendung “Fliege” (3) behauptete Claus Bick Ende 1994, Gersters Angaben über die Todesumstände von Meissner seien zweifelsfrei bewiesen; er bezeichnete diesen Fall als bisher einzigartigen Beweis für Reinkarnation: “Es ist übrigens der erste Fall”, so Bick wörtlich, “der in dieser Form dokumentiert so nachzuverfolgen war und so beweisbar war, wie der. Es gibt auch in der Literatur derartige Fälle überhaupt nicht.” Schon in einem 1992, noch vor der “PSI”-Sendung, veröffentlichten Aufsatz hatte Bick, kaum zurückhaltender, dem Fall Gerster “weitgehend belegbare Reinkarnationsphänomene von äußerster Wichtigkeit” attestiert. (4) Seither gilt in der deutschen Esoterikszene der Fall Gerster als “Reinkarnationsbeweis” allererster Güte. Und ebenso selbstsicher tun ihn Skeptiker als unglaubhaft ab - aufgrund vermeintlicher Ungereimtheiten, die in der “PSI”-Sendung stillschweigend übergangen worden seien. Zu den Zweiflern zählt der Lüneburger Studienrat Gerhard Glombik. Argwöhnisch forschte der studierte Theologe, Politikwissenschaftler und Historiker bei der WASt-Dienststelle nach; im Juli 1994 will er vom WASt-Leiter Herrn Gerhard eine schriftliche Erklärung erhalten haben, aufgrund derer er die Identität von Gersters “früherem Selbst” mit dem historischen Richard Meissner “stark bezweifeln” müsse. Sechs Einwände macht er geltend (5): 1. Die Altersangabe ist falsch. Als er im Körper Meissners starb, will Gerster 24 Jahre alt gewesen sein. Richard Meissner jedoch wurde am 12. November 1921 geboren; am 29. Januar 1944, dem Datum seiner Verlustmeldung, war er 22. Mit 24 hätte er schwerlich im Zweiten Weltkrieg umkommen können - der war schon ein Jahr vorher zu Ende. 2. Zwei Ereignisse werden vermengt. An den Beinen verwundet wurde der historische Richard Meissner am 25.11.1941 in Rußland; vermisst gemeldet wurde er am 29.1.1944 bei Belmonte de Castello in Italien. Folglich, so wendet Glombik ein, handle es sich um zwei getrennte Ereignisse an zwei verschiedenen Orten, zwischen denen eine zeitliche Distanz von über zwei Jahren liegt. 3. Umstände und Art von Meissners Tod bleiben in Wahrheit unbestätigt. Den “Reinkarnationserinnerungen” Gersters zufolge wurde Meissner 1944, nach Beschuss durch einen Feindpanzer, von Splittern am Bauch verletzt und sein linkes Bein am Oberschenkel abgetrennt; dann habe ihn ein GI ins Genick geschossen. Gemäß der WASt-Auskunft, die Glombik erhalten haben will, liegen jedoch “über seinen Tod (Genickschuss) keine Erkenntnisse vor. Meissner gilt hier als vermisst”, und ein Aktenvermerk ergänzt: “wahrscheinlich gefangen”. Woher die Version vom Tod durch Genickschuss stamme, sei also offen, schließt der Skeptiker. Fest steht nur, was Meissner drei Jahre zuvor, in Russland nahe Orel widerfahren war: Durch Fliegerbeschuss hatte er leichte Verwundungen am linken Oberschenkel und rechten Unterschenkel. Daraufhin kam er ins Lazarett, von wo er - mit beiden Beinen - nach seiner Genesung 1942 wieder an die Front geschickt wurde. 4. Auch die Angabe des militärischen Rangs stimmt nicht. Laut Gerster war Meissner “Panzerkommandant”. Doch den Akten zufolge stand Meissner 1941 in der 4. Kompanie des Krad-Schützen-Bataillons 40, im Rang eines Schützen; 1944 war er Obergefreiter bei der Panzeraufklärungsabteilung 103. “Nach den hier vorliegenden Unterlagen”, soll Herr Gerhard nachträglich dem Anfrager Glombik erklärt haben, “ist es nicht beweisbar und mehr als unwahrscheinlich, dass Meissner als Obergefreiter Panzerkommandant war”. 5. Die Zuordnung von Gersters “früherem Selbst” zum echten Meissner ist alles andere als eindeutig. In Wahrheit lagen der WASt seinerzeit “Karteimittel usw. über 117 Namensträger vor”, wie Herr Gerhard später gegenüber Glombik klargestellt haben soll. “Diese wurden aufgrund der Angaben des Bayerischen Rundfunks überprüft. Die weitestgehenden Übereinstimmungen ergaben sich zu dem Genannten.” Heißt dies nicht, dass aus 117 Kandidaten derjenige herausgesucht wurde, auf den Gersters Angaben am ehesten passten – weit entfernt von einem Volltreffer? 6. Amerikanischen Soldaten dürfte Richard Meissner gar nicht begegnet sein - somit auch nicht seinem vermeintlichen Mörder. Zum Zeitpunkt seiner Vermisstmeldung am 29. Januar 1944 hielt sich Meissner rund zwei Kilometer südlich von Belmonte auf, wo er in die erste von vier schweren Schlachten um den Klosterberg Monte Cassino verwickelt war. Doch “die einzige amerikanische Einheit, die auf eine Entfernung von ca. 3 km Luftlinie an die Aufklärungsabteilung 103 herangekommen sein könnte, nämlich das 142. Infanterieregiment, startete erst am 30.1.1944 seinen Vorstoß”, will Glombik herausgefunden haben. (6) In jener Gegend, in der sich die deutsche Aufklärungsabteilung 103 aufhielt, seien ihre Gegner vielmehr “französische Einheiten, nämlich Tunesier und Algerier der 3. algerischen Division des Französischen Expeditionskorps” gewesen. An diese gewichtigen Einwände hätte sich eine eingehende Aufarbeitung des Falls anschließen können - und müssen. Stattdessen war die Diskussion kläglicherweise schon wieder beendet, augenscheinlich zur Zufriedenheit aller Beteiligten, und eben dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die unsäglichen Grabenkämpfe zwischen Esoterikbeseelten und chronischen Zweiflern im allgemeinen: Ambitionen, die wenigstens entfernt an Forscherdrang erinnern, entwickeln beide in der Regel nur so lange, bis sie ihre Lieblingstheorie “bestätigt” finden. Als Glombik die Fernsehverantwortlichen mit seinen Argumenten konfrontierte, erhielt er von der PSI-Redaktion überhaupt keine Antwort, von der ‘Fliege’-Redaktion bloß ein nichtssagendes Standardschreiben, das ihm für sein Interesse an der Sendung dankte. (7) Andererseits hatte auch der Skeptiker selbst zu gründlicher Recherche keine Lust: “Zu keinem Zeitpunkt”, räumte er mir gegenüber ein, “habe ich Herrn Gerster oder Herrn Bick gekannt. Weder vor noch nach der Fernsehsendung habe ich irgendwelchen Kontakt“ zu den beiden „gehabt. Ich habe auch keine Anfragen an sie gerichtet.” Wieso eigentlich nicht? Im Fernsehen war schließlich bloß ein kümmerlicher Ausschnitt aus einer “Rückführung” mitzuerleben gewesen, die vorher begann und später endete. Könnten in Gerster dabei nicht noch weitere, aufschlussreiche Erinnerungsbilder aufgestiegen sein, die zu überprüfen wären - und seine Glaubwürdigkeit entweder erhöhen oder erschüttern? Hatten Gersters Rückführungserlebnisse womöglich eine Vorgeschichte, die weitere Aufschlüsse geben könnte - spontane Erinnerungen beispielsweise? Und wieso eigentlich gaben sich Überzeugte ebenso wie Skeptiker mit der WASt als einziger Informationsquelle zufrieden? Warum machte sich keiner die Mühe, nach Hinterbliebenen Richard Meissners, nach ehemaligen Freunden, Schul- und Kriegskameraden zu suchen, die bestimmt noch weitaus mehr über Gersters angebliches “früheres Selbst” wussten als die Berliner Archivare? Als ich Gerster persönlich kennenlernte, bot er mir reichlich Gelegenheiten, der Sache endlich auf den Grund zu gehen. Mehrfach suchte ich ihn zu Interviews auf, beschaffte mir historische Fachliteratur, richtete eine erneute Anfrage an die WASt, fahndete nach Angehörigen Richard Meissners und besuchte auch sie. Ein ums andere Mal erlebte ich dabei Überraschungen, die Esoteriker wie Skeptiker veranlassen sollten, den Fall zu überdenken. Tatsächlich widerlegt? Doch zunächst zu den skeptischen “Widerlegungen”: Wie schlüssig sind sie wirklich? Von Erinnerungen an frühere Leben, falls es sie gibt, sollte keine größere Präzision verlangt werden als von Erinnerungen, die sich auf das gegenwärtige Leben beziehen. Haben die meisten von uns denn nicht schon Mühe, selbst einschneidende Ereignisse zeitlich einzuordnen: zum Beispiel spontan das Datum anzugeben, an dem unsere erste Liebe endete; an dem wir unsere erste eigene Wohnung bezogen; an dem wir unsere erste Stelle antraten; an dem wir in einen Unfall verwickelt waren usw. Auch hier plagen uns zunächst oft Unsicherheiten, die wir ausräumen, indem wir die fraglichen Ereignisse in ein Raster weiterer Geschehnisse einzuordnen versuchen, deren Zeitpunkt und Abfolge wir uns schon gewiss sind, oder indem wir Zeugen befragen. Bezogen auf Vorinkarnationen fällt beides schwer. Sich in der Altersangabe um zwei Jahre vertan zu haben, kann Roland Gerster schwerlich angelastet werden. Zwei örtlich und zeitlich getrennte Vorkommnisse miteinander zu verschmelzen, gehört ebenfalls zu jenen Gedächtnisfehlern, die uns bisweilen unterlaufen, wenn wir uns auf unsere Biographie besinnen. Gäste, die wir in der Erinnerung bei unserem letztjährigen Geburtstag sehen, waren in Wahrheit vorletztes Jahr da; Ferienepisoden verschieben wir von einem Urlaubsort zum anderen; wir verwechseln Anlässe von Bekanntschaften usw. Von daher wäre es eher verwunderlich, wenn Reinkarnationserinnerungen frei davon wären, Ereignisse durcheinanderzubringen. Doch zumindest Gersters Erinnerungen an seine Kriegsverletzungen ist dieser Fehler nicht nachzuweisen: Denn in seiner Rückführung schilderte er eben nicht die Wunden am linken Ober- und rechtem Unterschenkel, die er sich 1941 in Rußland zuzog. Er sprach von Splitterverletzungen am Bauch und einem abgetrennten Bein. Damit könnte er recht haben - denn bisher weiß niemand, wie Richard Meissner starb, und bis heute wurde nicht einmal seine Leiche gefunden. Bestätigt sind seine behaupteten Todesumstände bisher nicht, widerlegt aber ebensowenig. Standen im Berliner Zentralarchiv wirklich zunächst 117 Kandidaten zur Auswahl, aus denen derjenige herausgefiltert wurde, auf den Gersters spärliche Angaben am ehesten passten? Dann könnten die wenigen Übereinstimmungen zufällig zustande gekommen sein, in der Tat. Vorsichtshalber fragte ich deswegen sowohl bei WASt in Berlin als auch bei Herrn Glombik nach - und beide hatten für mich Überraschungen parat. Dreimal ersuchte ich den Skeptiker ebenso höflich wie vergeblich, mir eine Kopie der Gerhard-Auskunft zuzusenden; zunächst speiste Glombik mich mit einer sinngemäßen Zusammenfassung ab, danach brach er den Briefkontakt ab, wenngleich ich ihn um Verständnis dafür gebeten hatte, dass ich wegen der Widersprüche in den WASt-Auskünften an ihn und das Bayerische Fernsehen seine “Quelle direkt begutachten und mich nicht auf ein briefliches Konzentrat verlassen will”. (8) Für Glombiks Weigerung, so schrieb ich ihm offen, “fallen mir nur drei Erklärungen ein: Entweder es gab dieses Schreiben nie; oder Sie haben es mittlerweile verlegt oder weggeworfen; oder es stützt Ihre Argumentation nicht in der von Ihnen behaupteten Weise.” Nun richtete ich in Sachen Richard Meissner selbst eine Suchanfrage an die WASt, mit denselben Daten, die Peter Kropf acht Jahre zuvor nach Berlin durchgegeben hatte: Name, Vorname; geboren in Hessen; Jahrgang ca. 1920; Kriegsverletzungen am linken Ober- und rechten Unterschenkel. Zu meinem Erstaunen teilte mir die WASt (9) daraufhin mit, dass “in der Kartei unseres Zentralnachweises kein Namensträger ermittelt werden konnte, auf den Ihre Angaben zutreffen könnten. Für weitere Nachforschungen ist entweder die Kenntnis des genauen Geburtsdatums oder die vollständige Bezeichnung der Einheit erforderlich” - doch beides hatte ja auch Peter Kropf nicht angeben können. Wie war die WASt dann trotzdem fündig geworden? Eine telefonische Nachfrage bei der Sachbearbeiterin ergab, dass meine Namensangabe auf 25 dort aktenkundige Personen paßte - und nicht etwa auf 177, wie von Glombik behauptet. (Vermutlich werden dort 177 Meissners, aber nur 25 Richard Meissners geführt.) Dabei hatte man sich meinetwegen wohl nur die Mühe eines ersten Rechercheschritts von vielen möglichen weiteren gemacht: Man warf einen Blick in die alphabetisch geordnete WASt-Zentralkartei, die über 18 Millionen Karteikarten von Teilnehmern des Zweiten Weltkriegs enthält. Darüber hinaus verwaltet die WASt aber unter anderem noch über 250 Millionen personenbezogene Meldungen in Erkennungsmarkenverzeichnissen, Personalveränderungslisten und Verlustunterlagen der einzelnen Truppenteile der Wehrmacht. In diesen Heuhaufen sucht auch der dienstbeflissenste Beamte nur ungern auf Verdacht nach einer Stecknadel - es sei denn, ihn motiviert eine so brisante Anfrage wie jene des Bayerischen Fernsehens, die der WASt-Leitung die seltene Chance bot, öffentlich auf sich aufmerksam zu machen und etwas fürs Image zu tun. Wohl aus diesem Grund wies Gerhard seine Mitarbeiter an, allen 25 Namenshinweisen nachgehen - und dabei fand sich in der Tat ein Soldat, und nur dieser eine, auf den Gersters wichtigste “Reinkarnationserinnerungen” einigermaßen passten. Dass eine Ernennung Meissners zum Panzerkommandanten nirgendwo in den Akten einen offiziellen Niederschlag gefunden hat, schließt keineswegs aus, dass er in seinen letzten Tagen faktisch in einer solchen Funktion diente. Zu Gersters unveröffentlichten Erinnerungen gehört, “dass unsere Einheit ... Verluste hatte, die nicht schnell genug durch qualifizierte Soldaten ersetzt werden konnten. Daher hatte ich ... die Funktion des Panzerkommandanten für eine dringend benötigte Aufklärungsfahrt zu übernehmen, weil ein feindlicher Angriff gemeldet worden war und unsere militärischen Stellen dringend Einzelheiten über Position, Bewaffnung und Truppenstärke (des Gegners) brauchten.” (10) So könnte es gewesen sein. Historisch äußerst fragwürdig ist die Behauptung, Meissner könne am 29. Januar 1944 überhaupt nicht auf amerikanische GI´s gestoßen sein. Die beiden Quellen, auf die sich Skeptiker Glombik beruft, stammen aus den Jahren 1944 bzw. 1956. Sachbücher neueren Datums hingegen beschreiben übereinstimmend US-Truppenbewegungen im Gebiet von Monte Cassino, die in unmittelbarer Nähe von Meissners Einsatzbereich liegen. Der Historiker Dan Kurzman stellt fest (11), dass “das amerikanische Korps vom 24. Januar bis 12. Februar 1944 die erste Cassino-Schlacht kämpft”. Auch nach Hart (12) “suchte das amerikanische II. Korps” schon Ende Januar 1944 “die Gustav-Linie durch einen nördlichen Angriff auf Cassino zu durchbrechen. Am 24. Januar führte die amerikanische 54. Division den Angriff, mit Hilfe der Franzosen an ihrer Flanke.” “Am 25.1.1944”, so schreiben Zentner/Bedürftig, “gingen die Alliierten zur Daueroffensive über. Vergeblich jedoch versuchte die 34. US-Infanteriedivision, den Monte Cassino im Norden zu umgehen. (13) Eben dort, nördlich von Monte Cassino, liegt das Gebiet, in dem Meissner seit 29.1.1944 vermisst wird. - Auf einer Karte bei Peter Young (14) kennzeichnen zwei parallele Pfeile zwei Angriffe amerikanischer Truppen - offenbar jenes 142. Regiments, das Glombik selbst erwähnt -, die sie von Sant Elia westwärts zum Colle (Berg) Belvedere führten; dort trafen sie vermutlich auf deutsche Truppen, die zwischen dem Monte Cairo und dem Monte Abate ostwärts vorstießen. Am Mittwoch, 26.1.1944, kam es zu “einem deutschen Gegenangriff auf die Höhe 862 und den Berg Colle Abate”, dessen Rückeroberung am 27.1.1944 gelang. “Zwischen den deutschen Verbänden Kesselrings und den Amerikanern des Generals Clark sowie den Franzosen des Gernerals Juin wüteten verbissene Kämpfe.” (15) Am Freitag, dem 28. Januar 1944, “übernimmt die deutsche 90. Panzergrenadierdivision den Kampfabschnitt der 44. Infanteriedivision der ‘Hoch- und Deutschmeister’ beiderseits Tarelle bis zum Secco-Tal und somit den gesamten Cassino-Abschnitt” (16). “Bei Sonnenaufgang des 27.1.1944”, heißt es bei Piekalkiewicz weiter (17), “versucht das US-Infanterieregiment 168, den kleinen Brückenkopf, den das US-Infanterieregiment 133 hält, zu verbreitern.” Offenkundig befanden sich also amerikanische Truppen in Meissners letztem Einsatzgebiet. Am Samstag, dem 29. Januar 1944 - mutmaßlich Meissners Todestag -, “rücken, nachdem US-Pioniere die Panzerstraßen im Vorfeld der Stadt Cassino hergerichtet haben, stärkere Panzereinheiten vor. Mit ihrer Unterstützung erreicht die US-Infanterie die Anhöhen 56 und 213. Bei Anbruch der Dunkelheit können beide Hügel erobert werden.” (18) Am Sonntag, dem 30.1.1944, “gelingt es dem US-Infanterieregiment 168, den Rapido zu überschreiten und am Abend das Dorf Cairo zu Füßen des Monte Cairo zu erobern.” (19) Am selben Tag führten amerikanische Panzer einen Angriff westwärts über den Fluß Rapido zum Colle Maiola. (20) Der Feldweg, der von der Ortschaft Cairo nach Süden führt, weist zwei T-förmige Kreuzungen auf; die südlichere von beiden, so glaubt Gerster, ist “wahrscheinlich diejenige, hinter welcher der Abschuß des Panzers erfolgte”. - “Montag, 31. Januar 1944. Aus dem Feldhauptquartier von General Clark: Nach schweren, 24 Stunden dauernden Kämpfen sind amerikanische und französische Truppen im nördlichen Abschnitt von Cassino in die deutsche Verteidigungslinie eingebrochen und haben eine Reihe von Stützpunkten besetzt, (...) kämpften Amerikaner und Franzosen Seite an Seite.” (21) Meissners letzter bekannter Aufenthaltsort lag bei Belmonte di Castello, ca. 8 km nördlich von Monte Cassino und 2 km südlich von Belmonte Castello. Wie soll er dann aber südlich von Cairo mit dem US-Panzer zusammengetroffen sein - fünf Kilometer weiter? Fest steht lediglich die letzte bekannte Position Meissners; und diese hat kein außenstehender Beobachter fortlaufend registriert, sondern wurde von Meissner selbst während seiner Panzerfahrt in regelmäßigen Abständen per Funk gemeldet. Dabei konnte er seinen Standort sicherlich immer nur ungefähr wiedergeben, zumal auf unbekanntem Gebiet. Und selbst wenn sein Panzer nur mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 15 km/h vorankam, “so könnte er die fünf Kilometer von der letzten bekannten Position - 2 km südlich von Belmonte di Castello - bis zum Zusammentreffen mit dem US-Panzer südlich der Ortschaft Cairo in nur zwanzig Minuten zurückgelegt haben”, folgert Gerster. Der Ort Cairo ist vom letzten bekannten Standort Richard Meissners (2 km südlich von Belmonte) nur etwa 3 km Luftlinie entfernt. Soweit ist Gersters Glaubwürdigkeit also mitnichten erschüttert, wie Skeptiker meinen - deswegen aber noch lange nicht bestätigt, wie Reinkarnationsgläubige flugs unterstellen würden. Denn zwei bisher unveröffentlichte Details seiner “Rückführungen” bei Bick, mit denen er auf den ersten Blick haarsträubend danebenlag, hätte Glombik erst recht frohlocken lassen. Als Einsatzgebiet gab Gerster in Trance nicht etwa Monte Cassino oder wenigstens Italien an - er sprach von der Eifel, dem Westwall, den Ardennen; und er erinnerte sich an den Ortsnamen “Spa”. (22) Auf die Idee, dass er stattdessen an der “Gustav-Linie” gekämpft haben könnte, brachte ihn erst die WASt-Auskunft. Vermutlich schlich sich hier in Gersters “Reinkarnationserinnerungen” ein, was zur Biographie seines eigenen leiblichen Vaters gehörte: Denn dieser war tatsächlich 1944 als Funker bei der Ardennen-Offensive eingesetzt gewesen, und eine der deutschen Angriffswellen dürfte ihn ganz in die Nähe des bekannten belgischen Heilbads Spa geführt haben. Ein Foto hört nicht auf, ein Abbild der Wirklichkeit zu sein, wenn sich herausstellt, dass auf ein paar Quadratmillimeter davon Teile eines zweiten Fotos montiert worden sind; es hört lediglich auf, ein getreues zu sein. Nicht strenger sollten wir mutmaßliche Reinkarnationserinnerungen bewerten, wenn sich herausgestellt hat, dass sie Versatzstücke aufweisen, die nachweislich aus anderen Quellen stammen. Vermutlich sind sämtliche Erinnerungen, die wir an komplexe Vorgänge unserer ferneren Vergangenheit im Kopf haben, durchsetzt von Verzerrungen, phantasievollen Vervollständigungen von Lücken, Weglassungen und Hinzufügungen aus Gedächtnisinhalten, die sich auf andere, aber irgendwie bedeutsame Ereignisse beziehen. Würde eine nach der anderen nach strengsten Maßstäben durchleuchtet, so müsste wohl geschlussfolgert werden, dass kein Mensch auch nur eine einzige Erinnerung hat, da doch alles, was man dafür hält, bei genauerer Betrachtung irgendwelche Fehler aufweist. Selbst wenn Gersters “Erinnerungen an ein früheres Leben” im übrigen echt wären, könnten Eifel, Ardennen und Spa assoziativ ins Spiel gekommen sein und ihm beim Rekonstruieren von Meissners Vergangenheit einen Streich gespielt haben. Gerster “sah” in Trance Ereignisse, deren Schauplatz er nicht lokalisieren konnte; er vermutete den Zweiten Weltkrieg; dieser hatte persönliche Bedeutung für ihn durch den Fronteinsatz seines Vaters; und so könnte er aus dessen Kriegsbiographie die fehlenden Ortsangaben unbewusst übernommen haben, um “seine”, Meissners, eigene Geschichte zu vervollständigen, wo sie Lücken aufwies. So ähnlich funktioniert unser Gedächtnis auch, wenn es innerhalb der Grenzen des jetzigen Lebens zurückgeht. Manche Details aus Gersters Erinnerungsbild, die zunächst unwahrscheinlich anmuten, haben sich im nachhinein bestätigt - und dadurch das Bild als ganzes glaubhafter gemacht. So war sich Gerster von Anfang an sicher, dass Meissners Panzer durch eine verschneite Landschaft rollte. Schnee hundert Kilometer südlich von Rom? Doch mehrere Historiker bestätigen eine ungewöhnliche Wetterlage um jene Zeit. Bei Piekalkiewicz (23) ist ein Foto nachzuschlagen, das deutsche Soldaten im Februar 1944 am Monte Abato “auf dem Marsch durch Schnee” zeigt. Zudem enthalten Gersters Erinnerungen etliche weitere Details, deren Überprüfung zwar noch aussteht; dass sie mit Hilfe von Zeitzeugen eines Tages doch noch gelingt, ist aber keineswegs ausgeschlossen. Dazu zählt der Name des Schützen, der dem Panzerkommandanten Meissner unterstellt war und im entscheidenden Moment versagte (“Das war der Kurt”, ist sich Gerster sicher), aber auch charakteristische Einzelheiten der Landschaft, in der sich der Panzer zuletzt bewegte: Sie dürften nur jemandem bekannt sein, der schon einmal dort war - und Gerster war es nicht, zumindest nicht in diesem Leben. (Seine erste Reise in das Gebiet um Monte Cassino plante er für 2001.) Die vernachlässigte Vorgeschichte der Rückführung Die Rückführungen 1992 legten im übrigen nur nochmals Bilder frei, die Gerster schon viel früher beschäftigt hatten. Schon mindestens zwanzig Jahre vorher, irgendwann zwischen 1969 und 1972 - Gerster war damals sieben bis zehn Jahre alt -, waren sie in ihm hochgestiegen, “zweimal spontan, einmal im Traum”, wie er berichtet. “Beim ersten Mal war ich ins Spiel mit Plastikfiguren versunken, die Soldaten darstellten; zu ihnen stellte ich andere Objekte, die für Panzer standen. In diesem Moment driftete ich dann plötzlich ab und hatte kurz eine Vision.” Die gleichen Bilder, die jetzt bruchstückhaft an seinem inneren Auge vorbeizogen, kehrten später wieder: “Panzer. Abschuss. Falle aus dem Panzer heraus. Liege da. Genickschuss.” Dieses Faktum dürfte für Skeptiker ein gefundenes Fressen sein. Mehr als zwei Jahrzehnte, so mag man argwöhnen, sind für einen neugierigen, aufgeweckten, von seinen eigenen Visionen überwältigten Jungen eine Menge Zeit, sich stapelweise Literatur über die berühmte Schlacht von Monte Cassino zu besorgen, Dokumentarfilme auf sich wirken zu lassen, Kriegsteilnehmern genau zuzuhören - und aus alledem die Bausteine für eine dramatische, detailreiche und denkbar nah an der historischen Wirklichkeit gebaute Fiktion namens “Richard Meissner” zu zimmern, in die er sich so lange hineindachte und einfühlte, bis er sich voll und ganz eins mit ihm wähnte - und in der hypnotischen Rückführung dann auslebte. Unter die Haut gehende Kinofilme wie “Schlachtgewitter am Monte Cassino” (The Story of G.I. Joe), der dem Hauptdarsteller Robert Mitchum seine erste “Oscar”-Nominierung eintrug, könnten Gerster dafür vorzügliche Identifikationsfiguren geboten haben. Doch einem solchen Verdacht mangelt es an Anhaltspunkten. Nach Gersters Aussage fehlte seinen frühen Erinnerungsbildern jeglicher geographische und zeitliche Bezug; er “sah” Szenen von Krieg, Panzer, Soldaten, er spürte die grauenvollen Verletzungen, den tödlichen Schuss - mehr nicht. “Ich hatte ja keine Daten”, versicherte er mir im Interview. “Keine Namen. Keine Orte. Nichts. Nur diese Bilder.” Dass sie aus einem “früheren Leben” stammen könnten, zog er gar nicht erst in Erwägung; sie waren einfach da, sie waren sonderbar, ganz anders als gewöhnliche Phantasien oder Traumbilder, und sie beunruhigten ihn. Mit einer möglichen Vorinkarnation, die bei Monte Cassino endete, begann er sie erst in Verbindung zu bringen und nachzuforschen, nachdem ihm die Hypnoseärzte von Dahn Anstöße dazu gegeben hatten. Allerdings hat Gerster, wie er einräumt, der Themenkomplex “Krieg-Zweiter Weltkrieg-Wehrmacht” schon als Kind besonders fasziniert. “Immer drängte es mich danach, mit meinen Plastikfiguren Kriegsszenen zu spielen.” Wenn er im Fernsehen Ausschnitte aus alten Wochenschauen des Dritten Reichs sah, kam es ihm stets so vor, “dass das Gezeigte noch gar nicht so lange her war” - es war ihm, als habe es sich erst kürzlich zugetragen. Im Technikmuseum von Sinsheim bestieg er einmal einen ausgestellten Panzer und kletterte in den Kommandoturm, woraufhin ihn ein seltsam mulmiges Gefühl beschlich, “eine rätselhafte Beklemmung”. All dies könnten Katalysatoren von Wiedergeburtsphantasien gewesen sein - aber auch Wiedergeburtssymptome. Phantasie? Wichtigtuerei, Betrug? Stutzig macht, dass Gersters Bilder seines Vorlebens “nie in Farbe waren. Da waren nur Grautöne, schwarz-weiß.” Schwarz-weiß sind fast alle Fotos und Dokumentarfilme, die uns aus der Zeit vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorliegen. Erhärtet dies nicht den Kryptomnesie-Verdacht? Gestaltete Gerster phantasievoll Eindrücke aus, die er in diesem Leben aufschnappte? Gegen die Phantasie-Hypothese sprechen die inneren Widerstände, die Gerster spürte, wann immer er versuchte, mehr Licht in die vielen dunklen Bereiche von Meissners Biographie zu bringen. Nachdem die Therapie in Dahn abgeschlossen war, bemühte er sich “mindestens zwanzig Mal”, aus seinem Unterbewussten “durch Selbsthypnose und Meditation” weitere Informationen über Meissner hervorzuholen - “aber es klappte nicht”. Solche Hemmnisse kennt freie Phantasie nicht. Noch abwegiger ist ein Betrugsverdacht. Wer betrügt, täuscht vorsätzlich - dafür ist bei Gerster keinerlei Motiv offensichtlich. Wer ein paar Stunden mit ihm verbringt, lernt einen zurückhaltenden, eher schüchternen Mann von überdurchschnittlicher Intelligenz und ausgesprochen analytischem Verstand kennen, der sich als Wirtschaftsingenieur mit Fachhochschulabschluss eine gesicherte Existenz in einem völlig unesoterischen Umfeld aufgebaut hat. Was hätte er davon, ein Lügenmärchen über frühere Leben zurechtzuspinnen? Bis zu jener “Psi”-Sendung hatte er nicht einmal die eigene Mutter eingeweiht - sein Vater war 1988 verstorben -, geschweige denn andere Personen. Vom Fernsehen 1992 schlagartig ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, hatte er nur Nachteile. Mit Unverständnis bis hin zur Häme begegneten ihm die meisten Nachbarn und Kollegen, die davon Wind bekommen hatten; zeitweilig musste er sogar um seinen Arbeitsplatz fürchten. Neigt so jemand zu Wichtigtuerei mit Reinkarnation? Beachtung verdienen zwei sonderbare Hautveränderungen bei Gerster. Bei seiner Geburt fielen fünf Leberflecken an seinem linken Oberschenkel auf, angeordnet wie die fünf Augen eines Würfels. Am Genick, leicht rechts oberhalb der Wirbelsäule, zeigten sich mehrere kleine tote Punkte, kreisförmig angeordnet, mit einem Durchmesser von etwa einem Zentimeter. Von Gersters Mutter ließ ich mir Lage und Größe dieser Hautanomalien schriftlich bestätigen und zeichnen (siehe Abb. xx). Während die Leberflecken inzwischen verschwunden sind, sind die Punkte bis heute sichtbar. Könnten die fünf Leberflecken am linken Oberschenkel mit jenen Verletzungen zusammenhängen, die sich Panzerkommandant Meissner zuzog, als die feindliche Granate explodierte? Verweist das merkwürdige Mal in seinem Genick auf den tödlichen Einschuß, mit dem Meissner hingerichtet wurde? Bei Kindern, die sich anscheinend an frühere Leben erinnern, fand der amerikanische Psychiater Ian Stevenson vielfach sonderbare Male an exakt jenen Körperstellen, an denen ihr angebliches “früheres Selbst” eine tödliche Verletzung erlitt; er sieht in ihnen eines der überzeugendsten Indizien für Reinkarnation. (24) Bis hierher könnte es den Anschein haben, als beschränkten sich Gersters “Reinkarnationserinnerungen” ausschließlich auf Meissners letzte Kriegserlebnisse. Diesen gelten sie tatsächlich überwiegend - “zu 90 Prozent”, wie Gerster selbst schätzt, “der ganze Rest blieb irgendwie im Dunkeln”. Darin unterscheiden sie sich nicht von den glaubwürdigsten Fällen aus Stevensons Sammlung; auch sie kreisen vorwiegend um die Todesumstände angeblicher früherer Inkarnationen. Doch etliche Angaben Gersters beziehen sich auch auf Meissners Vorgeschichte, was die “Psi”-Sendung unterschlug. Um herauszufinden, was Gerster über den ausgestrahlten Zusammenschnitt hinaus “erinnert” hatte, bemühte ich mich, an die Tonbandaufzeichnungen der insgesamt drei Rückführungen heranzukommen, die 1992 mit Gerster in Dahn stattgefunden hatten; die Audiocassetten waren noch im Besitz Bicks, der inzwischen nach München umgezogen war. Auch wandte ich mich an den damaligen Produktionsleiter Peter Kropf, um das gesamte gefilmte Material, vor allem das nicht gesendete, sichten zu können; eine Videokopie lagerte tatsächlich jahrelang in Kropfs Privatarchiv, war dort aber leider nicht mehr auffindbar. So blieben als einzige Quellen eine wortwörtliche Transkription von Teilen der Rückführungssitzungen, angefertigt von Gerster selbst; und mündliche Angaben, die mir Gerster im nachhinein darüber machte, woran er sich deutlich “erinnerte”, ehe mit Hilfe der WASt die Identität des historischen Richard Meissner sichergestellt war. Hochpräzise daneben Von diesen Behauptungen waren, was “Psi”-Zuschauer nie erfuhren, gerade die präzisesten falsch: 1. Als Geburtsdatum nannte Gerster den “21. Februar 1920”. Der Meissner, zu dem die Spurensuche bei der WaSt führte, kam aber am 12. November 1921 zur Welt. 2. Gefragt nach dem Tag, an dem er stirbt, nannte Gerster ebenso dezidiert den “18. Dezember 1944”. Zu diesem Zeitpunkt jedoch konnte er an der Gustav-Linie mit Sicherheit noch gar nicht auf amerikanische GI´s getroffen sein. Weil Zeitangaben schon in der Rückschau auf das gegenwärtige Leben notorisch unsicher sind, sollte entsprechenden Fehlern bei “Reinkarnationserinnerungen” allerdings nicht allzu großes Gewicht beigemessen werden. Aber auch mit einer wesentlichen Ortsangabe vertat sich Gerster nachweislich. Zwar gab er richtig an, dass Richard Meissner “in einem kleinen Ort in Mittelhessen” zur Welt kam. Als Geburtsort nannte er allerdings nicht etwa Obereisenhausen, wie die “Psi”-Macher suggerierten, sondern “Friedberg”. Obereisenhausen, mit heute rund 500 Einwohnern, ist seit 1972 Teil der Gemeinde Steffenberg, die im hessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf, Regierungsbezirk Gießen, liegt. Ebenso daneben lag Gerster anscheinend, als er als Kriegsschauplatz die Ardennen und insbesondere Spa angab. Indes enthalten seine Ortsangaben eine Ungereimtheit, hinter der sich möglicherweise besseres Wissen verbirgt. Auf seiner letzten Panzerfahrt, so berichtet er, habe er an einer T-förmigen Kreuzung ein Hinweisschild “Capella” gesehen, dem er folgte. (Daraus, und aus “Belmonte di Castello”, machte ein anscheinend hörbehinderter “Psi”-Fernsehredakteur dann den angeblichen, von Glombik angezweifelten Todesort “Capello”, von dem Gerster selbst nie gesprochen hatte.) Einen “Capella”-Wegweiser wird ein Soldat aber schwerlich in Belgien vorfinden, wohl aber in Italien. Grundsätzlich sollten sich Reinkarnationsforscher nicht voreilig von geographischen Verwechslungen entmutigen lassen. Immerhin liegt Friedberg nicht allzuweit von Obereisenhausen entfernt, und so könnte der Ortsname in seinen Gedanken, Plänen und Erlebnissen seinerzeit durchaus eine Rolle gespielt haben, die die Verwechslung nachvollziehbar macht. Im übrigen verdient die Leistung, den Geburtsort korrekt in einer bestimmten Region eines bestimmten Bundeslands zu lokalisieren, durchaus Beachtung - hätte Gerster nicht ebensogut auf Oberbayern oder das nördliche Schleswig-Holstein tippen können, wenn bloß herumraten würde? “Bei meinen Erinnerungen überwiegt das emotionale Erleben gegenüber Zahlen und Daten”, schrieb mir Gerster (25) - und so viel sollte ihm zugestanden werden. Was “wusste” Gerster über emotional bedeutsame Ereignisse “seines” Lebens vor dem Krieg? Im Verlauf seiner Rückführungen nannte er zahlreiche weitere Einzelheiten, die niemand der Erwähnung und Überprüfung für wert befunden hatte. 1. Meissners Geburtsort war zugleich der Ort, in dem er zur Schule ging. 2. Die Mutter “hatte schwarzes Haar, mittellang”. 3. An der Dorfstraße stand “ein riesiger Baum, der mich als Kind sehr beeindruckt hat”. 4. Er hatte vier Geschwister. 5. Drei Geschwister waren jünger als er - eines, nämlich ein Bruder, älter. 6. Als Richard neun Jahre alt ist, “verliert der Vater seine Stelle, und wir hungern. Das Geld reicht nicht”. 7. Über die Not der Familie verzweifelt, wird der Vater zum Alkoholiker. 8. Daraufhin kommen die Kinder weg von zu Hause. “Meinen Bruder haben sie zur Tante gebracht.” Richard und die übrigen Geschwister müssen in “Heime”. (“Die Autofahrt mit dem Onkel könnte damit zusammenhängen. Vielleicht hat er mich dorthin gebracht”, mutmaßte Gerster mir gegenüber.) 9. Einmal fuhr Richard als Kind “Richtung Friedrichsberg oder so ähnlich”. (In Trance ‘sah’ er eine solche Aufschrift auf einem Wegweiser.) Dabei saß er in einem “damals seltenen Pkw”. Wer fuhr? Bei unserem ersten Treffen Anfang Oktober 2000 hatte Gerster von einem “Onkel” gesprochen, während er später von “einer Person” sprach, “die mir eher suspekt war”. (26) 10. Richard macht eine Lehre “in der Metallverarbeitung”, als Dreher. (“Da drehen wir Metallteile.”) 11. Mit 15 Jahren arbeitet er in einer Fabrik. 12. Diese Fabrik lag nördlich seines Heimatorts, möglicherweise “im Frankfurter Raum”. 13. Branche: Metallverarbeitung. 14. In dieser Fabrik wurden zunächst Zahnräder hergestellt. 15. Später wurden dort Getriebe für Lastwagen und Panzer produziert. 16. Mit 18 Jahren “miete ich mir ein Zimmerchen”. 17. Kriegseinsätze führen Richard unter anderem auch nach “Mähren, Iglau, Brünn, Olmütz”. Was ist von alledem zu halten? Dass ein Kind dort zur Schule geht, wo es geboren wird, ist eher die Regel als die Ausnahme, erst recht in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, wo beinahe jedes Dorf noch seine eigene Volksschule hatte, in der zumeist mehrere Jahrgänge im selben Klassenzimmer unterrichtet wurden. Insofern wäre ein Treffer bei der ersten Angabe kaum der Rede wert, ebenso bei der zweiten: In den Notzeiten der Weimarer Republik, wie auch in den Kriegswirren, gaben viele Eltern ihre Kinder weg, zu deren eigener Sicherheit oder aus wirtschaftlicher Not. Dass Fabriken ihre Produktion auf Kriegsgerät umstellten (Angabe 15), war im Nazi-Regime nichts Ungewöhnliches. Auch ein hoher Baum an einer Dorfstraße, wenigstens einer (Angabe 3), hat in deutschen Landen nicht gerade Seltenheitswert. Eine deutsche Mutter mit schwarzen Haaren zu haben, kommt des öfteren vor, und mittellange Haarschnitte entsprachen der vorherrschenden Frisurenmode der Weimarer Zeit (Angabe 2). Bemerkenswerter scheint Angabe 9, bezüglich einer nahen Stadt namens “Friedrichsberg oder so ähnlich”: Etwa 30 Kilometer nordöstlich von Steffenberg liegen Frankenberg und Friedrichshausen. Hat Gersters “Reinkarnationserinnerung” hier zwei Ortsnamen zu einem verschmolzen? Um beide Namen zu kennen, genügt freilich ein Blick in jeden Autoatlas. Auf der Suche nach Hinterbliebenen Beachtlich wäre hingegen, wenn sich die übrigen Angaben bestätigen ließen. Dazu machte ich mich auf die Suche nach Hinterbliebenen Richard Meissners, nach Schul- und Kriegskameraden, ehemaligen Nachbarn, Freunden, Arbeitskollegen. Für den Fall, dass ich sie ausfindig machen konnte, erwartete ich zudem weitere Angaben, mit denen ich Gerster anschließend auf die Probe stellen konnte. Wie Gerster glaubhaft versichert, hat er sich selbst niemals um solche Kontakte bemüht: “Die hätten mich wahrscheinlich ja nur ausgelacht, wenn ich mit meiner Reinkarnationsgeschichte angekommen wäre.” Außerdem habe er es nicht übers Herz gebracht, bei Meissners Angehörigen erneut schmerzliche Erinnerungen wachzurufen. (Hätte er entgegen dieser Beteuerungen insgeheim trotzdem dort Erkundigungen eingezogen, so wäre ich bei meinen Recherchen sicherlich auf entsprechende Hinweise gestoßen.) Anfang Oktober 2000 schrieb ich 32 Meissners bzw. Meißners an, von denen ich einen Eintrag im Telefonbuch fand: 12 in Steffenberg - davon 7 im Ortsteil Obereisenhausen - sowie 20 weitere in der Kreisstadt Biedenkopf. Als Anlass meines Briefs gab ich vorsichtshalber keine “Erinnerungen an frühere Leben” an, sondern ein psychologisches Forschungsprojekt, bei dem unter anderem Kriegserinnerungen überprüft würden. (Erst beim persönlichen Kennenlernen erklärte ich, worum es mir ging.) Auf meinen Rundbrief reagierten vier Meissners. Zwei gaben an, den Gesuchten nicht zu kennen. Spannender war ein dritter Brief, abgeschickt vom Ortsgerichtsvorsteher in Obereisenhausen. Er teilte mir mit, dass Richard Meißner “unser Nachbar war. Sein Elternhaus steht noch! Gekannt habe ich ihn nicht. Zur Zeit meiner Geburt war er schon vermisst. Sein Bruder Kurt Meißner lebt noch, als einziger Verwandter! Alle anderen Geschwister und die Eltern sind schon verstorben!” Und ein Anrufer meldete sich: “Richard Meißner war mein Onkel!” Mit ihm verabredete ich mich für den 21. und 22. Oktober 2000 in Obereisenhausen - in der Hoffnung, neben ihm auch Geschwister treffen und befragen zu können, womöglich sogar noch weitere Ortsbewohner, die den Vermißten gekannt hatten. Dort wollte ich Fakten und Bilder sammeln, mit denen ich anschließend Roland Gerster konfrontieren konnte. Dabei war ich nicht in erster Linie auf präzise historische Zeit- und Ortsangaben aus; es ging mir um die emotional bedeutsamsten Besonderheiten in Richards Leben - wenn überhaupt, so dürften sie am ehesten im Reinkarnationsgedächtnis haften geblieben sein. Neben acht Neffen und Nichten Richard Meißners empfingen mich sein noch lebender Bruder Kurt, sein einst bester Freund Heinrich Petri (“wir waren wie Brüder, noch besser - immer zusammen”) und dessen zwei Jahre jüngere Schwester Lina, mit der Richard ebenfalls viel Zeit verbrachte. Insgesamt sieben Stunden standen sie mir für Interviews zur Verfügung - offen, vorbehaltlos und hochmotiviert, mir bei der Aufklärung des Falls behilflich zu sein. Im Anschluss an unsere Gespräche führten sie mich zu Gebäuden und Orten in der Umgebung, die für Richard Meißner von besonderer Bedeutung gewesen waren. Unter anderem zeigten sie mir sein Elternhaus; ein Nachbarhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in der sein bester Freund Heinrich Petri und dessen zwei Jahre jüngere Schwester gelebt hatten; die evangelische Dorfkirche, in der Richard konfirmiert worden war; die alte Schule; der Bahnhof im Nachbarort Friedensdorf, von wo aus Richard nach Heimaturlauben stets den Zug zur Kaserne oder an die Front bestiegen hatte; eine Kohlehandlung und eine Käserei daneben, die Richard häufig besuchte und auf die er vom Bahnsteig aus blicken konnte; ein markanter Dorfbrunnen. All diese Gebäude befanden sich noch weitgehend in dem Zustand, in dem Richard sie in Erinnerung behalten haben müsste - abgesehen von neuen Fassadenanstrichen im einen oder anderen Fall. Von all diesen Motiven machte ich über 50 Aufnahmen. Hinzu kamen Fotos aus dem Familienalbum der Meißners; viele Schnappschüsse stammten von Richard selbst, dessen große Leidenschaft das Fotografieren gewesen war. Darüber hinaus überließ mir die Familie vertrauensvoll zur Auswertung mehrere Urkunden – unter anderem Konfirmationsurkunde, Prüfungszeugnis, Gesellenbrief, Kennkarte der Wehrmacht - sowie einen Stapel von drei Dutzend Feldpostbriefen, die Richard ab 1939 nach Hause geschickt hatte; der letzte datiert vom 29. November 1943, also genau zwei Monate vor seiner Verlustmeldung. Wie mir die Meißners bestätigten, hatte nach der “Psi”-Sendung niemand jemals mit ihnen Kontakt aufgenommen und sich nach “Richard Meißner” erkundigt. Eine Zeitlang hätten sie mit dem Gedanken gespielt, sich bei der Fernsehredaktion zu melden, zumal sie im Dorf mehrfach auf die Sendung angesprochen worden waren - es dann aber doch bleiben lassen. Dagegen, Gerster persönlich kennenzulernen, hätten sie nichts einzuwenden, im Gegenteil: Gespannte Neugier und erstaunliche Aufgeschlossenheit waren spürbar. Ich fand nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür, dass Gerster während der acht Jahre, die seit der Identifizierung seines mutmaßlichen “früheren Selbst” verstrichen waren, zu irgendeinem Meißner Kontakt aufnahm. (“Hätte er sich bei einem von uns gemeldet, so hätten es am nächsten Tag alle gewusst.”) Und aufs Geratewohl dorthinzufahren und sich umzusehen, ohne Meißners Hinterbliebene ausfindig zu machen und anzusprechen, hätte für ihn wenig Sinn gemacht. Enttäuschend unergiebig Auf den Punkt gebracht: Die Gespräche waren ernüchternd. Nur eines stimmte: Richard hatte tatsächlich vier Geschwister. In allen übrigen aussagekräftigen und überprüfbaren Detailangaben, auf die sich Gerster bezüglich Meißners Obereisenhausener Dasein festgelegt hatte, lag nicht bloß haarscharf daneben, sondern mehr oder minder deutlich. Andererseits waren Gerster die wichtigsten Merkmale und Begebenheiten von Richards Leben entgangen. Richard Meißner kam am 12. November 1921 in Obereisenhausen zur Welt, als Sohn von Heinrich (Jg. 1881) und Anna Meißner (Jg. 1897), geb. Welsch. Er war das älteste - und nicht etwa das zweitälteste - von fünf Geschwistern. Wilhelm, zwei Jahre nach ihm geboren, fiel im Oktober 1942 in Rußland. (Anm.: Richard, der zu dieser Zeit bereits in Italien kämpfte, erfuhr davon spätestens Anfang Dezember 1942. In einem Feldpostbrief vom 1ß.12.1942 wendet sich ein Freund aus seiner Kompanie, Oberleutnant Victor Melzer, an Richards Vater mit einer Beileidsbekundung: “Ihr Herr Sohn ... meldete mir heute, welches Schicksal seinem jüngeren Bruder im Osten ereilte und es ist mir ein aufrichtiges Bedürfnis, nicht nur ihm, sondern auch Ihnen meine tiefempfundene Anteilnahme auszusprechen.”) Von zwei Zwillingsbrüdern, Kurt und Karl - geboren am 20. Mai 1930 -, lebt nur noch Kurt; Karl starb 1988. Anna, 1927 geboren, starb 1956 an den Folgen einer fehldosierten Arztspritze. Heinrich Meißner war Maurer - und zu keiner Zeit arbeitslos. Mit seinem Handwerk bescherte er der Familie zwar keinen Wohlstand, brachte sie aber leidlich durch die allenthalben schweren Weimarer Zeiten; ein festes Netz von Verwandten und Freunden linderte zudem die größte Not. Alkoholprobleme hatten ihm niemals zu schaffen gemacht. Und zu keiner Zeit mussten Richard und seine Geschwister das Elternhaus verlassen, niemals wurden sie aus diesem Grund voneinander getrennt. Nach der Schule in Obereisenhausen, die er mit mittelmäßigen Leistungen durchlief, begann Richard Meißner im August 1936, mit 14 Jahren, eine Schreinerlehre bei der Firma Pfeifer im Nachbardorf Günterod; in der nächstgrößeren Stadt Gladenbach besuchte er nebenbei die Berufsschule. Seine Ausbildung schloss er im April 1940 mit einer “ziemlich gut” bestandenen Gesellenprüfung vor der Tischler-Innung Biedenkopf ab. Ein Vierteljahr lang, bis Anfang August 1940, beschäftigte ihn Schreinermeister Pfeifer noch weiter, dann brach Richards Militärzeit an. Zu seiner Berufswahl hatte Richard vermutlich das Vorbild des Großvaters mütterlicherseits angeregt, eines Schreiners, in dessen Werkstatt Richard früh mithalf. Noch heute sind im Elternhaus ein Bett, ein Schrank und ein Nachttischchen zu besichtigen, die Richard eigenhändig zimmerte. Der Vater betrieb nebenbei eine bescheidene Landwirtschaft mit einem kleinen Getreide- und Kartoffelfeld, ein paar Kühen und Schweinen; hier mußte Richard kräftig mitanpacken, zumal nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in dem Vater Heinrich an der Westfront kämpfte; erst ein Jahr vor Richards Geburt kehrte er aus der Kriegsgefangenschaft heim. Richards Verhältnis zu beiden Elternteilen wird von allen Zeitzeugen als völlig unbelastet und spannungsfrei geschildert; vor allem der Vater wird als besonders gütig und liebevoll charakterisiert. (Heinrich und Anna Meißner starben kurz hintereinander im November 1973.) Sein Elternhaus hat Richard vor Kriegsausbruch nie längere Zeit verlassen, weder für einen Heimaufenthalt noch für eine Fabrikarbeit, und schon gar nicht in nördlicher Richtung. (Die Ausbildungsorte Günterod und Gladenbach liegen rund 15 km süd- bzw. südwestlich von Obereisenhausen.) Richards Kindheit und Jugendzeit waren hart, ausgefüllt mit Arbeit, fast ohne private Freiräume. Seine ganz große Leidenschaft war das Fotografieren, neben dem Laubsägen und Mundharmonikaspielen, ab und zu Fußball. Die meiste Zeit verbrachte er mit seinem besten Freund Heinrich Petri (Jg. 1922) und dessen zwei Jahre jüngerer Schwester Lina, die beide noch leben. Gemeinsam mit Heinrich ging er heimlich Forellen fischen, sammelte Brennholz für den Winter, spielte ab und zu Fußball mit ihm; gemeinsam nahmen sie an einem Zeltlager im Westerwald teil, gemeinsam gingen sie nach Dillenburg ins Kino; gemeinsam fuhren sie Ski, die Richard selbst gebastelt hatte. Obwohl er bei Kriegsausbruch immerhin schon 18 Jahre alt war, scheint das andere Geschlecht für ihn nie eine bemerkenswerte Rolle gespielt zu haben. (“Dafür war einfach nicht die Zeit da”, bestätigten mir mehrere Zeitzeugen. “Wir waren beide Spätentwickler”, erzählte mir Freund Heinrich Petri, “Mädchen kamen für uns nicht in Frage.”) Seine militärische Grundausbildung erhielt Richard in der Wehrmachtkaserne in Marburg, rund 30 Kilometer östlich seines Heimatorts. Von dort schrieb er öfters nach Hause, mit der dringenden Bitte, ihm “den runden Rührkuchen” und andere Lebensmittel zu schicken, weil er die Verpflegung erbärmlich fand. Daraufhin brachte ihm sein Bruder Kurt regelmäßig Pakete mit essbarem Inhalt nach Marburg, mal mit dem Fahrrad, mal zu Fuß. Dorthin, wie auch zu seinen späteren Fronteinsätzen, fuhr Richard stets mit dem Zug, den er im zehn Kilometer entfernten Friedensdorf bestieg. (Ob Gerster mit “Friedrichsberg oder so ähnlich” diesen Ort gemeint haben könnte, bleibt müßige Spekulation.) Zum Bahnhof kam Richard auf dem Fahrrad, aber bestimmt nie im Auto eines Onkels - niemand in der näheren Verwandtschaft konnte sich einen derartigen Luxusartikel leisten. Im ganzen Dorf besaß nur einer, der mit Abstand Wohlhabendste, einen fahrbaren Untersatz, nämlich einen VW. An eine sonstige bedeutsame Autofahrt mit einer Person, die Richard “suspekt” war, kann sich unter seinen Hinterbliebenen niemand erinnern. Mitte Februar 1942 wurde Richard Meißner von Marburg nach Meiningen in Thüringen versetzt, wo er mindestens bis zum Spätsommer blieb. (Das belegen Feldpostbriefe vom 12.2.1941, dem Tag seines Aufbruchs nach Meiningen, sowie vom 29.8., in dem sich Richard noch aus Meiningen meldet, wo er inzwischen bei einem Bauern einquartiert ist.) Über Richards Kriegseinsätze wissen seine Hinterbliebenen heute nicht viel mehr, als in den erhaltengebliebenen Feldpostbriefen nachzulesen ist - und das ist herzlich wenig. Kein Brief umfasst mehr als zwanzig Zeilen, die in nüchternen, schlichten Worten meist bloß neue Aufenthaltsorte und Einsatzgebiete vermelden, Grüße an diesen und jenen entsenden. Zur Erklärung reicht aber sicherlich nicht aus, dass der Verfasser ein eher unbeholfener, ungeübter Schreiber war. Offenbar wollte er seinen Angehörigen ersparen, was er an Greueln erlebte, und ihnen das Herz nicht schwerer machen, als es ohnehin schon war – wohl deshalb schwieg er sich über Kriegserlebnisse konsequent aus. Bezeichnend dafür ist sein vorletzter Brief vom 24. November 1943: Obwohl bereits seit September entlang der “Gustav-Linie” erbitterte Grabenkämpfe tobten, berichtete Richard über seinen Fronteinsatz nicht mehr, als dass “wir in der Nähe von Rom am blauen Meer liegen (Küstenschutz) ... Bunker gebaut mit sechs Mann, heimelig eingerichtet (...) und hoffen, dass wir das Weihnachtsfest hier feiern können.” Was in Richard wirklich vorging, ließ er nur Anfang 1943 durchblicken, als er in Frankreich stationiert war - denn dort gab es beinahe nichts zu essen, und so flehte Richard seine Eltern wieder und wieder an, ihm Essenspakete zu schicken. “Habe meine Portion für morgen schon heute abend gegessen”, schreibt Richard beispielsweise am 4. Januar 1943, “denn der Hunger treibt uns dazu. Wir hatten gedacht, in Frankreich würde es besser, aber im Gegenteil. Wenn Ihr keine Kilomarken habt, dann tut 100-Gramm-Päckchen schicken, denn die sind hier wieder frei. Am besten etwas gegen den Hunger - so was habe ich in Rußland noch nicht erlebt! Ich glaube, Ihr wißt jetzt, was bei uns los ist, lasst mich nicht so lange warten, denn wir blamieren uns ja bei den Franzosen mit unserem großen Hunger.” Elf Tage später beklagt er, dass es “in Frankreich nicht mal Kartoffel gebt!” (Feldpostbrief vom 15. Januar 1943.) In Italien hingegen war die “Versorgung gut. Haben nun genug zu essen.” (Feldpostbrief vom 19.9.1943.) Hier taucht eben jenes übermächtige Hungermotiv auf, das nach Gerbers Erinnerung für Meißners Leben prägend war - allerdings nicht in den Kriegsjahren, sondern im Elternhaus seiner Kindheit. Vertat sich Gerbers Reinkarnationsgedächtnis lediglich bei der zeitlichen und situativen Zuordnung? In Kampfpausen zwischen Fronteinsätzen sah Richard eine Menge von Europa: In Paris sah und fotografierte er den L´Arc de Triomphe und Schloß Versailles, er stand am Golf von Biskaya, rümpfte im “stinkenden” Neapel die Nase, sah Berlin und Warschau, Reims und Rom. In Russland kam es im März 1941 an einer Brücke über den Dnjepr zu einer bewegenden Zufallsbegegnung: In einer Kolonne nachrückender Soldaten erkannte Richard plötzlich seinen Freund Heinrich wieder. “Wir sprachen eine Stunde miteinander und brieten Eier, ehe wir weitermussten”, erinnert sich Heinrich Petri. Auch er, der zunächst als Fallschirmjäger auf Sizilien im Einsatz gewesen war, hat bei Monte Cassino gekämpft - zur selben Zeit wie Richard, allerdings ohne ihm dort zu begegnen oder auch nur von ihm zu hören. Nach Einzelheiten des Kampfgeschehens dort befragt, wich er immer wieder aus. (“Es war furchtbar. Kann´s nicht erzählen. Abends hatte ich noch zwölf Mann, am nächsten Morgen waren es nur noch vier.”) Die letzte Nachricht, die seine Familie von Richard erhielt, war ein auf 24. November 1943 datierter, fünf Tage später abgestempelter Feldpostbrief. Was ihm in den letzten zwei Monaten vor seinem vermutlichen Tod widerfuhr, bleibt somit im Dunkeln. Im März 1946 reichte Vater Heinrich eine Vermißtmeldung beim Suchdienst des Bayerischen Roten Kreuzes ein. Darauf trägt er, merkwürdigerweise, bei “Letzte Nachricht vom:” den 24.2.1944 ein, nicht den 24.1., und schreibt über den “Letzten bekannten Aufenthalt”: “Vermißt am 29.2.1944 in Italien südlich von Belmonte”, im Widerspruch zu den WASt-Akten. Hätte Richard tatsächlich bis Ende Februar 1944 gelebt, so wäre eine Begegnung mit US-Streitkräften, wie Gerster sie “erinnert”, noch wahrscheinlicher gewesen. Vermutlich hat sich der Vater, innerlich augewühlt, beim Ausfüllen aber einfach vertan. (Im selben Gesuch gibt er für seinen Sohn auch ein falsches Geburtsdatum an, nämlich den 11.12.1921 statt 12.11.) Auf die Probe gestellt Ist Gersters Glaubwürdigkeit nach alledem erschüttert? So rasch sollten Reinkarnationsforscher die Flinte nicht ins Korn werfen. Von allen Gedächtnisleistungen fällt uns aktives, freies Erinnern, ohne jegliche Anhaltspunkte, am allerschwersten; hingegen tun wir uns leichter, wenn wir vorgegebene Informationen oder Bilder von Vergangenem erläutern müssen; am besten schneiden wir ab, wenn wir zwischen mehreren Vorgaben wählen können. Mit Rücksicht darauf stellte ich Daten und Bildmaterial, das ich aus Obereisenhausen mitbrachte, zu einem vierteiligen Test zusammen: - 6 offene Fragen gaben mindestens eine biografische Information vor; - 14 Fragen boten jeweils 10 bis 20 Antwortmöglichkeiten an, von denen 1 bzw. 2 richtig sind; - 12 Fragen bezogen sich jeweils auf ein vorgelegtes Bild, das zu interpretieren war; - Bei 11 weiteren Fragen war jeweils eines unter 10 verschiedenen Bildern auszuwählen. In die ersten drei Teile war mindestens ein misleader eingebaut: eine Frage, die ein fiktives Lebensereignis als real unterstellt. Solche Fragen helfen, die Empfänglichkeit für Suggestionen und die Neigung, über das “frühere Leben” zu phantasieren, einzuschätzen. Bei den Bildertests verwendete ich neben eigenen Aufnahmen, die in und um Obereisenhausen entstanden waren, auch jahrzehntealte Fotos aus Alben der Meißners und meiner eigenen Familie. Diese Aufnahmen hätte Gerster allein schon aufgrund der Papierqualität, der Bildschärfe und des inzwischen unüblichen Kleinstformats identifizieren können - abgesehen davon, daß sie schwarzweiß waren, während die meisten Vergleichsfotos vierfarbig waren. Daher wurden alle Testfotos vorweg eingescannt, in Grautöne konvertiert, nöglichst einander im Format angepasst und dann auf Fotopapier ausgedruckt. Bei jedem Item konnte Gerster auf einer fünfstufigen Skala eine Einschätzung abgeben, wie sicher er sich bei der jeweiligen Angabe fühlte. Sie reichte von 1 = “sehr unsicher” bis 5 = “ganz sicher”. Zusätzlich forderte ich ihn auf, jegliche Gefühle und Intuitionen, die sich während des Aufgabenlösens einstellten, zu protokollieren. Die so entstandenen Testbögen brachte ich Gerster am 4. November 2000 persönlich vorbei - und gab ihm eine Woche Zeit, sie auszufüllen. Da er nach seinem Klinikaufenthalt in Dahn eingehend Selbsthypnose trainiert hatte, schlug ich ihm vor, diese Technik anzuwenden. Strikt untersagt war ihm natürlich, Kontakte zu den Meißners aufzunehmen; diese bat ich sicherheitshalber, vorerst jegliche Auskünfte zu verweigern und mich sofort zu benachrichtigen, falls er sich im Testzeitraum bei ihnen melden würde. Mancher Reinkarnationsgläubige wird diesen Test als unfair abtun wollen: Schließlich bezieht er sich - zwangsläufig, mangels anderer Daten - fast ausschließlich auf Richards Vorkriegsbiographie, während Gersters Erinnerungen vor allem um die letzten Stunden des unglücklichen Frontsoldaten kreisen. Dies stimmt zwar, erübrigt es aber keineswegs, auch die zahlreichen übrigen “Reinkarnationserinnerungen” sorgsam zu überprüfen. Denn diese, so betont Gerster selbst, sind keineswegs weniger klar, präzise und subjektiv gewiß, sondern bloß undramatischer und für sein heutiges Leben, wenn überhaupt, wohl von geringerer Bedeutung als die Kriegseindrücke. Die traumatischen Umstände “seines” Todes an der Gustav-Linie könnten, Wiedergeburt vorausgesetzt, für psychische Probleme verantwortlich sein, derentwegen Gerster 1991 Hilfe in der Hypnoseklinik Hilfe gesucht hatte; hingegen waren Richards Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenenalter offenbar weitgehend von Ängsten und Konflikten mit seelischer Langzeitwirkung frei gewesen. Mein Fazit des Tests fällt ernüchternd aus: Soweit Gersters “Reinkarnationserinnerungen” heute noch nachprüfbar sind, erweisen sie sich als beinahe hundertprozentig falsch; soweit sie zutreffen könnten, entziehen sie sich der Überprüfung - vorerst zumindest. Denn bisher kann niemand bestätigen oder widerlegen, was mit Richard Meissner Ende Januar 1944 südlich von Belmonte wirklich geschah. Dazu müssten dortige Zeitzeugen ausfindig gemacht werden: deutsche Kriegskameraden jener letzten Tage. Der Ladeschütze, dessen Versagen Richard Meißner vielleicht das Leben kostete, dürfte den Angriff des amerikanischen Sherman-Panzers, falls er so stattfand, ebensowenig überlebt haben. Vielleicht aber lassen sich noch irgendwo in Deutschland ehemalige Wehrmachtsangehörige ausfindig machen, die Anfang 1944 zu Meißners Kompanie gehörten - und wissen, wann und unter welchen Umständen er zu seiner letzten Erkundungsfahrt im Panzer aufbrach, anschließend Funkkontakt mit ihm hielten, später die Trümmer seines Fahrzeugs fanden. (Meißners Leiche wurde nie gefunden, andernfalls hätte sie in den Wehrmachtsakten Spuren hinterlassen.) In Feldpostbriefen an die Familie Meißner werden vier mögliche Mitkämpfer Richards namentlich genannt: Oberleutnant Victor Melzer (27), Gerd Wagner (28), Gerd Backes (29) sowie ein Namensvetter, Obergefreiter Arno Meißner. (30) Um diese und weitere Zeugen ausfindig zu machen, gab ich ab Ende Oktober 2000 in drei bundesweiten Zeitungen mehrere Wochen lang eine Suchanzeige auf - bisher ohne Ergebnis. Folglich mangelt es Gerbers Todeserinnerungen vorerst an jeglicher Stützung. Für Frühjahr 2001 hatte sich Gerster eine erstmalige Reise nach Süditalien vorgenommen, um dort nach “Bestätigungen” für seine Erinnerungen zu suchen. Doch von Erkundungen vor Ort sollten sich Reinkarnationsforscher zumindest in diesem Fall nicht allzu viel versprechen. Das Gebiet um das Kloster von Monte Cassino kennt Gerster zumindest in groben Zügen bereits aus Dokumentarfilmen und Kriegsliteratur - schon deshalb können ihm Déja-vu´s im voraus garantiert werden. Zudem sind die wenigen Landschaftsmerkmale, die er zurückgeführt deutlich “sah” - T-förmige Kreuzung, Hinweisschild “Capella”, Kapelle mit Friedhof, Hügel - so allgemein, daß sie mit großer Wahrscheinlichkeit überall ausfindig zu machen sind, wo es in Italien hügelig wird. Kleiner Buchstabe, großes Fragezeichen Eine beachtenswerte Kleinigkeit steckt in der Schreibweise des Familiennamens. Als Gerster in Trance angeben sollte, wie er vormals hieß, buchstabierte er ohne das geringste Zögern “M-e-i-s-s-n-e-r”. Seine mutmaßliche Vorinkarnation hingegen schrieb sich zweifelsfrei mit altdeutsch “scharfem” ß, wie wohl die allermeisten seiner Namensvettern zu wilhelminischen und Weimarer Zeiten. Weder Gerster selbst noch irgendwer sonst, der mit der Überprüfung dieses Falls befaßt war, fand diese Abweichung der Rede wert. In sämtlichen mir vorliegenden Aufzeichnungen und Korrespondenzen Gerbers taucht durchgängig die “ss”-Schreibweise auf, ebenso in den Veröffentlichungen seines damaligen Rückführers Bick. TV-Produktionsleiter Kropf hatte bei der Berliner WASt nach einem “Richard Meissner” suchen lassen, und die WASt fahndete offenkundig von vornherein nach Namensträgern in beiden Schreibweisen. Wäre die Berliner Behörde rigider verfahren, so hätte sie Kropf erklären müssen, dass ihr über den Gesuchten keinerlei Daten vorliegen. Denn Großzügigkeit ist hier fehl am Platz. Von seinem allerersten Volksschuljahr an schrieb der Obereisenhausener wohl abertausendfach seinen Namen mit “ß”. Hätte sich diese Gewohnheit während der Rückführung nicht bemerkbar machen müssen, und sei es auch nur durch ein kurzes, unsicheres Innehalten, als er beim Buchstabieren seines einstigen Nachnamens zum vierten Buchstaben gekommen war? Stattdessen gab er selbstsicher Auskunft im Geiste eines erfolgreich rechtschreibreformierten Nachkriegsdeutschen - und auch dies macht stutzig. Und die Moral dieser verwickelten Geschichte? Vermeintliche Erinnerungen Erwachsener an frühere Leben zu überprüfen, erfordert bisweilen eine geradezu kriminalistische Aufklärungsarbeit. Esoteriker wie Skeptiker pflegen sie sich zu ersparen. Stattdessen Vorurteile zu pflegen, ist zweifellos weniger anstrengend. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen * Ein Pseudonym, auf Wunsch des Betreffenden. (1) Aus einem Brief Peter Kropfs an Claus Bick vom 19.2.1992. (2) Am 31. Januar 1994 bei 3SAT. (3) Ausgestrahlt am 30. November 1994. (4) Claus H. Bick, “Wissenschaftliche Untersuchung von Reinkarnationsphänomenen”, Raum & Zeit 58/1992, S. 22-26, dort S. 25. (5) Gerhard Glombik, “Neues vom Panzerkommandanten - Kein Beweis für Reinkarnation”, Skeptiker 1/1995, S. 20-21. (6) Als Quellen nennt Glombik eine “Karte der ersten Schlacht vom 17.1.-18.2.1944 um Monte Cassino”, aus Katriel Ben Arie: Die Schlacht bei Monte Cassino, Verlag Rombach: Freiburg 1985, sowie Rudolf Böhmler: Monte Cassino, Verlag Mittler u. Sohn, Frankfurt 1956. (7) Laut einem Brief Glombiks vom 4. Oktober 2000. (8) Aus meinem Brief an Glombik vom 19.10.2000. (9) Schreiben vom 11.10.2000. (10) Brief vom 18.1.2000 an Bick. (11) The Race for Rome, übers. Volker Bradke, Bertelsmann: München 1975, S. 397. (12) History of the Second World War, dt. Econ: Düsseldorf/Wien 1972, S. 659. (13) Zentner/Bedürftig: Das große Lexikon des Zweiten Weltkriegs, S. 392, Punkt 2; siehe auch Piekalkiewicz: Die Schlacht von Monte Cassino, Bergisch Gladbach 1982, S. 101f. (14) Peter Young: Der große Atlas zum II. Weltkrieg, Südwest: München 1973, nach der Lizenzausgabe Weltbild: Augsburg 1998, S. 124. (15) Janusz Piekalkiewicz: Krieg der Panzer. 1939 – 1945 (1989), S. 138. (16) Piekaliewicz, S. 138, vgl. 103; s. auch die Karte bei Young, S. 124 (17) Piekalkiewicz, a.a.O. (18) Piekalkiewicz, a.a.O., S. 104 (19) s. Karte bei Piekalkiewicz, S. 144 (20) s. Karte bei Piekalkiewicz, S. 109 (21) Piekalkiewicz, S. 104 (22) Darüber berichtet Bick in „Wissenschaftliche Untersuchung von Reinkarnationsphänomenen“, a.a.O., S. 26. (23) a.a.O., S. 113 (24) Ian Stevenson: Reincarnation and Biology: Birthmarks (1997); ders.: „Birthmarks and Birth Defects Coresponding to Wounds on Deceased Persons“, Journal of Scientific Exploration 7 (4) 1993, S. 403-410. (25) Brief vom 24.10.2000. (26) Brief vom 24.10.2000. (27) Brief vom 10.12.1942 an den Vater: “Ihr Herr Sohn ist in meiner Kompanie.” (28) Brief vom 2.9.1943 an Richard: “Lag vom 10.9.1942 bis 28.3.1943 in Afrika, dort durch Tiefflieger verwundet, dann auch noch ein Autounfall, Gehirnerschütterung. Sodann Afrika verlassen, vier Wochen im Lazarett in Rosenheim, anschließend 14 Tage Urlaub, dann nach Italien berufen.” (29) Ihn erwähnt Richard im Brief vom 15.9.1943 und fügt hinzu, Backes sei “vor vier Wochen auch hier stationiert gewesen” (30) In einem Brief vom 10.7.1944 bittet Arno die Familie um Richards Adresse. Arno wurde am 14.10.1943 in Italien verwundet, “rechtes Bein am Oberschenkel ist weg”. Titelbild: Tama66/Pixabay
- Ein Wiedergeborener auf Spurensuche
Im Jahre 2000 versuchte mich ein Familienvater davon zu überzeugen, woran er selbst felsenfest glaubte: Er sei ein wiedergeborener Bahnarbeiter aus Nebraska, der um 1910 tödlich verunglückte. Seine vermeintlichen Reinkarnationserinnerungen waren verblüffend detailreich, viele fand er bei aufwändigen Nachforschungen „bestätigt“. Trotzdem blieb ich skeptisch. Wie bei allen „früheren Leben“, die mir Erwachsene in den vergangenen Jahrzehnten offenbarten, so vermisste ich auch in seinem Fall zwingende Beweise. Es geschah an einem späten Samstagnachmittag im Jahre 1961, als Hans Fandel* im Garten arbeitete. Plötzlich setzte Regen ein. In Gummistiefeln, an denen reichlich feuchte Erde klebte, rutschte er auf den nassen Steinplatten aus. Dabei verdrehte er sich das Knie. Ein herbeigerufener Arzt setzte ihm eine schmerzstillende Spritze und drückte ihm Butazolidin in die Hand, einen Schmerzstiller und Entzündungshemmer. Bis zum nächsten Morgen, nach einer unruhigen Nacht mit höllischen Knieschmerzen, hatte Fandel ein paar Tabletten davon geschluckt. Kurz darauf brach er am Eingang zum Badezimmer bewusstlos zusammen - und durchlebte eine jener “außerkörperlichen Erfahrungen”, wie sie von Menschen in Todesnähe häufig berichtet werden: “Plötzlich fühlte ich mich ohne Gewicht, ohne Schmerzen, in einem unbeschreiblich leichten Zustand - ein wahrhaft himmlisches Gefühl. Wie später die Astronauten, so schwebte ich frei im Raum. Unter mir konnte ich die Erde mit ihrer blauweißen Aura sehen”. Unvermittelt wähnte er sich in ein “außergewöhnlich helles, warmes Licht” getaucht, zu dem er sich unwiderstehlich hingezogen fühlte. Aus ihm vernahm er “Stimmen wie von Menschen”, “dann wieder Gesang, wunderbar ruhig, glasklar, erhebend wie Partien aus Händels ‘Messias’.” Von dieser “unbeschreiblich tröstlichen Harmonie” fühlte er sich “regelrecht eingehüllt und unsäglich glücklich”. Aus dieser Glückseligkeit riss Fandel eine Dusche kalten Wassers, das seine Frau geistesgegenwärtig über seinen reglos am Boden liegenden Körper goss, um ihn zu reanimieren. Von jenem Moment an, so bekennt der Vater dreier Kinder, habe er jahrelang seinen Tod herbeigewünscht, getrieben von einer “dauernden inneren Sehnsucht nach diesem paradiesischen Zustand, den ich erlebt hatte”. Je präziser, desto echter? Fandels „Erinnerungen“ Just zu jener Zeit setzte eine Serie von sonderbaren, äußerst lebhaften Träumen ein: “Nacht für Nacht träumte ich erstaunliche Erlebnisse.” Allem Anschein nach bezogen sie sich auf Ereignisse vor seinem jetzigen Leben; dabei waren sie “sehr präzise”, so dass sie Hans Fandel “eine zeitliche und räumliche Zuordnung ermöglichten”. Er "sah" sich als norddeutschen Bauern, der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seiner Frau und drei Kindern in die Vereinigten Staaten auswandert; in Bremen besteigen die Emigranten ein Schiff namens "Garton", das sie nach New York bringt. In seiner zweiten Heimat stirbt der Familienvater bei einem Unfall in einem Eisenbahndepot in Omaha, Nebraska. Für Hans Fandel, Jahrgang 1932, einen Konstrukteur von Medizintechnik aus einem Vorort von Winterthur, steht Wiedergeburt inzwischen "völlig außer Zweifel". An Orte und Daten herausragender Ereignisse seines Vorlebens hat er verblüffend genaue "Erinnerungen". Und "weil ich als technisch ausgebildeter Mensch immer nach Beweisstücken suche", stellt der Schweizer Konstrukteur und Erfinder seit Jahren akribische Nachforschungen in deutschen und amerikanischen Quellen an. Unter anderem beschaffte er sich Geburts-, Heirats- und Einwanderungsdokumente, forschte in Kirchenarchiven und Akten von US-Eisenbahngesellschaften, bereiste mehrere mutmaßliche Aufenthaltsorte seiner Vorinkarnation, an der Ostsee, in Thüringen, in Oberbayern. Und tatsächlich: Schwarz auf weiß weist eine Passagierliste des New Yorker Hafens aus, dass am 1. Juni 1854 in Bremen an Bord eines Schiffes namens "Garton" ein damals 38-jähriger deutscher Bauer ging, dessen Familienname verblüffenderweise sogar mit dem von Hans Fandel identisch war: Johannes Gottlieb Fandel junior**, zusammen mit seiner sechs Jahre jüngeren Frau Dorothee sowie den Kindern Christiana (9), Daniel (7) und Adolph (4). Auch die Todesumstände seines "früheren Selbst" konnte Fandel derart präzise beschreiben und zeichnen, daß bei der US-Eisenbahngesellschaft Union Pacific recht schnell Dokumente aufzufinden waren, die bestätigen: In einem Lok-Depot in Omaha, Nebraska, war es seinerzeit tatsächlich zu einem Unfall jener Art gekommen, wie ihn Fandel "erinnert". Unsere Begegnung im Jahr 2000 So jedenfalls lautete Hans Fandels Geschichte, wie sie sich mir anfänglich darbot - aufgrund eines Briefs mit ein paar Aktenkopien, die ich von Fandel, nachdem er durch Presseberichte auf meine Veröffentlichungen zum Thema Reinkarnation aufmerksam geworden war, im Februar 2000 erhalten hatte. Ein erstes längeres Telefonat mit ihm kurz darauf deutete darauf hin, dass hier ein seltener, besonders spektakulärer Fall von “bestätigten” Reinkarnationserinnerungen vorlag. Die Esoterikszene würde ihn unbesehen als “Beweis für Wiedergeburt” feiern, sobald sie davon Wind bekäme. Im selben Telefonat kündigte mir Fandel die Zusendung eines dicken Stapels von “Beweismaterial” an, das er mittlerweile zusammengetragen hatte: akribische Aufzeichnungen seiner Reinkarnationsträume und ihrer Verifizierung, zusammen mit zahlreichen aufschlussreichen Dokumenten über sein “früheres Selbst”. Neugierig arbeitete ich mich durch die rund hundert Seiten, korrespondierte und telefonierte daraufhin mehrfach mit Hans Fandel; schließlich suchte ich ihn am 16. Oktober 2000 an seinem Wohnort auf. Je hartnäckiger ich nachfragte, desto illusionsloser wurde mein Bild von diesem Fall. Heute halte ich ihn für ein eindrückliches Lehrstück zur Entwicklungspsychologie „wiedergeborener Ichs“: An ihm zeigt sich, wie seelische Ausnahmezustände, soziale Verstärkung, Wunschdenken, selektive Wahrnehmung, rekonstruktive Erinnerung und Kurzschlüsse auf raffinierte, nur mühsam nachvollziehbare Weise zusammenwirken können, um vermeintliche Evidenzen für Wiedergeburt zu erzeugen und Betroffene, während sie “Nachforschungen” anstellen, schließlich von ihrer Triftigkeit zu überzeugen. Daher lohnt es sich, Fandels Fall unter die Lupe zu nehmen. Stutzig machte mich zunächst, dass der erste vermeintliche Reinkarnationstraum, den Fandel einer ausführlichen schriftlichen Aufzeichnung für wert befand, nicht weniger als 21 Jahre nach seinem Nahtodeserlebnis auftrat, nämlich 1982. Jenes Erlebnis selbst, so stellte sich bald heraus, hatte in Wahrheit keinerlei Rückblicke auf Vorleben enthalten; ebensowenig waren ihm derartige Rückblicke unmittelbar nachgefolgt. Was sollte es dann überhaupt mit seinen viel späteren Reinkarnationsträumen zu tun haben? Vielleicht löste es, in seiner nachhaltigen Eindrücklichkeit, eine radikale Veränderung von Fandels Blickwinkel auf “letzte Dinge” aus - und machte ihn geneigt, künftigen Erlebnissen, um sich herum wie in sich selbst, eine esoterische Deutung zu geben. Einschneidend genug war es dazu jedenfalls gewesen. Fandels mysteriöse Schiffsfahrt In jenem Traum von 1982 reiste Fandel auf stürmischer See auf einem “zur Vorderseite hin flachen Schiff, ähnlich einem Rhein-Transportschiff”, das aus Amsterdam kam. “Es mochte so gegen 22 Uhr gewesen sein.” Ein Uniformierter erklärte ihm, infolge des Sturms könne man nicht in Hamburg landen, weshalb man nach Lübeck weiterfahre, und steckte ihm einen Zettel mit der Adresse einer Unterkunft in Lübeck zu, in der man “auch nach Mitternacht noch ein Zimmer finden kann”. Ansonsten blieb Fandel von der unruhigen Schiffspassage nur noch im Gedächtnis, dass er sich über viele “große, lange, viereckige Gegenstände” wunderte, die “auf dem flachen Schiffsdeck festgezurrt waren”. Sie sahen wie Baumstämme aus - aber “wären sie nicht geschützter, wenn sie ungehobelt transportiert würden?”, so fragte er sich. Nach der Ankunft im Hafen “machte ich mich auf die Suche nach der auf dem Zettel notierten Unterkunft. Es war sehr dunkel. Um die Straßennamen an den Hausfassaden besser lesen zu können, musste ich immer wieder stehenbleiben und warten, bis das Mondlicht zwischen den Wolken durchbrach und die Straßenschilder erhellte”. Nach einem längeren, beschwerlichen Fußmarsch auf Kopfsteinpflaster erreichte er schließlich “ein Haus, dessen ungewöhnliche Fassade mit hohem Giebel gegen das Wasser schaute”. Eine ältere Frau öffnete: “Sind sie verheiratet?” Er bejahte. Erst jetzt realisierte er, dass er in weiblicher Begleitung war - “mit hohen Schnürstiefeln und einem Taftrock, der laut raschelte” -, offenbar seiner Ehefrau. Die Alte führte die beiden, ein Windlicht voraustragend, eine Wendeltreppe hinauf in ein großes Zimmer im obersten Stockwerk. Am folgenden Tag weckte ihn grelles Sonnenlicht. Er trat an ein großes, dreiflügliges Fenster, von wo aus sich ihm “eine prächtige Aussicht” bot: Vor ihm erstreckte sich der Hafen; er blickte “direkt auf eine gegenüberliegende Halbinsel”, mit “großen Beigen Rundholz vor den dortigen Holzschuppen”. In der Ferne “waren auffällig viele Kirchtürme mit spitzen Dächern” zu sehen. “Der Hausfassade entlang segelten Möwen”, Brotkrumen aufschnappend, die ihnen von Bewohnern der unteren Etagen zugeworfen wurden. Als er sich im Zimmer umsah, erkannte er d eutlich ein besonders großes, hohes Bett, das “an allen vier Ecken Türmchen trug”, welche jeweils “aus drei nach oben kleiner werdenden Kugeln bestanden”. Eine “schön gehäkelte Decke” lag darauf. Gleich nach dem Aufwachen fertigte Hans Fandel eine Strichzeichnung des Zimmers mit Aussicht an: Seiner Frau nannte er “die Straßennamen, die ich noch so in Erinnerung hatte”, nämlich drei: “Fischergrube”, “Beckergrube” und “Engelsgrube”. (Dies bestätigte mir Fandels Ehefrau im Gespräch vom 16. Oktober 2000.) Vor allem den Namen “Engelsgrube” empfand Fandel “nach dem Aufwachen als ganz lustig”, wie er sich erinnert: “Hatte man die Straße so genannt, weil Seeleute dort von ‘gefallenen Engeln’, nämlich Prostituierten, abgefangen worden sind?” Woher nahm Fandel die Gewissheit, dass dieser Traum mehr als ein Phantasieprodukt war, sondern Erlebnisse aus einem “früheren Leben” wiedergab? Ihn beeindruckte - eine “derartige Intensität”, die ihn “gleichzeitig erschreckte und ratlos machte”. - die Detailschärfe der Traumbilder, insbesondere hinsichtlich der Straßennamen, die er wiedergeben konnte. - sonderbare körperliche Empfindungen. Im Traum war Fandel, auf der Suche nach dem Seemannsheim, stundenlang auf kopfsteingepflasterten Gassen gelaufen. “Am Morgen danach war ich sehr müde, wie nach einer Bergwanderung, und spürte auch das gleiche Ziehen in den Waden.” Aber erleben nicht die meisten von uns Träume jeder erdenklichen Intensität und Detailliertheit, ohne uns je genötigt zu sehen, daraus esoterische Schlüsse zu ziehen? Und weil sich ein träumendes Gehirn nicht von der Physiologie des übrigen Körpers abkoppelt, verwundert es nicht weiter, dass nach dem Aufwachen manchmal Empfindungen nachwirken, die zu Trauminhalten passen. (Aus einem Wüstentraum können wir durchaus mit trockener Kehle aufschrecken.) Was veranlasste Hans Fandel, diesen drei Merkmalen ausgerechnet in seinem “Lübeck-Traum” besondere Bedeutung beizumessen? Erste „Bestätigungen“ machen Fandel sicher Mehrere Traumdetails schienen sich im nachhinein zu bestätigen. a) Zwei Jahre später, bei einem Kuraufenthalt auf Ischia 1984, begegnete er beim Baden am Thermalbecken zwei Damen, die gerade über ihre Heimatstadt Hamburg sprachen. “Da kam mir plötzlich eine Idee. Auf die Rückseite eines leeren Gemüsekartons, der von einem Haufen am Rande des Schwimmbeckens stammte, zeichnete ich meine Erinnerungen“ - an die Aussicht vom Traumzimmer aus – „und fragte sie, ob sie sagen könnten, wo der Ort sei. Beide erkannten sofort die Untertrave in Lübeck. Ein Irrtum sei absolut ausgeschlossen.” Ein paar Tage später wiederholte Fandel den Test bei einem Büronachbarn und dessen Frau, die in Lübeck aufgewachsen waren. Unabhängig voneinander identifizierten beide den Aussichtspunkt spontan als das Seemannsheim an der Untertrave in Lübeck. b) Im März 1985 reiste Fandel voller Neugier nach Lübeck, wo er die gut erhaltene, immer noch kopfsteingepflasterte Altstadt durchwanderte. Vieles kam ihm vertraut vor, obwohl er nie zuvor dort gewesen war. c) Zuallererst suchte er an der Untertrave nach dem Seemannsheim, in dem ihn sein Traum hatte übernachten lassen - und fand es tatsächlich. “Im dritten Stock entsprach der Blick aus dem Fenster in etwa meiner Zeichnung.” d) Bei einem anschließenden Besuch im Lübecker Rathaus fiel ihm ein Bild einer Kogge auf - des berühmten Handelsschiffs der Hanse, eines 1356 förmlich besiegelten Zusammenschlusses mehrerer Hafenstädte an Nord- und Ostsee. Dieses Schiff, so erläuterte ihm ein Reiseführer, sei zwischen 1680 und 1730 zum Transport von holländischem Sandstein für die Lübecker Sakralbauten eingesetzt worden, vor allem ab Amsterdam. “Endlich wusste ich, was es mit den viereckigen ‘Baumstämmen’ auf sich hatte. Das waren also Sandsteinquader.” Die Schiffe hätten “hin und wieder auch Passagiere mitgenommen”, so erfuhr er. d) Auf einem alten Stadtplan fand Fandel die Namen vieler Lübecker Straßen und Gassen wieder, die er im Traum durchschritten hatte. (Viele heißen noch heute so wie im Mittelalter.) Eine “Engelsgrube”, “Fischergrube” und “Beckergrube” gab es tätsächlich - allesamt in unmittelbarer Nähe der Untertrave. Wer vom Hafen aus zum Seemannsheim wollte, musste sie passieren. Verkannte Ungereimtheiten Etliche Ungereimtheiten hätten Fandel von vornherein davor bewahren können, den Traum für bare Münze zu nehmen, für ein getreues Abbild historischer Ereignisse. Wenn ein von Amsterdam kommendes Schiff kurz vor seinem Bestimmungsort Hamburg in einen Sturm gerät: Fährt es irrwitzigerweise dann weiter nach Lübeck? Der Nord-Ostsee-Kanal, der die Elbbucht mit der Kieler Förde verbindet, besteht erst seit 1919. Der Kapitän hätte also um Dänemark herumfahren müssen, um nach Lübeck zu gelangen. Im Traum hingegen verstrichen von der Mitteilung des Kapitäns, man fahre nach Lübeck weiter (“so gegen 22 Uhr”), bis zur nächtlichen Ankunft in Lübeck nur wenige Stunden. Wer jemals leibhaftig eine Schiffspassage Hamburg-Lübeck mitmachte, kann schwerlich annehmen, beide Städte wären einander unmittelbar benachbart. Eher spiegelt eine solche Annahme die mangelhaften Geographiekenntnisse von jemandem wieder, der die beiden Städte nur aus der Ferne kennt - so ähnlich wie bei einem japanischen Touristen, für den Schloss Neuschwanstein gleich hinter dem Eiffelturm liegt, ehe er dort war. Wenn Fandel tatsächlich Passagier einer Kogge war - nur so kann er sich die mittransportierten Sandsteinquader erklären, die er zunächst mit gehobelten Baumstämmen verwechselt hatte -, so reiste er jedenfalls nicht auf einem Schiff, das “zur Vorderseite hin flach war, ähnlich einem Rhein-Transportschiff”. Zum charakteristischen Aussehen der Kogge gehörten hohe, runde Bordwände und ein kurzer, gedrungener Zuschnitt. Sandsteintransporte mit Koggen fanden in der Zeit zwischen 1680 und 1730 statt, wie Fandel erfahren haben will, als er durchs Lübecker Rathaus geführt wurde. Sollte er bei einem solchen Transport wirklich dabeigewesen sein, so jedenfalls nicht in einem Leben, das er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Amerika verbrachte. Nach anderen Quellen verkehrte die Kogge vornehmlich im 13. bis 15. Jahrhundert; in dieser Zeit entwickelte sie sich zum beherrschenden Handelsschiffstyp Nord- und Westeuropas. Mit Beginn des 15. Jahrhunderts jedoch wurde sie von der geräumigeren Hulk abgelöst, später durch die Karavelle. Dann aber kann Hans Fandel, wenn er in einem früheren Leben Koggenpassagier gewesen wäre, erst recht nicht in derselben Inkarnation 1854 nach Amerika ausgewandert sein. (1) Als Fandel nachts beim Seemannsheim anlangte, fiel ihm dessen “ungewöhnliche Fassade mit hohem Giebel” auf. Ein solches Erscheinungsbild wäre für die Lübecker Altstadt gewiss nichts Ungewöhnliches; die Außenfassade des Hauses freilich, die Fandel als seine einstige Unterkunft wiedererkannt haben will, sieht heute ganz anders aus. Die geträumte Ausstattung von Fandels Lübecker Zimmer, besonders seines Betts, mutet für ein Seemannsheim, zumal im 17. oder 18. Jahrhundert, allzu komfortabel an. Hübsch verzierte Bettpfosten, eine “schön gehäkelte” Decke entsprechen eher der schlichten Gemütlichkeit einer Alpenpension. Die geträumte Aussicht zweifelsfrei der Lübecker Untertrave zuzuordnen, dürfte nicht jedem so leicht fallen wie anscheinend den drei Ortskundigen, denen Fandel testweise seine Zeichnung vorlegte. In Städten an Nord- und Ostsee dürfte es Hunderte von Ausblicken geben, die nicht schlechter “passen”. Zu einer traditionsreichen Hansestadt gehört ein Seemannsheim ebenso wie eine Hafenspelunke, eine Kaimauer oder ein Lagerhaus. Entsprechend fündig wird man garantiert, auch ohne wegweisenden Wahrtraum. Aber wie steht es mit den “erinnerten” Straßennamen, den Déjà-vu-Erlebnissen von Hans Fandel beim Gang durch Lübeck? Lübeck, mit seiner vom Krieg weitgehend verschont gebliebenen Altstadt, zählt unbestritten zu den schönsten Deutschlands; nicht von ungefähr wird es von der UNESCO als “Weltkulturdenkmal” eingestuft. Unzählige Dokumentarfilme und Reportagen in Reiseteilen von Zeitungen, Bildbände und Zeitschriftenartikel, Postkarten und Plakate sind ihm gewidmet worden. Ist auszuschließen, dass Fandel wenigstens eine dieser Quellen zugänglich war - woraufhin er im Traum daraus schöpfte? Liegt also Kryptomnesie vor: die überraschende Wiederkehr vergessener oder verdrängter Erinnerungen aus diesem Leben? (2) Die gleichen Fragen hätte sich Hans Fandel, einst ein bodenständiger, nüchterner Klardenker, vor 1961 vermutlich selber gestellt. Aber seit seiner “Nahtodeserfahrung”, einem der einschneidendsten Ereignisse seines Lebens, mochte er nichts Wundersames mehr ausschließen - und darin bestärkten ihn spätere Begegnungen mit zahlreichen Personen, die er als glaubhaft empfand. Ein Arbeitskollege im Konstrukteursbüro überraschte ihn mit einer eigenen “Erinnerung” an ein früheres Leben als Soldat, der vor 150 bis 200 Jahren in einem polnischen Kloster gesundgepflegt wurde. Ein katholischer Pastor, den Fandel im Lübecker Seemannsheim traf, verblüffte ihn mit einem persönlichen Bekenntnis zur Wiedergeburt. 1985 nahm Fandel an einem dreitägigen Seminar über Reinkarnation teil, das der Schweizer Esoterikpapst Hans-Dieter Leuenberger abhielt. Dem Zürcher Lebensberater Alexander Gosztonyi, einem in Schweizer Esoterikkreisen hochgeachteten Reinkarnationsverfechter (3), reichte Fandel einen dicken Aktenordner zur Begutachtung ein; von dort erhielt er die lobende Rückmeldung, die Unterlagen seien “sehr interessant”, sowie die Empfehlung, durch eine “Rückführung” die Erinnerungen weiter zu “klären”; Gosztonyi könne sich vorstellen, “dass ein Buch zu einem großen Erfolg führen könnte”. (4) Auch “viele Fachbücher und Sendungen halfen mir weiter”, wie Fandel bekennt - weiter auf dem Weg zum überzeugten Reinkarnationsgläubigen, bei dem sich die Erfahrung der Überzeugung zu fügen hat. Gedächtnisspuren eines Vorlebens in Amerika Aber wie kommt Hans Fandel auf sein “deutsch-amerikanisches” Vorleben? Ob der Lübeck-Traum überhaupt etwas damit zu tun hat, blieb offen. Das erste “Indiz” hielt Fandel im September 1996 schriftlich fest; es betrifft einen weit zurückliegenden Vorfall aus dem Jahre 1951, dem er anscheinend erst jetzt Bedeutung beimaß. Damals besuchte er in der Gewerbeschule einen Englischkurs. Sein Lehrer war nach einem längeren USA-Aufenthalt gerade wieder in den Schuldienst zurückgekehrt. Er verteilte in der Klasse einen mitgebrachten Stapel Zeitungen. Daraus musste jeder Schüler einen kleinen Abschnitt laut vorlesen. Fandels Versuche sollen den Lehrer völlig verblüfft haben: Er habe “stilreinen Nebraska-Dialekt” gesprochen, “vor allem bei den Wortendungen” - ob er Verwandte dort habe oder dort schon längere Zeit verbracht habe? “Dieser Vorfall”, erklärt Hans Fandel, “hat in mir die Vermutung geweckt, dass ich einmal in Nebraska gewesen sein müsste.” Fortan hoffte er, “Zusammenhänge zu finden in Bezug auf eine beweisbare Existenz meiner Person mit den Stationen Amsterdam, Lübeck, USA”. Nebenbei bemerkt: Als ich Hans Fandel besuchte, ließ ich ihn zur Probe einen englischen Zeitungstext vorlesen; weder mir noch meiner Begleiterin fiel auf, dass seine Aussprache von der eines anderen Schweizers nennenswert abwich. Außer einer helvetischen Dialektfärbung hörten wir nichts Auffälliges heraus. Unter dem Eindruck seines Lübecker Traums maß Fandel nun Träumen allgemein allergrößte Bedeutung bei: Jeder von ihnen stand nunmehr im Verdacht, Spuren von Reinkarnationserinnerungen zu enthalten - erst recht dann, wenn in sie Bezüge zu Amerika, vor allem zu Nebraska, hineinzudeuten waren. Und solche Träume ließen nicht lange auf sich warten. In einem ersten "amerikanischen Traum" ist Fandel als Beifahrer in einem alten Auto auf einer steilen Bergstraße unterwegs. Schließlich parkt er auf einem gekiesten Platz. Hundert Meter entfernt stehen, in leichter Hanglage, drei alte Blockhäuser. Gleich neben dem Eingang des vorderen Hauses hängt eine rechteckige Gedenktafel aus Bronze, auf der in Englisch zu lesen steht, die drei Häuser seien der Rest einer ehemaligen Auswanderersiedlung. (“Nach dem Aufwachen”, versichert Fandel, “konnte ich meiner Frau den Text Wort für Wort rezitieren. Hingegen war ich mir bei der unten angebrachten Jahreszahl nicht mehr im Klaren; die ersten beiden Ziffern waren 18, die letzten zwei waren mir nicht mehr präsent”.) Hinter dem Haus, an dem ein Bach vorbeifließt, ist ein großes, unterschlächtiges Wasserrad angebracht. Zunächst wundert sich Fandel im Traum, wie ein solch kleines Rinnsal imstande sein könne, das große Wasserrad anzutreiben. Doch dann erblickte er weiter hinten im Tal eine Bogenstaumauer. Für Fandel enthielt dieser Traum zwei entscheidende Hinweise. Bei dem Auto, in dem er saß, “musste” es sich um einen Ford gehandelt haben - “gut erkennbar an der schräggestellten Scheibe vorne, die als Regenabweiser gute Dienste geleistet hat”. - Bogenstaumauern sind in Europa erst ab 1920 gebaut worden. Doch offenbar spielte der Traum in den USA, wie die Häuserarchitektur, der Autotyp und die Gedenktafel vermuten ließen. Und dort entstanden bereits ab 1850 zahlreiche Bogenstaumauern - dreizehn allein in Nebraska, wie Fandel. im Eidgenössischen Amt für Wasserbau in Zürich recherchierte. Und nach dem Staunen seines Gewerbeschullehrers über seinen “Nebraska-Dialekt” konnte der Traum nur von einem früheren Leben in diesem US-Bundesstaat handeln. In einem zweiten Traum befindet sich Fandel in einem großen Lokomotivdepot. Dort stehen mehrere Dampfloks mit markanten Stoßstangen, aufgereiht auf kurzen Gleisstücken. (Auch hiervon fertigte Fandel eine Zeichnung an: Mehrere Arbeiter, darunter auch Fandel, sind dort mit Wartungs- und Reparaturarbeiten beschäftigt. Dabei prägt er sich vor allem die Konstruktion von Kurbellagern ein: “Vor einer imposanten Maschine waren Holzböcke aufgestellt. Zwei Arbeiter hoben eine Kurbel von den Achsen, trugen sie auf die Holzböcke und legten sie so darauf, daß die Bohrungen nach oben zeigten. Diese wurden unten verschlossen. Dann traten zwei andere Arbeiter hinzu und ließen aus einer kleinen Gußpfanne flüssiges Material in die Bohrungen laufen.” Nun besteigt Fandel eine stark verschmutzte Lok, um sie zu säubern. Dabei gleitet seine rechte Hand an einem Klumpen Schmierfett ab, das an der blanken Röhre klebt. Er verliert den Halt und stürzt zu Boden. Im selben Moment, als er unten aufschlägt, endet der Traum abrupt. Hatte Fandel hier die Todesumstände seines früheren Selbst geträumt? Ihn plagten keine Zweifel daran, zumal er nach diesem Traum an rätselhaften, heftigen Kopfschmerzen litt, die mehrere Tage anhielten. Hatte die “Reinkarnationserinnerung” den Schmerz der tödlichen Verletzung von damals zurückgeholt? Klar war für Fandel darüber hinaus, dass auch dieser Traum in den USA spielte. Dafür sprachen typische Einzelheiten der Lokomotive: das als “Kuhfänger” bekannte Gitter davor, der konische Kamin, die viereckige Lampe vor dem Kamin. Wann? Im 19. Jahrhundert. Denn im Traum hatte Fandel einen Arbeitsvorgang beobachtet, bei dem es sich anscheinend um die Konstruktion von Kurbellagern handelte. (Erst um die Jahrhundertwende wurden sie von Kugellagern abgelöst. Vorher mussten die Lagerstellen mit Weißmetall - einer Mischung von Zinn, Blei, Kupfer und Zink - ausgegossen werden.) Wo? Wiederum suchte Fandel von vornherein nur in Nebraska. Dort wurde er fündig: In Omaha hatte die Union Pacific-Eisenbahngesellschaft am 10. Mai 1869 ein Depot eröffnet, das 1910 wieder abgebrochen wurde. In einem Internet-Bildarchiv stieß er auf mehrere Außenaufnahmen eben dieses Depots - und war sich “sicher, dass verschiedenste Baumerkmale mit meiner Rückerinnerung übereinstimmen”. Aber könnte jenes Depot nicht überall in den Vereinigten Staaten gestanden haben, wo sich das Schienennetz ausbreitete? Abgesehen von der wiederum vorschnellen Einengung der Suche auf Nebraska machte mich ein weiteres Detail stutzig: Wer eine Erfahrung macht - sei es in wacher Wahrnehmung oder im Traum -, muss nicht zwangsläufig die richtigen Worte dafür haben. (Befände ich mich in einem Lokdepot, wäre ich schwerlich imstande, Arbeiten an Kurbellagern und Kugellagern auseinanderzuhalten.) Die Begriffe jedoch, die Fandel in der Schilderung seines Lokdepot-Traums verwandte, zeugten in dieser Hinsicht von beträchtlichem Expertenwissen. Hatte er sich früher schon einmal eingehender mit dem Eisenbahnwesen befasst? (Zumindest in seiner Generation war für mindestens jedes zweite Kind Lokführer noch der Traumberuf.) “Ich habe zwar Freude an Eisenbahnen, bin aber kein Fan”, erklärte mir Fandel daraufhin. “Als Bub hatte ich eine Aufzieh-Eisenbahn.” Aus seinem dritten “amerikanischen Traum” erwachte Fandel am Morgen des 16. August 1996: Ein Bauer führt ihn in einen verlassenen Schuppen. Dort zeigt er ihm einen alten, von Spinnweben überzogenen Pferdewagen mit Speichenrädern, einer riesigen Ladebrücke und Kutscherbock. “Auf beiden Seiten der Ladefläche waren Deckel eingelassen. Durch Zug an einem Strick ließ sich jeder Deckel hochklappen, so daß er eine Rückenlehne bildete, und einen eingelassenen Sitz hochziehen. Mitfahrer konnten so Platz nehmen, statt in unbequemer Stellung lange Fahrten machen zu müssen; benötigte der Bauer diese Zusatzsitze nicht, so konnte er die gesamte Laderfläche wieder belegen. Der Mechanismus und die Konstruktion faszinierten mich.” Fandel hielt sie in einer Zeichnung fest: Dass auch dieser Traum in den USA spielte, schien Fandel klar, als er unter einem Stapel alter Säcke, die auf der Ladefläche des Pferdewagens lagen, eine vergraute Ledertasche fand. Darin fand er zehn Goldmünzen, “mit einem Durchmesser von ungefähr 8 bis 10 Zentimetern und etwa 5 Millimeter dick. Auf der Oberseite konnte ich einen Adler mit ausgebreiteten Flügeln erkennen. An weitere Aufschriften kann ich mich nicht erinnern.” Bei einem Münzhändler in Winterthur blätterte Fandel daraufhin neugierig in Bildkatalogen amerikanischer Goldmünzen, sogenannter “Eagles”. Alle waren aber deutlich kleiner als geträumt, nämlich mit etwa 6 Zentimetern Durchmesser. Daraufhin äußerte Fandel, er habe aber schon viel größere gesehen - woraufhin der Numismatiker meinte: Was Fandel offensichtlich in den Händen gehabt habe, sei eine Münze, die in den USA noch vor der offiziellen Münzprägung um 1731 hergestellt worden war; sie werde als “Kolonialgold” bezeichnet. “Meine Erinnerung”, schloß Fandel daraus, “hat mich also auch diesmal nicht getäuscht.” Sein vierter “amerikanischer” Traum führte ihn 1998 in ein Backsteingebäude, in dem lange Arbeitstische aufgestellt waren. Alle paar Meter war eine senkrecht stehende Achse montiert. Darauf konnten die Naben von Wagenrädern gesteckt werden. Ein Vorarbeiter, der Deutsch sprach und aus der Schweiz stammte - genauer gesagt, aus dem Berner Oberland -, erklärte Fandel, was er zu tun hatte. “Ich musste die Enden der Wagenradspeichen in Heißleim tauchen, der in großen Kübeln kochte und einen unangenehmen Geruch verbreitete. Mit kräftigen Hammerschlägen wurden die Speichenenden dann in die Nabe getrieben. Waren alle Speichen montiert, klopfte man gebogene Radsegmente auf die Speichenenden.” Der Traum endet mit einem Gespräch, in dem Fandel den Vorarbeiter fragt, ob es möglich sei, sich über den Sonntag Fahrräder zu mieten, um die Umgebung zu erkunden. Obwohl in diesem Traum jeder Amerika-Bezug fehlt, wurde er von Hans Fandel entsprechend gedeutet. Im August 1999 folgte ein fünfter “amerikanischer” Traum: “In stockdunkler Nacht stand ich auf freiem Feld am Rande eines Bahngeleises. Keine Bahnschranke, kein Feldweg führte über die Geleise. Von weit her hörte ich das Herannahen eines Zuges. (...) Es waren rund 25 Wagen, offenbar leer.” Fandel “erkannte” den Lokomotivtyp sofort: Er schien ihm identisch mit jenem, an dem er im Depot gearbeitet hatte und abgestürzt war. “Dieser Traum”, notiert Fandel, “ist nichts anderes als ein Erinnerungsfetzen aus einem Vorleben. Scheinbar hat diese Erinnerung keinen besonderen Zweck. Für mich ist sie aber ein kleiner Mosaikstein in einem Bild, das seinen Zweck vielleicht erst später offenbart.” Gehörten all diese Träume denn zu ein und demselben Mosaik? Bezogen sie sich auf ein Leben im 19. Jahrhundert in Nebraska? War dieses Leben sein eigenes? All dies waren von Anfang an die fragwürdigen, von den angestellten Nachforschungen nicht annähernd gedeckten Voraussetzungen Fandels auf seiner Identitätssuche. Zum Beispiel: Falls “er” tatsächlich in jenem Lok-Depot von Omaha, das er auf Fotos “wiedererkannt” haben will, tödlich verunglückte, so muss sich der Unfall vor 1910 zugetragen haben; in jenem Jahr nämlich wurde das Depot abgerissen und seither nicht wieder aufgebaut. In einem Ford andererseits, wie er im “Staumauer-Traum” vorkam, kann Fandel frühestens 1908 gefahren sein - erst dann lief die Massenproduktion des berühmten Modells T an. Dann aber kann das Auto nicht “alt” gewesen sein, wie er im “Staumauer-Traum” erlebte, sondern eher nagelneu. Sicherlich dürfen wir Hans Fandels Träumen nicht schon deshalb jegliche paranormalen Anteile absprechen, weil uns Inkonsistenzen auffallen. Auch bei Träumen, die offenkundig reale Geschehnisse nachvollziehen, kommen regelmäßig Verzerrungen und Auslassungen, zeitliche Dehnungen und Verdichtungen vor. Eben dieser Umstand sollte Fandel und andere Wiedergeburtsgläubige davor bewahren, vermeintliche Reinkarnationsträume bis ins kleinste Detail als getreue innere Abbilder realer Geschehnisse anzusehen. Wer war Fandels „früheres Selbst“? Welche Vorgeschichte hatte Fandels “früheres Selbst”? Im vierten Traum verstand es Deutsch - also musste es wohl aus dem deutschen Sprachraum eingewandert sein. Aber woher? Die Suche erleichtert hätte es Hans Fandel, wenn zumindest in einem der Träume “sein” früherer Name gefallen wäre. Daran hatte er aber keinerlei Erinnerung. Trotzdem ist er sich sicher, dass er damals genauso hieß wie heute. Wie kommt er darauf? Dazu verleitete ihn Ahnenforschung, mit der er Ende 1996 begann - und ein Aha-Erlebnis nach dem anderen provozierte. Mit Hilfe der Mormonen-Gesellschaft in Zürich, die an ihrem Hauptsitz in Utah Milliarden Personendaten gespeichert hat, fand Hans Fandel zunächst heraus, dass die Fandels überwiegend aus Thüringen stammten. Als Herkunftsorte wurden immer wieder Orte wie Gneus, Großbockedra, Kahla genannt. Noch im Dezember 1996 erhielt Fandel von der Stadtverwaltung Stadtroda die Mitteilung, im Jahre 1854 seien 42 Personen aus den genannten Dörfern ausgewandert. Waren etwa auch Fandels darunter? In der Tat. Das Thüringische Staatsarchiv Altenburg bescheinigte am 30.12.1997: Im Februar 1854 waren “Johann Gottlieb Fandel jun., 38 J., mit Frau Dorothee, 32 J., und Christiane, 8 J., Daniel, 6 J., und Adolph, 3 3/4 Jahre, von Großbockedra” ausgewandert. Aber wohin waren sie ausgewandert? “Nach Amerika”, stand schwarz auf weiß in einer Amtlichen Bekanntmachung des “Herzoglich-Sachsen-Altenburgischen Amts- und Nachrichtenblatts” No. 18 vom 11.2.1854, S. 185, von der das Thüringische Staatsarchiv Fandel eine Kopie zusandte. Wie kamen die Fandels nach Amerika? Unermüdlich recherchierte Hans Fandel weiter - und machte 1998 mit Hilfe der Universität Oldenburg tatsächlich eine Passagierliste ausfindig, auf der die Namen des Ehepaars Johann Gottlieb und Dorothee Fandel sowie seiner drei Kinder auftauchen. Sie stammt aus dem Jahre 1854, wurde im Hafen von New York aufgestellt und führt alle 456 Passagiere der “Garton” auf - unter ihnen die fünf Fandels. Allerdings kann es sich bei diesen Fandels nur um Namensvettern gehandelt haben, keinesfalls um genetische Vorfahren. Hans Fandels eigener Stammbaum führt nämlich ins Allgäu, in die Nähe von Kempten: Dort, in einem Dorf namens Wiggensbach, lebten seine Ahnen über vier Generationen, ehe sein Großvater um 1900 in die Schweiz übersiedelte. Also, folgert Hans Fandel zurecht, “können meine Reinkarnationsträume nicht genetisch bedingt sein”. In jüngster Zeit konzentriert sich Fandel mehr und mehr darauf, nach Spuren zu fahnden, die Johann Gottlieb Fandel nach seiner Ankunft im New Yorker Hafen hinterließ. Dabei hofft er, in Nebraska fündig zu werden - und herauszufinden, ob Johann Gottlieb Fandel zumindest in ein paar Ereignisse jener Art verwickelt gewesen war, um die seine Träume kreisten - vor allem, ob er unter den geträumten Umständen tödlich verunglückte. Wie Hans Fandel inzwischen recherchierte, leben heute allein in Omaha, Nebraska, 15 Familien und Einzelpersonen, die den Namen “Fandel” tragen. Könnte es nicht sein, daß einer von ihnen von Johann Gottlieb Fandel abstammt - und weiterhelfen kann? Selbst wenn Hans Fandel derart fündig würde, ist wenig wahrscheinlich, dass auf Johann Gottlieb Fandel passt, was die “amerikanischen” Träume beinhalten. In jenen Träumen lebte und starb ein Bahnarbeiter. Johann Gottlieb Fandel hingegen war in seiner alten Heimat Bauer gewesen, wie die meisten deutschen Emigranten jener Zeit, “und es war nur natürlich, dass sie nach ihrer Ankunft in Amerika ihren alten Beruf wieder aufnahmen”, zumal dort nach der Indianervertreibung Land im Überfluss vorhanden war - auch und gerade in Nebraska mit seinen 200.000 Quadratkilometern fruchtbaren Bodens. (Noch 1846 hatten auf dem erst acht Jahre später festgelegten Territorium Nebraskas nahezu ausschließlich Omahas, Otoes, Poncas, Pawnees und Sioux gelebt.) (5) Welchen Grund sollte es für Johann Gottlieb Fandel gegeben haben, sich bei der Union Pacific als Bahnarbeiter zu verdingen, anstatt gemeinsam mit seiner Frau und den drei Kindern eine Farm zu bewirtschaften? Überhaupt fällt auf, dass die Familie in sämtlichen “amerikanischen” Träumen keinerlei Rolle spielt; in ihnen agiert einer, der Single sein könnte. Daran lassen sich trefflich die kühnsten Spekulationen anknüpfen: Kam die Familie womöglich kurz nach der Einwanderung bei einem Überfall rachsüchtiger Indianer, oder weißer Banditen, um? Wurde dabei vielleicht die Farm abgefackelt, woraufhin Johann Gottlieb Fandel beschloß, woanders ganz neu anzufangen, statt auf den rauchenden Trümmern einen zweiten Anlauf als landwirtschaftender, einsamer Witwer zu wagen? Oder wurde die Existenzgrundlage der Familie durch jene Heuschreckenplage biblischen Ausmaßes vernichtet, die Nebraska 1874 heimsuchte - woraufhin sie ihren Hof aufgab und das Familienoberhaupt bei der Bahn Zuflucht suchte? Wo nichts gewiss ist, darf alles gemutmaßt und geglaubt werden. Gesetzt der Fall jedoch, es fände sich zu guter letzt ein Johann Gottlieb Fandel, von dem sich bestätigen würde, dass er einst in all jene Vorfälle involviert war, von denen Hans Fandel so lebhaft träumte: Wäre damit “bewiesen”, dass Hans Fandel und Johann Gottlieb Fandel ein und dasselbe Ich in verschiedenen Körpern sind - dass Johann Gottlieb Fandel in Hans Fandel reinkarnierte? Auch dann würden andere Erklärungen - etwa durch verschiedene Formen außersinnlicher Wahrnehmung - unwiderlegt bleiben. (6) Doch die Chancen, dass Hans Fandel auf seiner Suche überhaupt so weit kommt, stehen schlecht. Dass es in seinen “amerikanischen” Träumen ausgerechnet um Episoden aus dem Vorleben eines Namensvetters in Nebraska gehen sollte, ist eine ziemlich aus der Luft gegriffene Hypothese, die sich auf ein einziges Faktum stützt: Irgendein Fandel emigrierte, urkundlich zweifelsfrei belegt, Mitte des 19. Jahrhunderts nach Amerika, und bis heute finden sich in Nebraska mindestens ein, zwei Dutzend Personen, die “Fandel” heißen. Aber zog es Johann Gottlieb Fandel mit den Seinen überhaupt nach Nebraska? Mitte Juli 2000 machte Hans Fandel eine frustrierende Entdeckung: In Dokumenten einer Volkszählung von 1856 machte er Johann Gottlieb Fandel, zusammen mit einem Kind, ausfindig - leider nicht in Nebraska, sondern in Dakota. Und ohne die Voraussetzung der Namensgleichheit verschwindet die Stecknadel vollends in einem interkontinentalen Heuhaufen. Im vorigen Jahrhundert, vor allem nach 1840, wanderten Hunderttausende von männlichen, deutschsprachigen Europäern in die Vereinigten Staaten aus: Schätzungen zufolge 800.000 in jedem der darauffolgenden sechs Dekaden. Im Jahre 1900 registrierte die zwölfte US-Volkszählung 2.663.418 gebürtige Deutsche. Schon 1909 lebten zwölf Millionen Deutschstämmige und deren Nachkommen in den Vereinigten Staaten. (7) Auf welchen passen alle oder wenigstens ein paar von Fandels “Reinkarnationsträumen”? Selbst wenn sich irgendein Hans Müller/John Miller oder Wilhelm Schmidt/William Smith ausfindig machen ließe, könnten Übereinstimmungen zwischen dessen Biographie und Fandels Traumdetails rein zufällig zustandegekommen sein - wobei die Zufallswahrscheinlichkeit wächst, je mehr deutschstämmige Amerikaner als potentielle “frühere Ichs” in Frage kommen. Aber auch wenn Fandels “amerikanische” Träume reine Phantasieprodukte wären, ist durchaus nachvollziehbar, wie er dazu kommt, sie für mehr zu halten. Wie Umfragen wiederholt zeigten, sind Träume, denen Menschen eine paranormale Deutung geben, fast immer außergewöhnlich lebhaft, intensiv und “hartnäckig” - sie haften besonders lange in der Erinnerung, beschäftigen und “verfolgen” den Betreffenden meist noch tagelang. Insofern unterscheiden sie sich von gewöhnlichen Traumbildern - und erscheinen als etwas ganz Besonderes. (8) Sind sie dies nicht auch, wenn man bedenkt, wie seltsam oft in Fandels Träumen “amerikanische” Motive auftauchten? Aber “Häufigkeit” ist ein relativer Begriff. Bei durchschnittlich drei bis sechs Träumen, die jeder von uns Nacht für Nacht durchlebt, hat Fandel allein in den vergangenen fünf Jahren rund fünf- bis zehntausendmal geträumt, wovon ihm bestimmt mehrere hundert kurz nach dem Aufwachen noch präsent waren. Obgleich darunter möglicherweise nicht weniger Flug- als US-Träume waren, sah sich Fandel jedoch nie veranlasst, eine Vorinkarnation als Pilot in Erwägung zu ziehen. Offenbar selektierte er Traumerinnerungen von vornherein danach, ob sie zur Nebraska-Vermutung passten oder nicht. Zu bedenken ist außerdem, dass sich unsere Traumwelten durchaus nicht abgeschottet davon entfalten, was wir erleben und denken, wollen und fühlen, bevor und nachdem wir in sie eintauchen. In unseren Träumen verarbeiten wir häufig “Tagesreste”; wen tagsüber Gedanken an ein mögliches früheres Leben in Amerika umtreiben, der erhöht die Chance, daß daraus in den folgenden Nächten Traumstoff wird. Zudem fühlte sich Fandel “zu Amerika schon als Kind hingezogen”, wie er einräumt. (9) “Ich kann mich noch erinnern, daß ich in der fünften Klasse einmal eine umfangreiche Liste schrieb, was für Werkzeuge ich mitnehmen müßte, um mir eine erste Unterkunft zu bauen. Diesen Gedanken habe ich aber recht schnell wieder verworfen, denn ich sah ein, dass das Gewicht viel zu groß wäre, und dass ich sowieso nichts mitnehmen müsste, weil alles Werkzeug in den USA vorhanden wäre.” Hat Fandels Affinität zu Amerika, die ebensogut von Büchern und Filmen herrühren könnte, Reinkarnationsphantasien miterzeugt? Oder klingt in dieser Affinität wahrhaftig ein früheres Leben nach, wie Esoteriker mutmaßen würden? Im Zweifelsfall, lehrte schon der Philosoph Occam, sollten wir der ontologisch sparsameren Hypothese stets den Vorzug geben. Wie moderne Gedächtnisforschung ferner zeigt, ist Erinnern keineswegs ein getreu abbildender Vorgang, sondern in höchstem Maße rekonstruktiv. Was wir erlebt haben, ordnen, benennen und deuten wir fortwährend neu, wann immer wir uns darauf besinnen. Für Geträumtes gilt dies noch mehr als für Wahrgenommenes. Denn typischerweise sind Trauminhalte bruchstückhaft, zusammenhanglos - sie müssen aufeinander bezogen und aneinandergereiht werden, ehe daraus eine Geschichte entsteht, die Sinn macht. Hans Fandel wäre der erste, der dagegen gefeit bliebe. Die Gefahr, dass Erlebtes rekonstruktiv verzerrt wird, wächst mit der Zeit, die zwischen Erlebnis und Erinnerung verstreicht. Und zwischen Fandels “amerikanischen” Träumen und ihrer Niederschrift liegen teilweise immerhin mehrere Jahre. Am ehesten erinnern wir uns an Träume, die unmittelbar vor dem Aufwachen auftraten. “Aufwachen” wird dabei oft als abrupt einsetzendes Ereignis missverstanden. Zumindest wenn wir nicht durch äußere Umstände plötzlich aus dem Schlaf gerissen werden, durchlaufen wir dabei einen allmählichen Prozess mit fließenden Übergängen zwischen mehreren Dämmerzuständen, ehe wir ganz wach sind. In dieser Übergangsphase, unmittelbar bevor das volle Tagesbewusstsein zurückkehrt, treten manchmal Halbschlafhalluzinationen auf, die von Schlafforschern als “hypnopompe Bilder” bezeichnet werden. Da sie in größerer Nähe zum Tagesbewusstsein auftreten, werden ihre Inhalte vermutlich noch stärker als Nachtträume von diesem mitkreiert und geprägt. Ein Geist, der tagsüber obsessiv um Wiedergeburt, Amerika und Eisenbahn kreist, will Hypnopompes mitgestalten, das dazu passt. Am Ende kondensiert eine riesige Wolke Esoterik zu einem Tröpfchen Psychologie. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen * ein Pseudonym ** entsprechend angepasstes Pseudonym (1) Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Band 14, Mannheim 1975, korrigierter Nachdruck 1980, S. 25. (2) Näheres zum Phänomen der Kryptomnesie in Harald Wiesendanger: Zurück in frühere Leben - Möglichkeiten und Grenzen der Reinkarnationstherapie (München 1991, erw. Neuaufl. 2003). (3) Alexander Gosztonyi: Die Welt der Reinkarnationslehre, Aitrang 1999. (4) Zit. aus einem Brief von Hans Fandel, 26.9.2000. (5) John P. Sutton, “Nebraska”, in: Catholic Encyclopedia, Vol. X, 1911. (6) Siehe Harald Wiesendanger: Zurück in frühere Leben, Kap. 6, “Wiedergeburt - was sonst?” (7) Francis M. Schirp, “Germans in the United States”, The Catholic Encyclopedia, Vol. VI, 1909. (8) Siehe Robert L. Van de Castle, “Sleep and Dreams”, in: Handbook of Parapsychology, hrsg. v. Benjamin B. Wolman, Jefferson, N.C. 1977, S. 473-499, dort ib. S. 481. (9) Zit. aus einem Brief von Hans Fandel, 26.9.2000. Titelbild: Gerd Altmann/Pixabay